Kategorie-Archiv: Historisch

“Was ist das für eine Welt?”

laks mit riss

Weil die Mörder Märsche brauchten, überlebte er Auschwitz, danach geriet er in Vergessenheit. Nun – endlich – ist Simon Laks als einer der bedeutendsten Liedkomponisten des 20. Jahrhunderts neu zu entdecken.

Um 6.15 Uhr fährt der Zug in Pithiviers ab, 50 Kilometer südlich von Paris, wo Simon Laks viele Jahre gelebt hatte. Französische Polizisten haben ihn im Mai 1941 festgenommen, den Geiger, Pianisten, Komponisten, dessen Vergehen darin besteht, “Abkömmling jüdischer Rasse” zu sein, so wie die 927 Männer, Frauen und Kinder, die mit ihm in die Viehwaggons gedrängt worden sind. Wohin man sie fährt an diesem 17. Juli 1942, wissen sie nicht. 90 Menschen in einem Waggon, es gibt kein Wasser und keine frische Luft, dafür den Gestank von Fäkalien aus einer Ecke.

Sie sind vielleicht 24 Stunden gefahren, als es Simon Laks gelingt, sich an das einzige, vergitterte Fenster zu drängen. Der Zug hält gerade an einem Bahnhof. Eisenach. Das ist für einen Musiker nicht einfach ein Ortsname. Es ist die Stadt, in der zweieinhalb Jahrhunderte zuvor Johann Sebastian Bach zur Welt kam – in einem anderen Deutschland als dem, dessen Truppen nun halb Frankreich besetzt haben, wo die Deutschen in Kollaboration mit der französischen Regierung in Vichy jüdische Bürger internieren mit dem Ziel, sie zu ermorden.

Laks ist einer der wenigen, die aus Auschwitz zurückkommen. Er überlebt, weil dort, mitten in der Mordmaschine, das Handwerk gebraucht wird, das er beherrscht: Musik zu schreiben. Wenn auch nicht die, derentwegen er in Paris ein respektierter Komponist war, einer, dessen Cellosonate von jenem Maurice Maréchal uraufgeführt wurde, für den schon Maurice Ravel seine Cellosonate geschrieben hatte. Einer, dessen Blues symphonique Größen wie Ravel und Honegger beeindruckte. Einer, dessen Lieder zu den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts zählen – was wir allerdings erst seit Kurzem hören können.

120 Jahre nach Simon Laks’ Geburt in Warschau am 1. November 1901 sollte man beherzigen, was sein Sohn André mit einem Zitat der Schriftstellerin Ruth Klüger zu bedenken gibt: “Auch von mir melden die Leute, die etwas Wichtiges über mich aussagen wollen, ich sei in Auschwitz gewesen. Aber so einfach ist es nicht, denn was immer ihr denken mögt, ich komm nicht von Auschwitz her, ich stamm aus Wien.” Laks stammt aus Warschau. Und gerade weil das, was er in seinem Buch Musik in Auschwitz auf 116 Seiten berichtet, ein schwindelerregendes Dokument des Grauens ist, muss man fragen, wie das Leben aussah, aus dem Laks herausgerissen wurde. Und wie seine Musik klingt, davor und danach.

Nirgends kann man das besser hören als auf dem Doppelalbum, mit dem in diesem Jahr ein Schatz gehoben wurde: alle 43 Werke für Stimme und Klavier von 1934 bis 1974, der Kern seines Œuvres, das auch weitere Genres von Kammermusik bis Oper umfasst und bei Boosey & Hawkes vorliegt. Erschlossen hat es der Musikwissenschaftler Frank Harders-Wuthenow, wichtigster Promoter des lange Vergessenen, der auch Laks’ Auschwitz-Erinnerungen ins Verlagsprogramm holte. Zusammen mit Deutschlandfunk Kultur nahm das Label eda die Lieder auf – die meisten zum ersten Mal. Die Sopranistin Ania Vegry ist dafür eine Idealbesetzung: In Deutschland aufgewachsen und ausgebildet, spricht und singt sie perfekt die Sprache ihrer polnischen Eltern. Für diese Sprache hat Simon Laks die meisten seiner Lieder komponiert.

Szymon – so schreibt sich sein Name auf Polnisch – ist das zweite von fünf Kindern assimilierter jüdischer Eltern, der Vater ist Versicherungskaufmann, die Mutter kümmert sich um die musikalische Ausbildung. Mit vier Jahren beginnt der Junge Geige zu lernen, bald auch Klavier.

