Vierne III: Die Orgel von Nôtre-Dame

Drittes Intermezzo zu Louis Vierne, zwischen den Orgelsinfonien V und VI

Frühmorgens am Montag, 3. August des Jahres 2020, beginnt die Demontage der größten Orgel in Frankreich. Fünf Monate wird es dauern, bis alle Teile des Instruments abgebaut und in die Werkstatt von Bertrand Cattiaux gebracht worden sind, verdreckt vom Bleistaub, der beim Brand der Kathedrale von Nôtre-Dame aus den Rauchschwaden auf das Instrument herabfiel. Dass der Orgel nichts Schlimmeres geschah, ist das glückliche Wunder inmitten der Katastrophe vom 15. April 2019.

Weder die Flammen noch die Hitze noch die 24000 Liter Löschwasser pro Minute, mit denen der Brand gestoppt wurde, haben der Substanz des Instruments und seinen 8000 Pfeifen Schaden zugefügt. Zuallererst wird an diesem Morgen der Spieltisch in Sicherheit gebracht, auf einer Plattform heruntergelassen, von maskierten Bauarbeitern. Corona hat die Demontage um fünf Monate verzögert, und ebenso lange wird sie dauern.

Als Louis Vierne am 12. April 1920 nach Paris zurückkehrt, nach mehr als fünf Jahren, findet er die Orgel von Nôtre-Dame – zwischenzeitlich hat ihn sein Schüler Marcel Dupré vertreten – in einem jämmerlichen Zustand.
Schon vor dem Krieg hatte sie viel gelitten. Im Januar 1910 war die Seine durch Tauwasser und Regenfälle zum reißenden Strom geworden und weit über die Ufer getreten, drei Meter hoch stand das Wasser über den Straßen. Die Pariser ruderten durch ihre Stadt, zwischen tausenden von Ratten aus der überquellenden Kanalisation, die Energieversorgung brach zusammen, die Metro, die Heizungsanlage von Nôtre-Dame. Kälte und Luftfeuchtigkeit beschädigten die Mechanik.

Zwei Jahre später das Gegenteil: Eine Hitzewelle im Sommer 1912 lässt die Außentemperatur auf 38 Grad steigen. An der Rosette, dem gewaltigen Glasfenster hinter der Orgel, misst Louis Vierne sogar 72 Grad. Der Leim in der Windlade beginnt sich aufzulösen, die Mechanik verzieht sich. Wieder rückt Charles Mutin an für eine provisorische Reparatur – ohne diesen Orgelbauer, an dem seine Ehe zerbrach, kommt Vierne nicht aus.

Wieder zwei Jahre später kommen die Deutschen. Nachdem ihre Truppen bereits die belgische Universitätsstadt Leuwen nebst unersetzlicher Bibliothek verbrannt und die Kathedrale von Reims mit Granaten beschossen haben, erscheinen am Sonntag, 11.Oktober 1914, fünf Eindecker vom Typ Taube über Paris und werfen Bomben ab, drei gezielt auf Notre Dame. Eine trifft die Vierung, explodiert und löst einen Brand aus, der gelöscht werden kann. Auf ebenfalls abgeworfenen Fähnchen lässt die Kulturnation Deutschland grüßen: „Wir haben Antwerpen genommen, ihr seid auch bald dran.“ Zur Sicherheit demontiert man die Glasfenster, aber der Orgel tut das nicht gut.

Im April 1920 also findet Vierne sie bedeckt von Staub und toten Fledermäusen, von Feuchtigkeit durchzogen, die Mechanik ist so marode wie die Halterung der zu dieser Zeit 5246 Pfeifen. Eine ihrer größten löst sich bei einem Gottesdienst und kann knapp davor bewahrt werden, von der Empore in die Reihen der Gläubigen zu stürzen. Die Gemeinde von Nôtre-Dame ist zu der Zeit arm wie die meisten Kirchengemeinden in Frankreich – seit der Trennung von Kirche und Staat 1905 sind sie auf Spenden angewiesen. Der Zustand der Orgel entspricht dem des inzwischen bettelarmen Organisten. Da erscheint endlich der rettende Engel.

