Kategorie-Archiv: Historisch

Menschsein, unvollendbares

Franz Schuberts h-Moll-Sinfonie von 1822, György Ligetis Cellokonzert von 1966 und Anton Bruckners Neunte (1887 – 1896) – Texte zum “Torso”-Programm des Gürzenich-Orchesters Köln im Juni 2022

Mitten in der »Unvollendeten« fliegt ein Spatzenschwarm durch die geöffneten Fenster, hoch oben im Saal. Es ist Sonntagnachmittag, 19. Mai 1901, die Spatzen von Paris tschilpen unter der Kuppel des Cirque d´Hiver im 11. Arrondissement. Frühsommerwärme, nicht gerade vorteilhaft, um einen Saal von 3.900 Plätzen zu füllen, aber Le Tout-Paris ist vollständig erschienen. Die Berliner Philharmoniker unter Arthur Nikisch mit Beethoven, Wagner, Strauss und einer unbekannten Sinfonie von Schubert, das verpasst man nicht. Auch Claude Debussy ist da. »Vielleicht«, schreibt er danach über die Spatzen, »stellten sie auch nur eine unschuldige Kritik an dieser Sinfonie dar, die sich nicht ein für allemal zu der Erkenntnis durchringen kann, dass sie unvollendet ist.«

Wo kommt sie her, diese Sinfonie? Das Wien von 1822 ist mit rund 290.000 Einwohnern zwar die Hauptstadt einer europäischen Großmacht, aber dennoch ein überschaubares Städtchen, wo man im Schatten des polizeistaatlich agierenden Staatskanzlers Klemens von Metternich lebt, einer über Jahrzehnte hin bestimmenden Figur, zur selben Generation zählend wie ein anderer Wiener, der auf seine Art ebenfalls einen Schatten wirft – als Genie. Es ist der jetzt 51 Jahre alte Ludwig van Beethoven. Vom 25-jährigen Franz Schubert wissen in dieser Stadt nur wenige. Hunderte von Liedern, die er schon schrieb, kursierten bis vor kurzem nur in Abschriften. Doch seit Februar 1821, als vier seiner Freunde auf ihre Kosten den Erlkönig stechen ließen, wendet sich das Blatt. Von nun an wird durchschnittlich jeden Monat ein neues Werk des Lehrersohns Schubert gedruckt.

Vielleicht gibt das Franz Schuberts Selbstbewusstsein einen Schubs: Ohne jemandem davon zu erzählen, wagt sich der Komponist erneut ans sinfonische Genre. Sechs Sinfonien hatte er zwischen 1813 und 1818 schon vollendet, und sie sind in bescheidenem Rahmen auch aufgeführt worden – erfindungsreiche Auseinandersetzungen mit Mozart und Beethoven, die freilich an den frühreifen Erlkönig von 1815 nicht heranreichen. Seit aber die Publikation dieses Werks ihm einen neuen Weg bahnt, sucht Schubert den auch wieder im Orchesterklang. Einigen Skizzen folgen im Jahr 1822 zwei Sätze in h-Moll und E-Dur, die heute weltberühmt sind, dazu als 3. Satz im Klavierparticell ein Scherzo. Nie zuvor gab es eine Sinfonie in h-Moll, dieser verhangenen Tonart, in der Johann Sebastian Bach in seiner Matthäus-Passion die Sopran-Arie »Blute nur …“ und Schubert 1818 sein Grablied auf die Mutter schrieben.

Und noch nie hat jemand auf eine langsame Einleitung verzichtet, indem er doch eine komponiert, acht Takte nur für die Bässe, deren Metrum und Tempo dann den ganzen Satz bestimmen, in dem ein zweites, ungewiss repetierendes Thema folgt. Danach ein drittes, singendes, das nichts vom abgründigen Beginn zu ahnen scheint, zutiefst zutraulich, das dann fast brutal gestoppt wird und weiter in die Katastrophe führt. Von solchen Umschwüngen handelt auch der 2. Satz. Und wovon noch?

Giuseppe Sinopoli verstand die Unvollendete als Grabgesang, als »kultische Feier des verlorenen Heils [...]. Wenn das Heil niemals erfahren wurde, wenn es immer mit aller Kraft ersehnt und nie erlangt wurde, dann wird es in eine Zone des Vorbewussten verlagert und dort als Traumbesitz verwahrt.« Schuberts unerlangtes Heil war, ganz konkret, wohl ein verbotenes. Es besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass er – so formuliert es die renommierte Website MUGI, Musik und Gender im Internet – »dem traditionellen Rollenbild der Zeit nicht genügte und sein Leben und Schaffen durch seine [...] psychische und sexuelle Konstellation bestimmt war.«

Welche Rolle dabei jener Anselm Hüttenbrenner spielte, der Schubert finanziell unterstützte, auf ungeklärte Weise an das Manuskript der beiden orchestrierten Sätze kam und es jahrzehntelang keinem zeigte, das ist vor allem für die enorme Verzögerung erheblich, mit der erst 1865, 37 Jahre nach dem Tod des Komponisten, das unbeendete Werk in Wien uraufgeführt wurde. Schubert konnte existentielle Erfahrungen in einer bespitzelten Welt der Verbote mit der Befreiung zum Sinfoniker verbinden. Aus dem Schatten rigider Moral kam er nicht heraus, aus dem Schatten Beethovens um so mehr. Vielleicht hätten ihm die Pariser Spatzen als Freiheitsboten über seiner Musik ganz gut gefallen …