Auf den in Polen tief verwurzelten Antisemitismus stößt Laks, als er an der Warschauer Musikakademie Komposition und Dirigieren studieren will: Die Studienplätze sind kontingentiert, Juden müssen zusätzliche Prüfungen bestehen. Laks schafft das. Und schafft 1926 den Sprung ans Conservatoire in Paris, wo seine Brüder bereits leben. Polnische Komponisten wie Karol Szymanowski hatten sich schon vor dem Ersten Weltkrieg an der französischen Moderne orientiert, weg von deutschen Räuschen und Überwältigungskünsten. “Wenn man sieht”, sagt der Laks-Experte Frank Harders, “wie radikal sich die polnische Moderne dem französischen Néoclassicisme zuwendet und sich von der Zweiten Wiener Schule um Schönberg absetzt, gab es für die Polen keine Alternative zu Paris.”

“Ist hier jemand, der Polnisch spricht und Bridge spielen kann?”

Aus Polen kommen so viele Musiker an die Seine, dass sie mit der “Association des jeunes musiciens polonais” eine der größten Künstlergenossenschaften bilden, die es je gab, 150 Komponisten, Interpreten, Dirigenten, Musikwissenschaftler, Journalisten, eng vernetzt mit der französischen Szene. Mittendrin Laks, der seinen Vornamen zu Simon gallisiert, vorzüglich Französisch spricht (neben fünf weiteren Sprachen) und ebenso gekonnt französische Lyrik vertont – etwa Mon Général von Jacques Audiberti, eine verzweifelt grinsende Abrechnung mit den Schlachtenlenkern des Ersten Weltkriegs.

Agitatorisch wirkt dieser Komponist nie. Er ist ein Mann der Nuancen. Die “silbrigen Tauben” des polnischen Dichters Julian Tuwim lässt Laks 1938 durch eine lichte Fusion von Debussy und Gershwin fliegen, mit jener Pariser Leichtigkeit, die auch Jazz und Chanson umfasst, über Kategorien wie “ernst” und “unterhaltsam” hinweg, zwischen denen die deutschsprachigen Komponisten seit Beethoven so angestrengt unterscheiden. Das Presto seiner Cellosonate von 1932 würde genau so in Dave Brubecks Album Time Out von 1959 passen.

Leben kann Laks vom Komponieren nicht. Er geigt in Cafés, in Kinos, auf einem Kreuzfahrtschiff, er unterrichtet. Und er bleibt auch dann in Paris, als zum zweiten Mal seit 1870 deutsche Soldaten durch den Arc de Triomphe marschieren. Als gesetzestreuer Ausländer kommt Simon Laks wie 3.700 andere Pariser der “Einladung” nach, sich am 14. Mai 1941 “zwecks Feststellung der Umstände” bei einer polizeilichen Sammelstelle einzufinden. Er wird sofort verhaftet.

Am 19. Juli 1942 um 19.30 Uhr erreicht der Zug die Rampe von Auschwitz, der “Convoi 6″ genannte sechste von 85 Deportationszügen aus Frankreich, der als erster auch Frauen und Kinder zur “Endlösung” bringt, darunter die 39-jährige Romanautorin Irène Némirowski, die nur noch vier Wochen leben wird. Von diesem Sonntag an trägt Simon Laks die Nummer 49543 als Tätowierung auf dem linken Unterarm. “Was ist das für eine Welt?”, fragt er sich. “Was sind das für Kreaturen, diese wie Zebras gestreiften Wesen mit den rasierten Schädeln; die einen athletisch und fett, die andern gebrechlich, bis zum Skelett abgemagert [...]?” Bald weiß er es.

Er lernt die Hierarchie des Lagers kennen, die SS-Leute, darunter die Häftlinge, die als Kapos und “Blockführer” gar nicht genug prügeln können, um selbst besser davonzukommen. “Arische” Auftragsmörder bilden die Spitze, ganz unten rangieren “Juden, Zigeuner und anderer Abschaum der zweibeinigen Gesellschaft”, stellt Laks sarkastisch fest. In seiner Baracke teilen sich je fünf eine Koje. “Hunde würden dort hineinpassen, doch dieser Ort ist nicht für Hunde bestimmt. Er ist für Geschöpfe bestimmt, die zwar wie Menschen aussehen, aber keine sind. Es ist der Raum für die Juden.” In diesen Raum tritt eines Tages der Barackenchef: “Ist hier jemand, der Polnisch spricht und Bridge spielen kann?” Nur Laks meldet sich. Damit beginnt seine Rettung.

