Vierne II: Die Jahre des Leidens

Zweites Intermezzo zu Louis Vierne, zwischen den Orgelsinfonien III und IV

Niemand hört eine Stadt so gut wie einer, der wenig sieht oder gar nichts. Wenn Louis Vierne unterwegs ist, sind es vor allem die Trams und die cris de Paris, die er hört, die Rufe und Signale der Straßenhändler. Gemüsehändler, Bonbonverkäuferinnen, Katerkastrierer, Kesselflicker, Spielzeughändler, jede und jeder von ihnen mit einer eigenen Melodie, in manchen klingen Arien nach, in anderen Kirchengesänge, und dieser Sprechgesang wird unterbrochen von den Pfeifen und Hörnern, die sie einsetzen und die sich überlagern mit den langgezogenen pneumatischen Blastönen der Straßenbahnen.

Rund 70 Trambahnlinien gibt es um 1905 in der Stadt, die mit Dampf betriebenen weichen immer mehr denen mit Akku und mit Oberleitung, dazwischen das Rasseln von fast 5000 Automobilen, oder das Summen der Autos mit Elektromotoren., das Dampfhämmern an hundert Baustellen. Vierne kennt auch den Klang einer steckengebliebenen Tram, die mit kleinen Pausen schreit wie ein sterbendes Tier. Er hört, wie all die Motive sich verknüpfen zu einer Sinfonie der Metropole.
Und noch einer hört es, begabt mit dem besonderen Ohr jenes musikalischen Schriftstellers, dem wir diese Eindrücke verdanken – es ist der mit Vierne fast gleichaltrige Marcel Proust. Dieser Klang also umgibt den Organisten, wenn er die Kirche verlässt, es ist der äußere Klang um seinen inneren, um seine eigene Musik. Und dann ist da das Leben, in dem diese Musik entsteht. Die Dritte und die Vierte Orgelsymphonie führen hinein in die dramatischsten Jahre dieses Komponisten. Aber vielleicht helfen sie ihm auch, sie zu überstehen.

Im Mai 1906 stürzt Louis Vierne. Auf dem regennassen Quai Malaquais hat er die mit Wasser vollgelaufene Baugrube einer neuen Straßenbahnlinie nicht erkannt. Er bricht sich das Bein. Streikende Arbeiter in der Nähe, die er eben noch die Internationale hat singen hören, laufen herbei. Einer von ihnen erkennt den Organisten von Nôtre-Dame – Vierne hat im Vorjahr ohne Gage bei einem Treffen der Gewerkschaft gespielt. Die Männer bringen ihn vorsichtig heim. Das Bein kann nur mit mehreren Operationen vor der Amputation bewahrt werden. Nach zwei Monaten beginnt er, wieder gehen zu lernen, nach fünf Monaten wagt er sich an die Orgel und stellt fest, dass er den Fuß kaum auf den Pedalen bewegen kann. Bis zum Jahresende übt er, um wieder spielen zu können.

Am 6. Januar 1907 kommt Colette zur Welt. Als Louis Vierne ihr sechs Jahre später ein Klavierstück widmet, „à ma fille“, „für meine Tochter“ erklärt ihm die Mutter des Mädchens: „Die Widmung ist sinnlos, denn sie ist nicht deine Tochter.“ Schon lange hat Arlette Vierne eine Affäre mit Charles Mutin, dem Orgelbauer, dem Vierne seine Zweite Orgelsinfonie widmete: „à mon ami“.