Blick in den Kosmos: Das Cellokonzert von György Ligeti

Als György Ligeti 1966 sein zweisätziges Cellokonzert für Siegfried Palm schrieb, musste er auf keine Konvention Rücksicht nehmen. Das hätte von einem 43-Jährigen, der bereits Musikgeschichte geschrieben hatte, auch niemand erwartet. Es wäre eher befremdlich gewesen, hätte dieser Komponist als Konzert den traditionellen Dreisätzer vorgelegt und einen Solisten vorm Orchester brillieren lassen. Im 1. Satz knüpft Ligeti an statische Formen an, wie man sie auch in seinen Werken Requiem und Atmosphères findet. »Sie scheinen vor uns zu stehen, als ob sie Objekte wären und sich nicht in der Zeit entfalten würden«, schreibt er dazu. Doch eher ist es so, dass wir beim Hören in einem sich langsam entfaltenden und verändernden Klang stehen, beginnend mit einem fast unhörbaren E des Solocellos in eigentlich nicht realisierbarem achtfachem Pianissimo. Die weiteren Streicher kommen mit demselben Ton dazu, dann Flöte und Klarinette. »Unmerklich einsetzen« ist die häufigste Anweisung in der Partitur. Kein Akzent, keine Kante darf fürs Erste diesen Klangfluss stören.

Unglaublich, welche Weite in wenigen Minuten entsteht, wie die Verschmelzung der Farben und das behutsam getimte Auffalten – beginnend mit einem Klarinettentriller, der zum e das f fügt – uns so in ihren Bann ziehen können, dass der Schritt von einem dissonanten Klang der Bläser zum leisen, körperlosen B der Streicher über fünf Oktaven wie eine Sensation wirkt, wie ein unverhoffter Blick in den Kosmos. Dort wiederum gewinnt die Stimme des Solocellos Körper und Wärme, »molto espressivo« erringt sie den Halbton darüber, und in diesem Moment liegt so viel Menschsein, wie es andere Komponisten in wesentlich dickeren Partituren nicht erreichen. Der 2. Satz ist als Gegenstück zum ersten eine Collage voller Wechsel und Bewegungen, wobei das Solocello die verschiedenen Instrumentenkombinationen zusammenhält. Es gibt hier mehr individuelle Gesten, aber auch dichte Netze blubbernder Zweiunddreißigstel. In denen scheint ein Sound der Zeit zu schimmern. Der Klangeffekt ist nämlich dem verblüffend nah, den man im instrumentalen, per Tonband manipulierten Abspann von Strawberry Fields Forever hört, einem der »komponiertesten« Songs der Beatles – und entstanden im selben Jahr 1966 wie Ligetis Violoncello-Konzert.

Wissen vom Leben: Anton Bruckners 9. Sinfonie

brucker fragment

Am 12. Okober 1896, einem Montag, berichtet die Wiener Neue Freie Presse in ihrer Abendausgabe vom russischen Zaren, der nach Frankreichs Republik nun auch das deutsche Kaiserreich, dem seine Gemahlin entstammt, besucht. Noch kommen sie miteinander klar, die europäischen Großmächte. Auf Seite 2 rechts oben lässt eine knappe Überschrift die Wiener Leser aufmerken: »† Anton Bruckner.« Mit 72 Jahren war am vergangenen Sonntag der berühmte Komponist im »Kustodenstöckl« – ebenerdige Räume im Kustodentrakt von Schloss Belvedere, die im Vorjahr Kaiser Franz Joseph I. dem erkrankten Bruckner zur Verfügung gestellt hatte – gestorben.

Jeder kennt die Adresse, jeder kennt Bruckner – was der sich freilich nicht hätte träumen lassen, als er vor mehr als drei Jahrzehnten von Linz nach Wien zog. Und jeder kann der Neuen Freien Presse entnehmen, dass sich im Nachlass »Skizzen zum vierten Satz seiner neunten Symphonie« befinden, von der nur drei Sätze fertig geworden seien. Am Dienstag, das Sterbezimmer ist noch nicht versiegelt, kommen die Andenkenjäger. »Befugte und Unbefugte« stürzen sich »wie die Geier«, so Bruckners entsetzter Arzt, auf die Papiere. Zahlreiche Manuskripte werden gestohlen. Als sechs Tage später der Rest gesichtet wird, sind vom Finale der 9. Sinfonie noch 75 Partiturbögen vorhanden – und selbst die bleiben nicht beieinander. Der Satz lag wohl zumindest in einem ersten Stadium mit Streichern in Tinte und Instrumentationshinweisen schon vollständig vor, und bis 2012 konnten von 653 Takten immerhin 557 wieder zusammentragen werden. So gesehen hat Bruckner die Vollendung der Sinfonie doch knapp geschafft – obwohl er sich schon 1894 »unheilbar« wusste und seit 1892 aufgrund einer Aortenklappen-Insuffizienz an Atemnot litt.

Atemnot ist das Gegenteil dessen, was wir in Bruckners Neunter erleben können. Der Komponist soll gesagt haben, er traue sich nicht an eine 9. Sinfonie, da eine solche Beethovens letztes Werk gewesen sei. Und doch wählte Bruckner nicht nur dieselbe Tonart d-Moll, sondern auch den mysteriösen Beginn aus dem Nichts, d im Pianissimo. Auch das erste Thema lässt auf sich warten. Aber nicht wie bei Beethoven 16 Takte lang, sondern 62. Und spätestens Takt 19 hätte Beethoven entsetzt, denn da brechen die Hörner aus d-Moll in den Es-Dur-Bereich aus. Von diesem Moment an führt die harmonische Spaltung »die Regie im ganzen Werk« (Hans Joachim Hinrichsen), und Beethovens Neunte erweist sich allenfalls als »Folie der Selbstprofilierung«. Ein sehr selbstbewusster 62-Jähriger hat diesen Satz im August 1887 zu skizzieren begonnen. Ein Komponist, der nach dem Triumph seiner Siebten mit der Achten viel gewagt hatte und deren Uraufführung durch Hermann Levi entgegensah. Dessen unerwartete Ablehnung verunsicherte Anton Bruckner zutiefst. Vier Jahre lang überarbeitete er seine Sinfonien 1, 3, 4 und 8, erst im Februar 1891 wagte er sich wieder an den Kopfsatz der Neunten.