Als sich beim Bridge herausstellt, dass er auch Geige spielt, wird er zur Kapelle geschickt. In Block 15 blickt er staunend auf eine Sammlung bestens gepflegter Instrumente. Er muss vorspielen. Nach den ersten Takten aus Mendelssohns im Nazi-Reich verbotenem Violinkonzert ist er akzeptiert, und nur im Zeitraffer lässt sich hier sagen, wie Laks inmitten des hunderttausendfachen Mordens in eine groteske Schutzzone gerät, entstanden durch den Ehrgeiz konkurrierender Lagerkommandanten, einander mit ihren Kapellen zu übertreffen wie die Duodezfürsten des 18. Jahrhunderts.

Ludwig Żuk, ein polnischer Häftling, der das Privileg hat, in Auschwitz Notenschreiber zu sein, macht Laks zu seinem Kollegen, und als der Kommandant des Nachbarlagers Birkenau selbst eine Kapelle haben will, werden beide nebst musizierenden Häftlingen dorthin beordert. Laks kommt beim Herausschreiben der Stimmen auch mit Lücken klar, wenn wieder ein Musiker die Zwangsarbeit nicht überlebt, von der die Notenschreiber befreit sind. Und er skizziert im Handumdrehen ganze Arrangements zu beliebten Melodien. “Die Leute, die das Pariser Konservatorium durchlaufen haben”, sagt Frank Harders, “sind in puncto Technik nicht zu schlagen, die können einfach alles.”

“Um diejenigen zu unterhalten, die die anderen vergasen”

Lagerkommandant Joachim Schwarzhuber lässt sich seine schönsten Wünsche erfüllen, das Orchester wächst, 16, 30, dann 40 Musiker. Heimat, deine Sterne müssen sie spielen, Hauptthema des Propagandafilms Quax, der Bruchpilot, oder einen Melodienstrauß deutscher Operetten, mal zum Ausrücken der Zwangsarbeiter, mal in dreistündigen Konzerten. Auch das “Sortieren und Verbrennen der Vergasten”, schreibt Laks, “geht zu den aufmunternden Klängen unserer Märsche vor sich”. Ein Häftling, Mediziner aus Toulouse, exzellenter Flötist, habe seine Solodarbietung mit glücklichem Lächeln in dem Moment beendet, als hinter ihm eine Reihe von Lkw aus dem benachbarten Frauenlager zum Krematorium fuhr: “Auf einem von ihnen befand sich seine Tochter.” Dem musiksinnigen Kommandanten muss Laks eine Fanfare zum Geburtstag komponieren, die erklingen soll, wenn Schwarzhuber mit Frau und Töchtern im Lager dem Dienstwagen entsteigt. Was auch geschieht, während gleich daneben Frauen, Männer und Kinder den Gaskammern entgegengehen. “Der Kommandant flüstert seiner Frau etwas ins Ohr [...]. Aber er erzählt ihr bestimmt nicht alles …”

Mitunter kann Laks beim Erinnern das Erlebte nur im vermeintlich leichten Ton ertragen, doch gerade dadurch gerät es tief in die Leser und lässt sie nicht vergessen, woher neue Notenpulte kommen, als die alten durch viele Einsätze im Freien angefault sind. Sie kommen aus dem “tschechischen Lager”, dessen 4.000 Häftlinge in der Nacht zuvor ermordet wurden. Beliebte Melodien wie das Lied von der Berliner Luft gehören zum Zerrbild einer “heilen Welt” inmitten des Grauens, mit Banketten für Oberkapos, einem Uhrmacher, Englischunterricht, einem Bordell und einer ausgedehnten Beschaffungswirtschaft, deren Währung die Zigarette ist. Ein Blockführer will immer Deutsche Eichen hören, ein SS-Unterscharführer liebt jüdische Lieder und fliegt auf – zur Strafe wird er an die Front geschickt.

In dieser Zwischenwelt kann “49543″ dank seiner Fähigkeiten überleben. Man begreift, warum Simon Laks, der nach der Evakuierung des Lagers nach Dachau gebracht wird und dort am 3. Mai 1945 seinem ersten GI gegenübersteht (“Hitler is dead. How are you? OK?”), warum dieser Mann im endlich wieder erreichten Paris Schuldgefühle hat, wenn er gefragt wird: “Sie haben überlebt. Wie haben Sie das bloß gemacht?” Ihm ist klar, dass er sich in Birkenau unentbehrlich gemacht hat, “um diejenigen zu unterhalten, die die anderen vergasen”. Er habe “niemals einen Häftling getroffen, dem unsere Musik Mut machte, ihn zum Überleben ermutigte”.