Am 12. Januar 1907 kommt Louis Vierne mit Fieber und Kopfschmerzen nach Hause. Bald kann er nicht mehr sprechen, hört aber den Arzt sagen: „Wenn das Fieber nicht in den nächsten zwölf Stunden sinkt, wird er sterben.“ Sieben Wochen dauert die Genesung von der Typhusinfektion. Am Sonntag Laetare, 3. März 1907, sitzt er wieder an seiner Orgel. Er vollendet auch seine Violinsonate für Eugène Ysaÿe, die dieser mit großem Erfolg zur Uraufführung bringt.

vierne arlette

Im August 1909 wird die Ehe geschieden. Arlette übernimmt das Sorgerecht für die jüngeren Kinder, Louis das für den neunjährigen Jacques. Josephine Vierne, 63, übernimmt die Haushaltung für ihren Sohn und ihren Enkel – nur ein halbes Jahr lang, denn am 25. März 1910 stirbt Viernes Mutter an Nierenversagen. Ihr folgt vier Tage später Alexandre Guilmant, 74 Jahre alt, Leiter der Orgelklasse am Konservatorium. Er hat sich gewünscht, dass Vierne, sein Assistent in all den Jahren, sein Nachfolger wird. Man übergeht Vierne.

Von Mai bis September 1910 schreibt er seine Dritte Orgelsymphonie auf dem Sommersitz der Eltern des Organisten Marcel Dupré, dem sie gewidmet ist und der sie in Paris aufführt. Die Vierte Orgelsinfonie beginnt er 1913 zu schreiben. Eine „bittere Sache,“ sagt er später, „die einen Moment lang von einem Rest Illusion erhellt wird und dann im Fieber endet.“ Es ist das Fieber seines zweiten Kindes. Am 7. September 1913 ist André mit zehn Jahren der Tuberkulose erlegen. Vollendet wird die Sinfonie ein Jahr später in einer Zeit, als ganz Europa in einen Krieg gerät, der zum Weltkrieg wird.

Die Schüler und Studenten, die den Lebensunterhalt von Louis Vierne sichern, verlassen Paris. Die Älteren ziehen an die Front, die Jüngeren aufs Land, der vierzehnjährige Jacques zu seiner Mutter. Von August bis Oktober 1914 vollendet Vierne die Vierte Orgelsymphonie, eine Tondichtung für Orchester und zwölf Préludes für Klavier. Die folgenden Jahre verbringt Vierne, der kaum Einkünfte hat, bei Freunden und Gönnern in Frankreich und der Schweiz.

Im Mai 1915 macht sich beim 45jährigen eine Sehnervschädigung bemerkbar. Zugleich verlässt ihn Jeanne Montjovet, die junge Sängerin, mit der er seit seiner Scheidung zusammen war. „Gefährtin in dieser schmerzvollen Zeit“, sagt er über sie, „Inspiratorin und Interpretin, die den armen blinden Augen den Sinn des Lebens und die Freude des Schaffens sichtbar werden ließ.“

Am 7. November 1917 wird die Vierte Orgelsinfonie im amerikanischen Boston von Francis Snow zum ersten Mal gespielt. Im Mai ist Viernes Sohn Jacques mit Einwilligung des Vaters als Siebzehnjähriger an die Westfront gegangen. Aus seiner Begeisterung wird Entsetzen, als er das sinnlose Schlachten erlebt. Er gehört zu den vielen Hunderten, die den Gehorsam verweigern, und zur kleineren Zahl derer, die standrechtlich erschossen werden – am 11. November 1917. Für Jacques schreibt Louis Vierne sein Klavierquintett. Als er es im Mai 1918 vollendet hat, wird Viernes jüngerer Bruder René das Opfer einer Granate. Auch vier Studenten des Organisten kehren nicht aus dem Krieg zurück.

Vielleicht kann da nur noch einer Hoffnung fassen, der einen so großen inneren Klang hat wie dieser Komponist, einen so weiten Raum für diesen Klang, voller Trauer und Schönheit.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Projekt KathedralKlangKosmos mit Musik von Louis Vierne (1870-1937) und war am 2. und 3. Juli 2021 in Stadthagen und Nienburg, am 1. Oktober in Rotenburg (Wümme) zu hören – als zweites von drei Intermezzi zu Viernes sechs Orgelsinfonien. Die Fotografie zeigt Viernes Frau Arlette und den ersten Sohn Jacques etwa zur Zeit der Scheidung – entnommen dem Buch “Louis Vierne: Organist of Notre-Dame Cathedral” von Rollin Smith (1999), zugänglich über archive.org.