Doch die hat von dieser Verzögerung, vom Neubedenken sinfonischer Konzepte profitiert. Jeder ihrer drei fertigen Sätze ist ein existentielles Erlebnis, mit Spannungsbögen, die nicht daran denken lassen, unter welchen zunehmenden Strapazen die Komposition sich schließlich über neun Jahre erstreckte. Man darf aber doch daran denken, denn das Thema Tod rückte Bruckner noch näher, als es ohnehin schon war (ab 1860 hing bei ihm hinter einem grünen Vorhang ein Foto, das er von seiner Mutter auf deren Sterbebett hatte anfertigen lassen). Seit September 1894 wusste er, dass seine Herzkrankheit unheilbar war. Zugleich war er fasziniert von der umstrittenen Frage des Anatomen Josef Hyrtl, ob die Seele nur eine Funktion des Gehirns sei oder das Gehirn lediglich eine Bedingung für den »Verkehr eines immateriellen Seelenwesens mit der Welt im Raume«. In seinem Bruckner-Essay Angst vor der Unermeßlichkeit hat Klaus-Heinrich Kohrs diese Umstände erkundet.

Bruckner war zutiefst gläubig, aber keineswegs im Glauben geborgen. In seiner Kunst, gerade jetzt, wo es auch um eine Summe seines Schaffens ging, kämpfte er um sein Leben. Natürlich nicht programmatisch, nicht in »Episoden aus dem Leben eines Künstlers« – erzählerische Verläufe sind Bruckner völlig fremd –, sondern im Einander-Durchdringen von Energien, die nicht einmal im großen Format ausbalanciert, aber doch freigesetzt werden können. Der früh geöffnete Spalt zwischen D und Es führt im 1. Satz am Ende zu einer »Lösung am Rande des Abgrunds«, wie Hinrichsen schreibt: Weil in den Schlusston D die Trompeten die aus der Tonspaltung entstandene Es-Dur-Fanfare hineinschmettern, ist das nur noch in der leeren Quinte auflösbar.

In der Ungewissheit danach, attacca, tickt im raschen Dreier und im Piano ein Vierklang, der selbst ein Emblem des Ungewissen ist, tonal nicht festzumachen: E, Gis, B, Cis. Es ist eine Zeitbombe. Nach 41 Takten Ungewissheit bei bedrohlich sich verdichtenden Zeichen ist der d-Moll-Einsatz im Forte ein Akt von so bestürzender Brutalität, dass danach nichts mehr ungefährdet wirken kann. Heitere Holzbläsersoli wirken wie sommerliche Kinderspiele, von denen man, rückblickend, weiß, dass es die letzten vor einem Krieg sind. Die verzweifelte Sehnsucht, die ein solcher Rückblick mit sich bringen kann, leuchtet im Trio. Natürlich ist das eine Projektion. Aber es gehört zu den Eigenschaften großer Kunst, dass sie unsere eigenen Erfahrungen, Ängste, Gedanken, Gefühle wachrufen und aushalten kann. Zudem ist das Scherzo (nie hat diese Satzbezeichnung so schlecht gepasst) so explizit katastrophisch, dass seine Brisanz und Gefährlichkeit nicht abnutzbar sind, nicht zu relativieren.

So ist es auch mit der Abgründigkeit des Adagio, in dessen Harmonik Bruckner seinen Abgott Richard Wagner mit dem zu verbinden scheint, was sein Bewunderer Gustav Mahler noch gar nicht geschrieben hat. Das beginnt mit der schmerzvollen kleinen None aufwärts, auf der G-Saite der Violinen. Sie führt über Tristan-Harmonik hinaus und nahe heran an Mahlers Chorus mysticus in dessen 8. Sinfonie von 1906, dann wird das »Dresdner Amen« aus Wagners Parsifal aufgerufen. All das entfaltet sich organisch, man kann es auch wie die Erkundung eines Körpers hören. Alles lebt, auf unterschiedlichste Weise, und so sorgsam das Material auch disponiert ist, so unberechenbar wirkt es zugleich. Ein Fortissimo kann da so massiv hochstoßen, halb Felswand und halb Drachenhaupt, dass man den Kopf in den Nacken legen muss, um noch Licht zu sehen. Und ehe erstmals das Anfangsthema wiederkehrt, scheint dem Organisten Bruckner die Hand auf dem Manual liegenzubleiben: Vier Tuben lassen vier endlose Takte lang die Dissonanz C, Eis, Fis, Ais erklingen, die ebenso gut in Schönbergs Streichquartett von 1908 stehen könnte. Gleichsam nichtsahnend spielt darüber eine Flöte einen schönen Bogen in reinem C-Dur.

So könnte man die Stellensuche noch lange fortsetzen. Man läuft dabei aber Gefahr, dieses Adagio auf seine Extreme zu reduzieren. Besonders die Musikwissenschaftler treten gern in einen Wettstreit der Superlative und Singularitäten, der sich mit einer stattlichen Kollektion raunender Deutungen rund um Tod und Sterben und letzte Worte verbindet. All das verblasst sofort, wenn hundert Musikerinnen und Musiker gemeinsam spielen, was Bruckner einsam schrieb. Es geht um das Leben. Darüber wusste er auf seine Art eine ganze Menge.