Noch im Jahr des Kriegsendes beginnt Laks wieder zu komponieren. In seinem Dritten Streichquartett verwendet er Themen der polnischen Folklore, an die Eleganz der Vorkriegszeit anknüpfend – wie unbefleckt von dem Dienst, in den er seine Kunst danach stellen musste. 1947 geht er näher heran an die vernichtete Welt und schreibt für Stimme und Klavier Acht jüdische Volkslieder zu jiddischen Texten – unsentimental, knapp, komprimiert.

Es wird bis 1961 dauern, bis Simon Laks seine Elegie auf die jüdischen Schtetl komponiert – zu einem Gedicht von Antoni Słonimski. 1962 folgt Begräbnis, das die Sängerin Hanna Szymulska nicht über die Lippen bringt, die zu dieser Zeit in Polen sonst alles singt, was Laks für sie schreibt. “Der Sarg war der Ofen des Krematoriums”, so beginnt das Gedicht von Mieczysław Jastrun, der uns auf “ein Grab aus Luft” blicken lässt, ganz wie Paul Celan in seiner Todesfuge. Laks, dessen Mutter, Schwester, Neffe die Schoah nicht überlebt haben, lässt das Klavier so etwas wie einen Legendenton anschlagen, wandernde dunkle Akkorde. Dem unsagbaren Schrecken setzt dieser Überlebende die Kontinuität seines Musikdenkens gegenüber.

An die Grenze ist er zuvor mit Erratum gegangen, einem autobiografisch umgedeuteten Gedicht von Julian Tuwim. Der bittet – wen auch immer, Gott? –, einen Fehler in seinem Leben zu korrigieren, im 40. Jahr: Da müsse es nicht “Verzweiflung” heißen, sondern “Liebe”. Das 40. Lebensjahr ist bei Laks ebenjenes, in dem er verhaftet wurde. Wie der 60-Jährige das komponiert, mit Tonalität nur noch als kurzem Traum vom Himmel und mit brennender Insistenz, zeigt, wie er sich hätte weiterentwickeln können, hätte er mehr Erfolg und Aufträge gehabt.

Doch schon mit dem Genre “Lied” ist er ein Gestriger aus der Sicht einer neuen Avantgarde nach 1945. Im Serialismus wird den Tonhöhen, Rhythmen, Lautstärken, Farben jeder überkommene Zusammenhang und Affekt ausgetrieben. Spannende Musik entsteht dabei – aber auch immense Arroganz gegenüber anderen Positionen. Und Macht. Die Rundfunksender als Auftraggeber sind fasziniert von den Serialisten um Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen, und Simon Laks ist nicht der Einzige, der in deren Schatten gerät. »Fast diktatorischen Einfluss« erlebt der Komponist Berthold Goldschmidt, der 1935 vor den Nazis nach England floh. Selbst Stars wie Francis Poulenc und Paul Hindemith, in den Fünfzigerjahren noch viel gespielt, verschwinden aus den Programmen. Geld verdient Laks, der in Paris eine Polin geheiratet hat und Vater eines Sohns geworden ist, allenfalls beim Kino. Zu 80 Filmen schreibt er die Musik.

“Nicht mehr der Moment, Musik zu schreiben, sondern Angst zu haben”

“Mein Vater sah in den Tendenzen, die das Musikleben beherrschten, einen Snobismus, der keine Zukunft haben würde”, erzählt Laks’ Sohn André, 71, der bis 2011 Professor für Altphilologie an der Sorbonne war. “Mitte der Sechziger hat er als Geiger mit mir am Klavier eine völlig unsinnige Improvisation aufgenommen und ans Festival Warschauer Herbst geschickt. Als Antwort kam, man schätze das Werk. Wir haben sehr gelacht.”

Der neue Zeitgeist war jedoch nur einer der Gründe, warum sich Laks 1967, im Jahr des Sechstagekrieges, vom Komponieren abwandte: “Es war nicht mehr der Moment, Musik zu schreiben, sondern Angst zu haben”, sagt André Laks. Zur Bedrohung Israels kam 1968 eine antisemitische Kampagne der polnischen Regierung, die Angehörige von Laks unmittelbar traf. Tausende Juden verloren ihre Arbeitsplätze und wurden ins Exil gezwungen.