Madeleine Richepin ist 22 Jahre alt, Sängerin, sie kommt aus einer so alten wie reichen Familie und bringt Viernes Leben in Ordnung. Er kann aus seiner Hotelabsteige in eine schöne Wohnung unfern des Arc de Triomphe ziehen, Mademoiselle kümmert sich um Konzerte, Tourneen, den Druck seiner Werke, nimmt Kontakt zu seinen Schülern auf. Sie ist Impresario, Kopistin, Assistentin, Sekretärin, Chauffeurin – eine gefürchtete Automobilistin allerdings -, und eine überaus gut gelaunte Person. 1923 geht es Vierne, nach einer Tournee durch die Schweiz und Italien, so gut, dass er sich an eine Fünfte Orgelsymphonie setzt. Eine Entgrenzung.

Uraufgeführt wird sie ein Jahr später von Joseph Bonnet. Zu dieser Zeit geht es auch der Orgel von Nôtre-Dame schon etwas besser. Mit Spenden, für die Marcel Dupré und Louis Vierne mit Auftritten in England geworben haben, wird ein elektrischer Blasebalg finanziert.vierne mit richepin

Im April 1927 sehen wir Louis Vierne und Madeleine Richepin an der Reling des Ozeandampfers Rochambeau, auf dem Rückweg von einer USA-Tournee. Etwas tapsig steht der 56jährige da, die Augen beschattet von der Krempe eines mächtigen schwarzen Huts. Schwarz sind auch der Anzug und die Krawattenschleife nach der Mode von 1910, während Mademoiselle unter einer topaktuellen cloche, dem knappen Glockenhut, hervorstrahlt, bekleidet mit Pelzmantel, Rautenstrümpfen und Riemchenpumps.

In knapp drei Monaten hat Louis Vierne 34 Konzerte gegeben, das erste in einem New Yorker Kaufhaus. Wanamaker´s Department Store ist eine Musikadresse mit eigenem Auditorium, schon Richard Strauss hat hier dirigiert, die Orgel hat 7000 Pfeifen, 120 Register und vier Manuale. Danach bereisen Vierne und Richepin den Kontinent von Kalifornien bis Kanada. Und sie treiben genug Spendengelder ein, um die Orgel von Nôtre-Dame restaurieren und erweitern zu können.
Am erneuerten Instrument spielt Maurice Duruflé am 3. Juni 1935 erstmals die Sechste Orgelsinfonie. Sein Lehrer Vierne hat sie mit 59 Jahren komponiert, in der Villa der Familie Richepin an der französischen Riviera. „Das intensive Sonnenlicht“, schreibt er darüber, habe ihn früheres Unglück vergessen lassen, nur die „reine animalische Freude des Daseins“ sei geblieben.

Aber es ist ein kranker, erschöpfter, blasser Mann, der sich am 2. Juni 1937 die neunzig Stufen zum Spieltisch der Orgel von Nôtre-Dame hochhelfen lässt, zu einem Konzert vor 3000 Gästen. Oben angekommen, erhält er ein herzstärkendes Mittel von Dr. Mallet, dem Mann, den Madeleine Richepin inzwischen geheiratet hat. Auch sie ist auf der Empore, und Maurice Duruflé, der die Register ziehen wird. Es ist mucksmäuschenstill in der Kathedrale, als Louis Vierne das Konzert mit seinem Tryptichon beginnt. Dieses endet mit der Stele für ein gestorbenes Kind, er bringt das mit zitternden Händen zuende. Dann sagt er, er könne die Tasten nicht mehr sehen. Die Menschen unten in der Kirche hören nun ein tiefes E, lang und nicht enden wollend. Ist es der Beginn der angekündigten Improvisation? Louis Vierne, dessen Fuß auf dem Pedal ruht, hört diesen Ton nicht mehr.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Projekt KathedralKlangKosmos mit Musik von Louis Vierne (1870-1937) und war am 2. und 3. Juli 2021 in Stadthagen und Nienburg, am 1. Oktober in Rotenburg (Wümme) zu hören – als drittes von drei Intermezzi zu Viernes sechs Orgelsinfonien.