 

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erscheint unter dem Titel “Wege zum Menschsein” im Programmheft des Gürzenich-Orchesters zu den Konzerten am 19. Juni um 11 Uhr sowie am 20. und 21. Juni 2022 um 20 Uhr, dirigiert von François-Xavier Roth in der Kölner Philharmonie. Das Foto zeigt im Ausschnitt eine Partiturskizze des unvollendeten Finales von Bruckners Neunter.

“Was ist das für eine Welt?”

laks mit riss

Weil die Mörder Märsche brauchten, überlebte er Auschwitz, danach geriet er in Vergessenheit. Nun – endlich – ist Simon Laks als einer der bedeutendsten Liedkomponisten des 20. Jahrhunderts neu zu entdecken.

Um 6.15 Uhr fährt der Zug in Pithiviers ab, 50 Kilometer südlich von Paris, wo Simon Laks viele Jahre gelebt hatte. Französische Polizisten haben ihn im Mai 1941 festgenommen, den Geiger, Pianisten, Komponisten, dessen Vergehen darin besteht, “Abkömmling jüdischer Rasse” zu sein, so wie die 927 Männer, Frauen und Kinder, die mit ihm in die Viehwaggons gedrängt worden sind. Wohin man sie fährt an diesem 17. Juli 1942, wissen sie nicht. 90 Menschen in einem Waggon, es gibt kein Wasser und keine frische Luft, dafür den Gestank von Fäkalien aus einer Ecke.

Sie sind vielleicht 24 Stunden gefahren, als es Simon Laks gelingt, sich an das einzige, vergitterte Fenster zu drängen. Der Zug hält gerade an einem Bahnhof. Eisenach. Das ist für einen Musiker nicht einfach ein Ortsname. Es ist die Stadt, in der zweieinhalb Jahrhunderte zuvor Johann Sebastian Bach zur Welt kam – in einem anderen Deutschland als dem, dessen Truppen nun halb Frankreich besetzt haben, wo die Deutschen in Kollaboration mit der französischen Regierung in Vichy jüdische Bürger internieren mit dem Ziel, sie zu ermorden.

Laks ist einer der wenigen, die aus Auschwitz zurückkommen. Er überlebt, weil dort, mitten in der Mordmaschine, das Handwerk gebraucht wird, das er beherrscht: Musik zu schreiben. Wenn auch nicht die, derentwegen er in Paris ein respektierter Komponist war, einer, dessen Cellosonate von jenem Maurice Maréchal uraufgeführt wurde, für den schon Maurice Ravel seine Cellosonate geschrieben hatte. Einer, dessen Blues symphonique Größen wie Ravel und Honegger beeindruckte. Einer, dessen Lieder zu den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts zählen – was wir allerdings erst seit Kurzem hören können.

120 Jahre nach Simon Laks’ Geburt in Warschau am 1. November 1901 sollte man beherzigen, was sein Sohn André mit einem Zitat der Schriftstellerin Ruth Klüger zu bedenken gibt: “Auch von mir melden die Leute, die etwas Wichtiges über mich aussagen wollen, ich sei in Auschwitz gewesen. Aber so einfach ist es nicht, denn was immer ihr denken mögt, ich komm nicht von Auschwitz her, ich stamm aus Wien.” Laks stammt aus Warschau. Und gerade weil das, was er in seinem Buch Musik in Auschwitz auf 116 Seiten berichtet, ein schwindelerregendes Dokument des Grauens ist, muss man fragen, wie das Leben aussah, aus dem Laks herausgerissen wurde. Und wie seine Musik klingt, davor und danach.

Nirgends kann man das besser hören als auf dem Doppelalbum, mit dem in diesem Jahr ein Schatz gehoben wurde: alle 43 Werke für Stimme und Klavier von 1934 bis 1974, der Kern seines Œuvres, das auch weitere Genres von Kammermusik bis Oper umfasst und bei Boosey & Hawkes vorliegt. Erschlossen hat es der Musikwissenschaftler Frank Harders-Wuthenow, wichtigster Promoter des lange Vergessenen, der auch Laks’ Auschwitz-Erinnerungen ins Verlagsprogramm holte. Zusammen mit Deutschlandfunk Kultur nahm das Label eda die Lieder auf – die meisten zum ersten Mal. Die Sopranistin Ania Vegry ist dafür eine Idealbesetzung: In Deutschland aufgewachsen und ausgebildet, spricht und singt sie perfekt die Sprache ihrer polnischen Eltern. Für diese Sprache hat Simon Laks die meisten seiner Lieder komponiert.

Szymon – so schreibt sich sein Name auf Polnisch – ist das zweite von fünf Kindern assimilierter jüdischer Eltern, der Vater ist Versicherungskaufmann, die Mutter kümmert sich um die musikalische Ausbildung. Mit vier Jahren beginnt der Junge Geige zu lernen, bald auch Klavier.

Auf den in Polen tief verwurzelten Antisemitismus stößt Laks, als er an der Warschauer Musikakademie Komposition und Dirigieren studieren will: Die Studienplätze sind kontingentiert, Juden müssen zusätzliche Prüfungen bestehen. Laks schafft das. Und schafft 1926 den Sprung ans Conservatoire in Paris, wo seine Brüder bereits leben. Polnische Komponisten wie Karol Szymanowski hatten sich schon vor dem Ersten Weltkrieg an der französischen Moderne orientiert, weg von deutschen Räuschen und Überwältigungskünsten. “Wenn man sieht”, sagt der Laks-Experte Frank Harders, “wie radikal sich die polnische Moderne dem französischen Néoclassicisme zuwendet und sich von der Zweiten Wiener Schule um Schönberg absetzt, gab es für die Polen keine Alternative zu Paris.”