1974, neun Jahre vor seinem Tod, wird Simon Laks auf ganz andere Weise von der Vergangenheit eingeholt. Sein tot geglaubter Retter und Mithäftling in Auschwitz, Ludwig Żuk, der ihn zum Notenschreiber gemacht und den er zuletzt 1943 gesehen hat – er lebt. Er ist Gymnasiallehrer in Chrzanów. Und schickt Gedichte, für die Laks sein Schweigen als Komponist bricht. Es entstehen melancholische Liebeslieder über ausgebliebenes Glück, vollkommen tonal, einfach. Einfach? Es ist eine unbeschreibliche Mischung aus Traurigkeit, Sehnsucht, Resignation, einem Gespräch im Bistro, Bescheidenheit und Weltkenntnis.

Einmal hat Laks in Birkenau doch etwas geschrieben, was die Mörder nicht bestellt hatten, kurz vor der Evakuierung, nur für sich und drei Mitspieler. Aus dem Gedächtnis rekonstruierte er ein eigenes Streichquartett aus der Pariser Vorkriegszeit. Während sie es spielten, erschien ein SS-Mann. Die Musiker sprangen auf und standen stramm. “Weitermachen.” Der Mann hörte zu. “Wer hat das komponiert?” Laks nannte in seiner Not den Namen eines wenig bekannten Zeitgenossen von Mozart in Wien, Carl Ditters von Dittersdorf. “Ein ausgezeichnetes Quartett. Man erkennt sofort, dass es deutsche Musik ist.”

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien in der ZEIT vom 4. November 2021, S.25, Ressort Geschichte, sowie auf ZEIT online. Für diese Website wurden die Sätze zu Irène Némirowski und Berthold Goldschmidt ergänzt. Das Foto aus dem Archiv von André Laks zeigt Simon Laks als jungen Mann im Paris der 1920er Jahre. Laks’ “Complete Works for Voice and Piano” sind kürzlich bei eda records auf CD erschienen. Seine Erinnerungen “Musik in Auschwitz” erschien als Neuausgabe mit begleitenden Texten, Diskographie und CD bei Boosey & Hawkes.

Vierne I: „Wie blass du bist, mein Junge…“

Erstes Intermezzo zu Louis Vierne, zwischen den Orgelsinfonien I und II

paris 1903

Am 7. Oktober 1870 entschwebt in einem Heißluftballon Léon Gambetta der Stadt Paris, die von deutschen Truppen eingeschlossen ist. Für die just gegründete dritte französische Republik will der Minister den Krieg außerhalb der Metropole organisieren. Einen Tag später erblickt in Poitiers, 340 Kilometer südwestlich, Louis Vierne das Licht der Welt – sehr wenig Licht. Der Junge ist nahezu blind, mit Grauem Star geboren. Seine Eltern lieben ihn über alles, ein erstes Kind haben sie verloren. Seine Mutter ist 25, sein Vater 42 Jahre alt, Chefredakteur einer bonapartistischen Zeitung, ein Antirepublikaner. Louis spricht sehr früh, und er ist empfindlich. Die Klänge einer Militärkapelle in einem Park lassen den Zweijährigen in Schreie des Entsetzens ausbrechen. Militärkapellen gibt es überall in Europa, sie gehören zum Alltag.

Das Klavier einer Nachbarin begeistert Louis. Lieder, die sie ihm vorsingt, merkt er sich sofort und sucht sie auf den Tasten zusammen. Man beschafft ihm ein Klavier, er bekommt Unterricht. In Lille, wohin die Familie später zieht, vom Süden in den Norden, muss man das Klavier verschließen, damit der Siebenjährige nicht mehr als drei Stunden spielt. Er kann inzwischen, in Großschrift, lesen und schreiben. Zwei Operationen beim besten Spezialisten haben seine Sehkraft verstärkt, außerdem lernt Louis die Blindenschrift. Als er neun Jahre alt ist, zieht die Familie nach Paris. Ein Onkel, ein preisgekrönter Organist, nimmt ihn mit in ein Konzert des 58jährigen César Franck. Der Junge ist überwältigt. „Ich weiß nicht, warum“, sagt er danach, „aber es ist so schön, dass ich gern solche Musik spielen möchte und sofort danach sterben.“