“Ist hier jemand, der Polnisch spricht und Bridge spielen kann?”

Aus Polen kommen so viele Musiker an die Seine, dass sie mit der “Association des jeunes musiciens polonais” eine der größten Künstlergenossenschaften bilden, die es je gab, 150 Komponisten, Interpreten, Dirigenten, Musikwissenschaftler, Journalisten, eng vernetzt mit der französischen Szene. Mittendrin Laks, der seinen Vornamen zu Simon gallisiert, vorzüglich Französisch spricht (neben fünf weiteren Sprachen) und ebenso gekonnt französische Lyrik vertont – etwa Mon Général von Jacques Audiberti, eine verzweifelt grinsende Abrechnung mit den Schlachtenlenkern des Ersten Weltkriegs.

Agitatorisch wirkt dieser Komponist nie. Er ist ein Mann der Nuancen. Die “silbrigen Tauben” des polnischen Dichters Julian Tuwim lässt Laks 1938 durch eine lichte Fusion von Debussy und Gershwin fliegen, mit jener Pariser Leichtigkeit, die auch Jazz und Chanson umfasst, über Kategorien wie “ernst” und “unterhaltsam” hinweg, zwischen denen die deutschsprachigen Komponisten seit Beethoven so angestrengt unterscheiden. Das Presto seiner Cellosonate von 1932 würde genau so in Dave Brubecks Album Time Out von 1959 passen.

Leben kann Laks vom Komponieren nicht. Er geigt in Cafés, in Kinos, auf einem Kreuzfahrtschiff, er unterrichtet. Und er bleibt auch dann in Paris, als zum zweiten Mal seit 1870 deutsche Soldaten durch den Arc de Triomphe marschieren. Als gesetzestreuer Ausländer kommt Simon Laks wie 3.700 andere Pariser der “Einladung” nach, sich am 14. Mai 1941 “zwecks Feststellung der Umstände” bei einer polizeilichen Sammelstelle einzufinden. Er wird sofort verhaftet.

Am 19. Juli 1942 um 19.30 Uhr erreicht der Zug die Rampe von Auschwitz, der “Convoi 6″ genannte sechste von 85 Deportationszügen aus Frankreich, der als erster auch Frauen und Kinder zur “Endlösung” bringt, darunter die 39-jährige Romanautorin Irène Némirowski, die nur noch vier Wochen leben wird. Von diesem Sonntag an trägt Simon Laks die Nummer 49543 als Tätowierung auf dem linken Unterarm. “Was ist das für eine Welt?”, fragt er sich. “Was sind das für Kreaturen, diese wie Zebras gestreiften Wesen mit den rasierten Schädeln; die einen athletisch und fett, die andern gebrechlich, bis zum Skelett abgemagert [...]?” Bald weiß er es.

Er lernt die Hierarchie des Lagers kennen, die SS-Leute, darunter die Häftlinge, die als Kapos und “Blockführer” gar nicht genug prügeln können, um selbst besser davonzukommen. “Arische” Auftragsmörder bilden die Spitze, ganz unten rangieren “Juden, Zigeuner und anderer Abschaum der zweibeinigen Gesellschaft”, stellt Laks sarkastisch fest. In seiner Baracke teilen sich je fünf eine Koje. “Hunde würden dort hineinpassen, doch dieser Ort ist nicht für Hunde bestimmt. Er ist für Geschöpfe bestimmt, die zwar wie Menschen aussehen, aber keine sind. Es ist der Raum für die Juden.” In diesen Raum tritt eines Tages der Barackenchef: “Ist hier jemand, der Polnisch spricht und Bridge spielen kann?” Nur Laks meldet sich. Damit beginnt seine Rettung.

Als sich beim Bridge herausstellt, dass er auch Geige spielt, wird er zur Kapelle geschickt. In Block 15 blickt er staunend auf eine Sammlung bestens gepflegter Instrumente. Er muss vorspielen. Nach den ersten Takten aus Mendelssohns im Nazi-Reich verbotenem Violinkonzert ist er akzeptiert, und nur im Zeitraffer lässt sich hier sagen, wie Laks inmitten des hunderttausendfachen Mordens in eine groteske Schutzzone gerät, entstanden durch den Ehrgeiz konkurrierender Lagerkommandanten, einander mit ihren Kapellen zu übertreffen wie die Duodezfürsten des 18. Jahrhunderts.

Ludwig Żuk, ein polnischer Häftling, der das Privileg hat, in Auschwitz Notenschreiber zu sein, macht Laks zu seinem Kollegen, und als der Kommandant des Nachbarlagers Birkenau selbst eine Kapelle haben will, werden beide nebst musizierenden Häftlingen dorthin beordert. Laks kommt beim Herausschreiben der Stimmen auch mit Lücken klar, wenn wieder ein Musiker die Zwangsarbeit nicht überlebt, von der die Notenschreiber befreit sind. Und er skizziert im Handumdrehen ganze Arrangements zu beliebten Melodien. “Die Leute, die das Pariser Konservatorium durchlaufen haben”, sagt Frank Harders, “sind in puncto Technik nicht zu schlagen, die können einfach alles.”