Franck, Massenet, Gounod, Saint-Saëns, Fauré sind die Komponisten dieser Zet in Frankreich. Zola und Maupassant schreiben, Cézanne, Monet, Van Gogh malen. In Paris geben 3000 wohlhabende Familien den Ton an, in einer von ihnen wächst Marcel Proust auf, ein Dreivierteljahr nach Louis Vierne geboren. Louis´ Welt ist eine andere. Man schickt ihn in die Mauern des nationalen Instituts für junge Blinde am Boulevard des Invalides, ein katholisches Musikinternat mit Zehnstundentagen. Neun Jahre bleibt er in diesem „intellektuellen Gefängnis“, wie er es später nennt. Doch zu vielen Konzerten der Stadt haben die Zöglinge freien Eintritt, in der Oper ist für sie sogar an jedem Mittwoch eine Loge im fünften Rang reserviert, viele Lehrer schätzt der Junge so wie sie ihn. Louis erlebt viele Verluste. Eine kleine Schwester verlor er schon früh. Ihr folgt nach dem Onkel der Vater, da ist Louis fünfzehn. Seine ganze Hoffnung setzt er auf César Franck, der die Zöglinge examiniert.

„Wie blass du bist, mein Junge. Mache ich dir so viel Angst?“ „Ja, Monsieur Franck.“ „Warum?“ „Weil Sie ein Genie sind.“ „Ein Genie? Wer sagt dir das?“ „Mein Onkel Colin und alle. Ich hörte Sie in Sainte-Clotilde, als ich zehn Jahre war. Ich musste an den Himmel denken, wo man solche Musik hört.“ „Im Himmel ist es besser, mein Kind. Hier bereiten wir uns vor, dort werden wir wissen. Ich höre, du bist brillant in Harmonielehre. Nächstes Jahr wirst du mit der Orgel beginnen. Arbeite daran mit all deiner Kraft. Wenn die Zeit gekommen ist, nehme ich dich in meine Klasse auf.“ Louis lernt und übt. Doch als die Zeit gekommen ist, stirbt César Franck, mit 67 Jahren.

Nach seiner Jugend im Institut erblickt Vierne verschwommen den Eiffelturm, der inzwischen über die Metropole ragt, und folgt seiner Berufung, der Orgel. Als Student des großen Charles-Marie Widor, bald auch als sein Assistent und Stellvertreter an Saint-Sulpice. Er schwelgt in den Klängen der Orgel, die Aristide Cavaillé-Coll 1862 baute – es ist der Farbenrausch des Zweiten Kaiserreiches. 7000 Pfeifen, hundert Register, fünf Manuale. Nicht nur die Orgel inspiriert Louis Viernes Erste Sinfonie für das Instrument. Der 28jährige hat sich verliebt und verlobt mit einer 18-jährigen Sängerin, Berte-Arlette Taskin. Zur Hochzeit im letzten April des 19. Jahrhunderts in Saint-Sulpice spielt sein Mentor Widor persönlich Sätze aus der frisch gedruckten Sinfonie. Ein knappes Jahr später kommt Jacques zur Welt, das erste Kind. Als sich Louis Vierne an seine Zweite Sinfonie setzt, 1902, im Jahr von Debussys Pelléas et Mélisande, ist André schon unterwegs, der zweite Sohn des Ehepaars.

Und Vierne hat den Platz seines Lebens gefunden: An der Orgel von Nôtre-Dame, 1868 von Cavaillé-Coll mit rund 5000 Pfeifen und 86 Registern fertiggestellt, im Lauf der Jahre beträchtlich wachsend. Es ist ein romantisches Instrument im Herzen einer gotischen „Symphonie aus Stein“, wie Victor Hugo diese Kathedrale genannt hat. Als Vierne im Mai 1900 seinen Dienst als Titularorganist beginnt, sieht er sich dem Mittelalter näher als der Gegenwart.

Während auf der Pariser Weltausstellung ein Palast der Elektrizität strahlt und die erste Metro rollt, elektrisch betrieben wie viele Straßenbahnen, werden die fünf Manuale seiner Orgel von zwei alten Petroleumlampen beleuchtet, die Pedale von einer Kerze in einer Kutschenlaterne. In ihrem trüben Licht erkennt Vierne „eine dicke Kruste von getrocknetem Schlamm“, die Fußklaviatur ähnelt einem Fußabtreter. Die Kalkanten, ein Quintett verwahrloster, stets angezechter Tagelöhner, müssen erst einmal saubermachen. Das Jahresgehalt von 2400 Francs, umgerechnet knapp 10.000 Euro, gleicht der junge Titularorganist durch Idealismus aus: „Ich tat es für Gott, für die Kunst und für mein Land.“