“Um diejenigen zu unterhalten, die die anderen vergasen”

Lagerkommandant Joachim Schwarzhuber lässt sich seine schönsten Wünsche erfüllen, das Orchester wächst, 16, 30, dann 40 Musiker. Heimat, deine Sterne müssen sie spielen, Hauptthema des Propagandafilms Quax, der Bruchpilot, oder einen Melodienstrauß deutscher Operetten, mal zum Ausrücken der Zwangsarbeiter, mal in dreistündigen Konzerten. Auch das “Sortieren und Verbrennen der Vergasten”, schreibt Laks, “geht zu den aufmunternden Klängen unserer Märsche vor sich”. Ein Häftling, Mediziner aus Toulouse, exzellenter Flötist, habe seine Solodarbietung mit glücklichem Lächeln in dem Moment beendet, als hinter ihm eine Reihe von Lkw aus dem benachbarten Frauenlager zum Krematorium fuhr: “Auf einem von ihnen befand sich seine Tochter.” Dem musiksinnigen Kommandanten muss Laks eine Fanfare zum Geburtstag komponieren, die erklingen soll, wenn Schwarzhuber mit Frau und Töchtern im Lager dem Dienstwagen entsteigt. Was auch geschieht, während gleich daneben Frauen, Männer und Kinder den Gaskammern entgegengehen. “Der Kommandant flüstert seiner Frau etwas ins Ohr [...]. Aber er erzählt ihr bestimmt nicht alles …”

Mitunter kann Laks beim Erinnern das Erlebte nur im vermeintlich leichten Ton ertragen, doch gerade dadurch gerät es tief in die Leser und lässt sie nicht vergessen, woher neue Notenpulte kommen, als die alten durch viele Einsätze im Freien angefault sind. Sie kommen aus dem “tschechischen Lager”, dessen 4.000 Häftlinge in der Nacht zuvor ermordet wurden. Beliebte Melodien wie das Lied von der Berliner Luft gehören zum Zerrbild einer “heilen Welt” inmitten des Grauens, mit Banketten für Oberkapos, einem Uhrmacher, Englischunterricht, einem Bordell und einer ausgedehnten Beschaffungswirtschaft, deren Währung die Zigarette ist. Ein Blockführer will immer Deutsche Eichen hören, ein SS-Unterscharführer liebt jüdische Lieder und fliegt auf – zur Strafe wird er an die Front geschickt.

In dieser Zwischenwelt kann “49543″ dank seiner Fähigkeiten überleben. Man begreift, warum Simon Laks, der nach der Evakuierung des Lagers nach Dachau gebracht wird und dort am 3. Mai 1945 seinem ersten GI gegenübersteht (“Hitler is dead. How are you? OK?”), warum dieser Mann im endlich wieder erreichten Paris Schuldgefühle hat, wenn er gefragt wird: “Sie haben überlebt. Wie haben Sie das bloß gemacht?” Ihm ist klar, dass er sich in Birkenau unentbehrlich gemacht hat, “um diejenigen zu unterhalten, die die anderen vergasen”. Er habe “niemals einen Häftling getroffen, dem unsere Musik Mut machte, ihn zum Überleben ermutigte”.

Noch im Jahr des Kriegsendes beginnt Laks wieder zu komponieren. In seinem Dritten Streichquartett verwendet er Themen der polnischen Folklore, an die Eleganz der Vorkriegszeit anknüpfend – wie unbefleckt von dem Dienst, in den er seine Kunst danach stellen musste. 1947 geht er näher heran an die vernichtete Welt und schreibt für Stimme und Klavier Acht jüdische Volkslieder zu jiddischen Texten – unsentimental, knapp, komprimiert.

Es wird bis 1961 dauern, bis Simon Laks seine Elegie auf die jüdischen Schtetl komponiert – zu einem Gedicht von Antoni Słonimski. 1962 folgt Begräbnis, das die Sängerin Hanna Szymulska nicht über die Lippen bringt, die zu dieser Zeit in Polen sonst alles singt, was Laks für sie schreibt. “Der Sarg war der Ofen des Krematoriums”, so beginnt das Gedicht von Mieczysław Jastrun, der uns auf “ein Grab aus Luft” blicken lässt, ganz wie Paul Celan in seiner Todesfuge. Laks, dessen Mutter, Schwester, Neffe die Schoah nicht überlebt haben, lässt das Klavier so etwas wie einen Legendenton anschlagen, wandernde dunkle Akkorde. Dem unsagbaren Schrecken setzt dieser Überlebende die Kontinuität seines Musikdenkens gegenüber.

An die Grenze ist er zuvor mit Erratum gegangen, einem autobiografisch umgedeuteten Gedicht von Julian Tuwim. Der bittet – wen auch immer, Gott? –, einen Fehler in seinem Leben zu korrigieren, im 40. Jahr: Da müsse es nicht “Verzweiflung” heißen, sondern “Liebe”. Das 40. Lebensjahr ist bei Laks ebenjenes, in dem er verhaftet wurde. Wie der 60-Jährige das komponiert, mit Tonalität nur noch als kurzem Traum vom Himmel und mit brennender Insistenz, zeigt, wie er sich hätte weiterentwickeln können, hätte er mehr Erfolg und Aufträge gehabt.

Doch schon mit dem Genre “Lied” ist er ein Gestriger aus der Sicht einer neuen Avantgarde nach 1945. Im Serialismus wird den Tonhöhen, Rhythmen, Lautstärken, Farben jeder überkommene Zusammenhang und Affekt ausgetrieben. Spannende Musik entsteht dabei – aber auch immense Arroganz gegenüber anderen Positionen. Und Macht. Die Rundfunksender als Auftraggeber sind fasziniert von den Serialisten um Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen, und Simon Laks ist nicht der Einzige, der in deren Schatten gerät. »Fast diktatorischen Einfluss« erlebt der Komponist Berthold Goldschmidt, der 1935 vor den Nazis nach England floh. Selbst Stars wie Francis Poulenc und Paul Hindemith, in den Fünfzigerjahren noch viel gespielt, verschwinden aus den Programmen. Geld verdient Laks, der in Paris eine Polin geheiratet hat und Vater eines Sohns geworden ist, allenfalls beim Kino. Zu 80 Filmen schreibt er die Musik.