Aber nicht hier, sondern an der nagelneuen, elektrifizierten Orgel der Schola Cantorum im Quartier Latin spielt Vierne erstmals öffentlich Choral und Scherzo seiner Zweiten Sinfonie, am 21. Februar 1903. „Eine sehr edle und großzügige Musikalität“, so steht es zwei Tage später im täglichen Kulturblatt Gil Blas, „verbindet sich mit ingeniösen Entdeckungen auf dem Gebiet des Orgelklangs. Der alte Bach, unser aller Vater, wäre mit Louis Vierne zufrieden gewesen.“ Der Mann, der das schreibt, ist Claude Debussy.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Projekt KathedralKlangKosmos mit Musik von Louis Vierne (1870-1937) und war am 2. und 3. Juli 2021 in Stadthagen und Nienburg, am 1. Oktober in Rotenburg (Wümme) zu hören – als erstes von drei Intermezzi zu Viernes sechs Orgelsinfonien. Der Ausschnitt aus dem Stadtplan von Paris ist dem Baedeker-Reiseführer von 1903 entnommen: “Paris et ses environs – manuel du voyageur”.

Vierne II: Die Jahre des Leidens

Zweites Intermezzo zu Louis Vierne, zwischen den Orgelsinfonien III und IV

Niemand hört eine Stadt so gut wie einer, der wenig sieht oder gar nichts. Wenn Louis Vierne unterwegs ist, sind es vor allem die Trams und die cris de Paris, die er hört, die Rufe und Signale der Straßenhändler. Gemüsehändler, Bonbonverkäuferinnen, Katerkastrierer, Kesselflicker, Spielzeughändler, jede und jeder von ihnen mit einer eigenen Melodie, in manchen klingen Arien nach, in anderen Kirchengesänge, und dieser Sprechgesang wird unterbrochen von den Pfeifen und Hörnern, die sie einsetzen und die sich überlagern mit den langgezogenen pneumatischen Blastönen der Straßenbahnen.

Rund 70 Trambahnlinien gibt es um 1905 in der Stadt, die mit Dampf betriebenen weichen immer mehr denen mit Akku und mit Oberleitung, dazwischen das Rasseln von fast 5000 Automobilen, oder das Summen der Autos mit Elektromotoren., das Dampfhämmern an hundert Baustellen. Vierne kennt auch den Klang einer steckengebliebenen Tram, die mit kleinen Pausen schreit wie ein sterbendes Tier. Er hört, wie all die Motive sich verknüpfen zu einer Sinfonie der Metropole.
Und noch einer hört es, begabt mit dem besonderen Ohr jenes musikalischen Schriftstellers, dem wir diese Eindrücke verdanken – es ist der mit Vierne fast gleichaltrige Marcel Proust. Dieser Klang also umgibt den Organisten, wenn er die Kirche verlässt, es ist der äußere Klang um seinen inneren, um seine eigene Musik. Und dann ist da das Leben, in dem diese Musik entsteht. Die Dritte und die Vierte Orgelsymphonie führen hinein in die dramatischsten Jahre dieses Komponisten. Aber vielleicht helfen sie ihm auch, sie zu überstehen.

Im Mai 1906 stürzt Louis Vierne. Auf dem regennassen Quai Malaquais hat er die mit Wasser vollgelaufene Baugrube einer neuen Straßenbahnlinie nicht erkannt. Er bricht sich das Bein. Streikende Arbeiter in der Nähe, die er eben noch die Internationale hat singen hören, laufen herbei. Einer von ihnen erkennt den Organisten von Nôtre-Dame – Vierne hat im Vorjahr ohne Gage bei einem Treffen der Gewerkschaft gespielt. Die Männer bringen ihn vorsichtig heim. Das Bein kann nur mit mehreren Operationen vor der Amputation bewahrt werden. Nach zwei Monaten beginnt er, wieder gehen zu lernen, nach fünf Monaten wagt er sich an die Orgel und stellt fest, dass er den Fuß kaum auf den Pedalen bewegen kann. Bis zum Jahresende übt er, um wieder spielen zu können.

Am 6. Januar 1907 kommt Colette zur Welt. Als Louis Vierne ihr sechs Jahre später ein Klavierstück widmet, „à ma fille“, „für meine Tochter“ erklärt ihm die Mutter des Mädchens: „Die Widmung ist sinnlos, denn sie ist nicht deine Tochter.“ Schon lange hat Arlette Vierne eine Affäre mit Charles Mutin, dem Orgelbauer, dem Vierne seine Zweite Orgelsinfonie widmete: „à mon ami“.

Am 12. Januar 1907 kommt Louis Vierne mit Fieber und Kopfschmerzen nach Hause. Bald kann er nicht mehr sprechen, hört aber den Arzt sagen: „Wenn das Fieber nicht in den nächsten zwölf Stunden sinkt, wird er sterben.“ Sieben Wochen dauert die Genesung von der Typhusinfektion. Am Sonntag Laetare, 3. März 1907, sitzt er wieder an seiner Orgel. Er vollendet auch seine Violinsonate für Eugène Ysaÿe, die dieser mit großem Erfolg zur Uraufführung bringt.

vierne arlette

Im August 1909 wird die Ehe geschieden. Arlette übernimmt das Sorgerecht für die jüngeren Kinder, Louis das für den neunjährigen Jacques. Josephine Vierne, 63, übernimmt die Haushaltung für ihren Sohn und ihren Enkel – nur ein halbes Jahr lang, denn am 25. März 1910 stirbt Viernes Mutter an Nierenversagen. Ihr folgt vier Tage später Alexandre Guilmant, 74 Jahre alt, Leiter der Orgelklasse am Konservatorium. Er hat sich gewünscht, dass Vierne, sein Assistent in all den Jahren, sein Nachfolger wird. Man übergeht Vierne.

Von Mai bis September 1910 schreibt er seine Dritte Orgelsymphonie auf dem Sommersitz der Eltern des Organisten Marcel Dupré, dem sie gewidmet ist und der sie in Paris aufführt. Die Vierte Orgelsinfonie beginnt er 1913 zu schreiben. Eine „bittere Sache,“ sagt er später, „die einen Moment lang von einem Rest Illusion erhellt wird und dann im Fieber endet.“ Es ist das Fieber seines zweiten Kindes. Am 7. September 1913 ist André mit zehn Jahren der Tuberkulose erlegen. Vollendet wird die Sinfonie ein Jahr später in einer Zeit, als ganz Europa in einen Krieg gerät, der zum Weltkrieg wird.

Die Schüler und Studenten, die den Lebensunterhalt von Louis Vierne sichern, verlassen Paris. Die Älteren ziehen an die Front, die Jüngeren aufs Land, der vierzehnjährige Jacques zu seiner Mutter. Von August bis Oktober 1914 vollendet Vierne die Vierte Orgelsymphonie, eine Tondichtung für Orchester und zwölf Préludes für Klavier. Die folgenden Jahre verbringt Vierne, der kaum Einkünfte hat, bei Freunden und Gönnern in Frankreich und der Schweiz.

Im Mai 1915 macht sich beim 45jährigen eine Sehnervschädigung bemerkbar. Zugleich verlässt ihn Jeanne Montjovet, die junge Sängerin, mit der er seit seiner Scheidung zusammen war. „Gefährtin in dieser schmerzvollen Zeit“, sagt er über sie, „Inspiratorin und Interpretin, die den armen blinden Augen den Sinn des Lebens und die Freude des Schaffens sichtbar werden ließ.“

Am 7. November 1917 wird die Vierte Orgelsinfonie im amerikanischen Boston von Francis Snow zum ersten Mal gespielt. Im Mai ist Viernes Sohn Jacques mit Einwilligung des Vaters als Siebzehnjähriger an die Westfront gegangen. Aus seiner Begeisterung wird Entsetzen, als er das sinnlose Schlachten erlebt. Er gehört zu den vielen Hunderten, die den Gehorsam verweigern, und zur kleineren Zahl derer, die standrechtlich erschossen werden – am 11. November 1917. Für Jacques schreibt Louis Vierne sein Klavierquintett. Als er es im Mai 1918 vollendet hat, wird Viernes jüngerer Bruder René das Opfer einer Granate. Auch vier Studenten des Organisten kehren nicht aus dem Krieg zurück.

Vielleicht kann da nur noch einer Hoffnung fassen, der einen so großen inneren Klang hat wie dieser Komponist, einen so weiten Raum für diesen Klang, voller Trauer und Schönheit.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Projekt KathedralKlangKosmos mit Musik von Louis Vierne (1870-1937) und war am 2. und 3. Juli 2021 in Stadthagen und Nienburg, am 1. Oktober in Rotenburg (Wümme) zu hören – als zweites von drei Intermezzi zu Viernes sechs Orgelsinfonien. Die Fotografie zeigt Viernes Frau Arlette und den ersten Sohn Jacques etwa zur Zeit der Scheidung – entnommen dem Buch “Louis Vierne: Organist of Notre-Dame Cathedral” von Rollin Smith (1999), zugänglich über archive.org.