“Nicht mehr der Moment, Musik zu schreiben, sondern Angst zu haben”

“Mein Vater sah in den Tendenzen, die das Musikleben beherrschten, einen Snobismus, der keine Zukunft haben würde”, erzählt Laks’ Sohn André, 71, der bis 2011 Professor für Altphilologie an der Sorbonne war. “Mitte der Sechziger hat er als Geiger mit mir am Klavier eine völlig unsinnige Improvisation aufgenommen und ans Festival Warschauer Herbst geschickt. Als Antwort kam, man schätze das Werk. Wir haben sehr gelacht.”

Der neue Zeitgeist war jedoch nur einer der Gründe, warum sich Laks 1967, im Jahr des Sechstagekrieges, vom Komponieren abwandte: “Es war nicht mehr der Moment, Musik zu schreiben, sondern Angst zu haben”, sagt André Laks. Zur Bedrohung Israels kam 1968 eine antisemitische Kampagne der polnischen Regierung, die Angehörige von Laks unmittelbar traf. Tausende Juden verloren ihre Arbeitsplätze und wurden ins Exil gezwungen.

1974, neun Jahre vor seinem Tod, wird Simon Laks auf ganz andere Weise von der Vergangenheit eingeholt. Sein tot geglaubter Retter und Mithäftling in Auschwitz, Ludwig Żuk, der ihn zum Notenschreiber gemacht und den er zuletzt 1943 gesehen hat – er lebt. Er ist Gymnasiallehrer in Chrzanów. Und schickt Gedichte, für die Laks sein Schweigen als Komponist bricht. Es entstehen melancholische Liebeslieder über ausgebliebenes Glück, vollkommen tonal, einfach. Einfach? Es ist eine unbeschreibliche Mischung aus Traurigkeit, Sehnsucht, Resignation, einem Gespräch im Bistro, Bescheidenheit und Weltkenntnis.

Einmal hat Laks in Birkenau doch etwas geschrieben, was die Mörder nicht bestellt hatten, kurz vor der Evakuierung, nur für sich und drei Mitspieler. Aus dem Gedächtnis rekonstruierte er ein eigenes Streichquartett aus der Pariser Vorkriegszeit. Während sie es spielten, erschien ein SS-Mann. Die Musiker sprangen auf und standen stramm. “Weitermachen.” Der Mann hörte zu. “Wer hat das komponiert?” Laks nannte in seiner Not den Namen eines wenig bekannten Zeitgenossen von Mozart in Wien, Carl Ditters von Dittersdorf. “Ein ausgezeichnetes Quartett. Man erkennt sofort, dass es deutsche Musik ist.”

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien in der ZEIT vom 4. November 2021, S.25, Ressort Geschichte, sowie auf ZEIT online. Für diese Website wurden die Sätze zu Irène Némirowski und Berthold Goldschmidt ergänzt. Das Foto aus dem Archiv von André Laks zeigt Simon Laks als jungen Mann im Paris der 1920er Jahre. Laks’ “Complete Works for Voice and Piano” sind kürzlich bei eda records auf CD erschienen. Seine Erinnerungen “Musik in Auschwitz” erschien als Neuausgabe mit begleitenden Texten, Diskographie und CD bei Boosey & Hawkes.

Vierne I: „Wie blass du bist, mein Junge…“

Erstes Intermezzo zu Louis Vierne, zwischen den Orgelsinfonien I und II

paris 1903

Am 7. Oktober 1870 entschwebt in einem Heißluftballon Léon Gambetta der Stadt Paris, die von deutschen Truppen eingeschlossen ist. Für die just gegründete dritte französische Republik will der Minister den Krieg außerhalb der Metropole organisieren. Einen Tag später erblickt in Poitiers, 340 Kilometer südwestlich, Louis Vierne das Licht der Welt – sehr wenig Licht. Der Junge ist nahezu blind, mit Grauem Star geboren. Seine Eltern lieben ihn über alles, ein erstes Kind haben sie verloren. Seine Mutter ist 25, sein Vater 42 Jahre alt, Chefredakteur einer bonapartistischen Zeitung, ein Antirepublikaner. Louis spricht sehr früh, und er ist empfindlich. Die Klänge einer Militärkapelle in einem Park lassen den Zweijährigen in Schreie des Entsetzens ausbrechen. Militärkapellen gibt es überall in Europa, sie gehören zum Alltag.

Das Klavier einer Nachbarin begeistert Louis. Lieder, die sie ihm vorsingt, merkt er sich sofort und sucht sie auf den Tasten zusammen. Man beschafft ihm ein Klavier, er bekommt Unterricht. In Lille, wohin die Familie später zieht, vom Süden in den Norden, muss man das Klavier verschließen, damit der Siebenjährige nicht mehr als drei Stunden spielt. Er kann inzwischen, in Großschrift, lesen und schreiben. Zwei Operationen beim besten Spezialisten haben seine Sehkraft verstärkt, außerdem lernt Louis die Blindenschrift. Als er neun Jahre alt ist, zieht die Familie nach Paris. Ein Onkel, ein preisgekrönter Organist, nimmt ihn mit in ein Konzert des 58jährigen César Franck. Der Junge ist überwältigt. „Ich weiß nicht, warum“, sagt er danach, „aber es ist so schön, dass ich gern solche Musik spielen möchte und sofort danach sterben.“

Franck, Massenet, Gounod, Saint-Saëns, Fauré sind die Komponisten dieser Zet in Frankreich. Zola und Maupassant schreiben, Cézanne, Monet, Van Gogh malen. In Paris geben 3000 wohlhabende Familien den Ton an, in einer von ihnen wächst Marcel Proust auf, ein Dreivierteljahr nach Louis Vierne geboren. Louis´ Welt ist eine andere. Man schickt ihn in die Mauern des nationalen Instituts für junge Blinde am Boulevard des Invalides, ein katholisches Musikinternat mit Zehnstundentagen. Neun Jahre bleibt er in diesem „intellektuellen Gefängnis“, wie er es später nennt. Doch zu vielen Konzerten der Stadt haben die Zöglinge freien Eintritt, in der Oper ist für sie sogar an jedem Mittwoch eine Loge im fünften Rang reserviert, viele Lehrer schätzt der Junge so wie sie ihn. Louis erlebt viele Verluste. Eine kleine Schwester verlor er schon früh. Ihr folgt nach dem Onkel der Vater, da ist Louis fünfzehn. Seine ganze Hoffnung setzt er auf César Franck, der die Zöglinge examiniert.

„Wie blass du bist, mein Junge. Mache ich dir so viel Angst?“ „Ja, Monsieur Franck.“ „Warum?“ „Weil Sie ein Genie sind.“ „Ein Genie? Wer sagt dir das?“ „Mein Onkel Colin und alle. Ich hörte Sie in Sainte-Clotilde, als ich zehn Jahre war. Ich musste an den Himmel denken, wo man solche Musik hört.“ „Im Himmel ist es besser, mein Kind. Hier bereiten wir uns vor, dort werden wir wissen. Ich höre, du bist brillant in Harmonielehre. Nächstes Jahr wirst du mit der Orgel beginnen. Arbeite daran mit all deiner Kraft. Wenn die Zeit gekommen ist, nehme ich dich in meine Klasse auf.“ Louis lernt und übt. Doch als die Zeit gekommen ist, stirbt César Franck, mit 67 Jahren.

Nach seiner Jugend im Institut erblickt Vierne verschwommen den Eiffelturm, der inzwischen über die Metropole ragt, und folgt seiner Berufung, der Orgel. Als Student des großen Charles-Marie Widor, bald auch als sein Assistent und Stellvertreter an Saint-Sulpice. Er schwelgt in den Klängen der Orgel, die Aristide Cavaillé-Coll 1862 baute – es ist der Farbenrausch des Zweiten Kaiserreiches. 7000 Pfeifen, hundert Register, fünf Manuale. Nicht nur die Orgel inspiriert Louis Viernes Erste Sinfonie für das Instrument. Der 28jährige hat sich verliebt und verlobt mit einer 18-jährigen Sängerin, Berte-Arlette Taskin. Zur Hochzeit im letzten April des 19. Jahrhunderts in Saint-Sulpice spielt sein Mentor Widor persönlich Sätze aus der frisch gedruckten Sinfonie. Ein knappes Jahr später kommt Jacques zur Welt, das erste Kind. Als sich Louis Vierne an seine Zweite Sinfonie setzt, 1902, im Jahr von Debussys Pelléas et Mélisande, ist André schon unterwegs, der zweite Sohn des Ehepaars.

Und Vierne hat den Platz seines Lebens gefunden: An der Orgel von Nôtre-Dame, 1868 von Cavaillé-Coll mit rund 5000 Pfeifen und 86 Registern fertiggestellt, im Lauf der Jahre beträchtlich wachsend. Es ist ein romantisches Instrument im Herzen einer gotischen „Symphonie aus Stein“, wie Victor Hugo diese Kathedrale genannt hat. Als Vierne im Mai 1900 seinen Dienst als Titularorganist beginnt, sieht er sich dem Mittelalter näher als der Gegenwart.

Während auf der Pariser Weltausstellung ein Palast der Elektrizität strahlt und die erste Metro rollt, elektrisch betrieben wie viele Straßenbahnen, werden die fünf Manuale seiner Orgel von zwei alten Petroleumlampen beleuchtet, die Pedale von einer Kerze in einer Kutschenlaterne. In ihrem trüben Licht erkennt Vierne „eine dicke Kruste von getrocknetem Schlamm“, die Fußklaviatur ähnelt einem Fußabtreter. Die Kalkanten, ein Quintett verwahrloster, stets angezechter Tagelöhner, müssen erst einmal saubermachen. Das Jahresgehalt von 2400 Francs, umgerechnet knapp 10.000 Euro, gleicht der junge Titularorganist durch Idealismus aus: „Ich tat es für Gott, für die Kunst und für mein Land.“

Aber nicht hier, sondern an der nagelneuen, elektrifizierten Orgel der Schola Cantorum im Quartier Latin spielt Vierne erstmals öffentlich Choral und Scherzo seiner Zweiten Sinfonie, am 21. Februar 1903. „Eine sehr edle und großzügige Musikalität“, so steht es zwei Tage später im täglichen Kulturblatt Gil Blas, „verbindet sich mit ingeniösen Entdeckungen auf dem Gebiet des Orgelklangs. Der alte Bach, unser aller Vater, wäre mit Louis Vierne zufrieden gewesen.“ Der Mann, der das schreibt, ist Claude Debussy.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Projekt KathedralKlangKosmos mit Musik von Louis Vierne (1870-1937) und war am 2. und 3. Juli 2021 in Stadthagen und Nienburg, am 1. Oktober in Rotenburg (Wümme) zu hören – als erstes von drei Intermezzi zu Viernes sechs Orgelsinfonien. Der Ausschnitt aus dem Stadtplan von Paris ist dem Baedeker-Reiseführer von 1903 entnommen: “Paris et ses environs – manuel du voyageur”.