Vierne I: „Wie blass du bist, mein Junge…“

Erstes Intermezzo zu Louis Vierne, zwischen den Orgelsinfonien I und II

paris 1903

Am 7. Oktober 1870 entschwebt in einem Heißluftballon Léon Gambetta der Stadt Paris, die von deutschen Truppen eingeschlossen ist. Für die just gegründete dritte französische Republik will der Minister den Krieg außerhalb der Metropole organisieren. Einen Tag später erblickt in Poitiers, 340 Kilometer südwestlich, Louis Vierne das Licht der Welt – sehr wenig Licht. Der Junge ist nahezu blind, mit Grauem Star geboren. Seine Eltern lieben ihn über alles, ein erstes Kind haben sie verloren. Seine Mutter ist 25, sein Vater 42 Jahre alt, Chefredakteur einer bonapartistischen Zeitung, ein Antirepublikaner. Louis spricht sehr früh, und er ist empfindlich. Die Klänge einer Militärkapelle in einem Park lassen den Zweijährigen in Schreie des Entsetzens ausbrechen. Militärkapellen gibt es überall in Europa, sie gehören zum Alltag.

Das Klavier einer Nachbarin begeistert Louis. Lieder, die sie ihm vorsingt, merkt er sich sofort und sucht sie auf den Tasten zusammen. Man beschafft ihm ein Klavier, er bekommt Unterricht. In Lille, wohin die Familie später zieht, vom Süden in den Norden, muss man das Klavier verschließen, damit der Siebenjährige nicht mehr als drei Stunden spielt. Er kann inzwischen, in Großschrift, lesen und schreiben. Zwei Operationen beim besten Spezialisten haben seine Sehkraft verstärkt, außerdem lernt Louis die Blindenschrift. Als er neun Jahre alt ist, zieht die Familie nach Paris. Ein Onkel, ein preisgekrönter Organist, nimmt ihn mit in ein Konzert des 58jährigen César Franck. Der Junge ist überwältigt. „Ich weiß nicht, warum“, sagt er danach, „aber es ist so schön, dass ich gern solche Musik spielen möchte und sofort danach sterben.“

Franck, Massenet, Gounod, Saint-Saëns, Fauré sind die Komponisten dieser Zet in Frankreich. Zola und Maupassant schreiben, Cézanne, Monet, Van Gogh malen. In Paris geben 3000 wohlhabende Familien den Ton an, in einer von ihnen wächst Marcel Proust auf, ein Dreivierteljahr nach Louis Vierne geboren. Louis´ Welt ist eine andere. Man schickt ihn in die Mauern des nationalen Instituts für junge Blinde am Boulevard des Invalides, ein katholisches Musikinternat mit Zehnstundentagen. Neun Jahre bleibt er in diesem „intellektuellen Gefängnis“, wie er es später nennt. Doch zu vielen Konzerten der Stadt haben die Zöglinge freien Eintritt, in der Oper ist für sie sogar an jedem Mittwoch eine Loge im fünften Rang reserviert, viele Lehrer schätzt der Junge so wie sie ihn. Louis erlebt viele Verluste. Eine kleine Schwester verlor er schon früh. Ihr folgt nach dem Onkel der Vater, da ist Louis fünfzehn. Seine ganze Hoffnung setzt er auf César Franck, der die Zöglinge examiniert.

„Wie blass du bist, mein Junge. Mache ich dir so viel Angst?“ „Ja, Monsieur Franck.“ „Warum?“ „Weil Sie ein Genie sind.“ „Ein Genie? Wer sagt dir das?“ „Mein Onkel Colin und alle. Ich hörte Sie in Sainte-Clotilde, als ich zehn Jahre war. Ich musste an den Himmel denken, wo man solche Musik hört.“ „Im Himmel ist es besser, mein Kind. Hier bereiten wir uns vor, dort werden wir wissen. Ich höre, du bist brillant in Harmonielehre. Nächstes Jahr wirst du mit der Orgel beginnen. Arbeite daran mit all deiner Kraft. Wenn die Zeit gekommen ist, nehme ich dich in meine Klasse auf.“ Louis lernt und übt. Doch als die Zeit gekommen ist, stirbt César Franck, mit 67 Jahren.

Nach seiner Jugend im Institut erblickt Vierne verschwommen den Eiffelturm, der inzwischen über die Metropole ragt, und folgt seiner Berufung, der Orgel. Als Student des großen Charles-Marie Widor, bald auch als sein Assistent und Stellvertreter an Saint-Sulpice. Er schwelgt in den Klängen der Orgel, die Aristide Cavaillé-Coll 1862 baute – es ist der Farbenrausch des Zweiten Kaiserreiches. 7000 Pfeifen, hundert Register, fünf Manuale. Nicht nur die Orgel inspiriert Louis Viernes Erste Sinfonie für das Instrument. Der 28jährige hat sich verliebt und verlobt mit einer 18-jährigen Sängerin, Berte-Arlette Taskin. Zur Hochzeit im letzten April des 19. Jahrhunderts in Saint-Sulpice spielt sein Mentor Widor persönlich Sätze aus der frisch gedruckten Sinfonie. Ein knappes Jahr später kommt Jacques zur Welt, das erste Kind. Als sich Louis Vierne an seine Zweite Sinfonie setzt, 1902, im Jahr von Debussys Pelléas et Mélisande, ist André schon unterwegs, der zweite Sohn des Ehepaars.

Und Vierne hat den Platz seines Lebens gefunden: An der Orgel von Nôtre-Dame, 1868 von Cavaillé-Coll mit rund 5000 Pfeifen und 86 Registern fertiggestellt, im Lauf der Jahre beträchtlich wachsend. Es ist ein romantisches Instrument im Herzen einer gotischen „Symphonie aus Stein“, wie Victor Hugo diese Kathedrale genannt hat. Als Vierne im Mai 1900 seinen Dienst als Titularorganist beginnt, sieht er sich dem Mittelalter näher als der Gegenwart.

Während auf der Pariser Weltausstellung ein Palast der Elektrizität strahlt und die erste Metro rollt, elektrisch betrieben wie viele Straßenbahnen, werden die fünf Manuale seiner Orgel von zwei alten Petroleumlampen beleuchtet, die Pedale von einer Kerze in einer Kutschenlaterne. In ihrem trüben Licht erkennt Vierne „eine dicke Kruste von getrocknetem Schlamm“, die Fußklaviatur ähnelt einem Fußabtreter. Die Kalkanten, ein Quintett verwahrloster, stets angezechter Tagelöhner, müssen erst einmal saubermachen. Das Jahresgehalt von 2400 Francs, umgerechnet knapp 10.000 Euro, gleicht der junge Titularorganist durch Idealismus aus: „Ich tat es für Gott, für die Kunst und für mein Land.“

Aber nicht hier, sondern an der nagelneuen, elektrifizierten Orgel der Schola Cantorum im Quartier Latin spielt Vierne erstmals öffentlich Choral und Scherzo seiner Zweiten Sinfonie, am 21. Februar 1903. „Eine sehr edle und großzügige Musikalität“, so steht es zwei Tage später im täglichen Kulturblatt Gil Blas, „verbindet sich mit ingeniösen Entdeckungen auf dem Gebiet des Orgelklangs. Der alte Bach, unser aller Vater, wäre mit Louis Vierne zufrieden gewesen.“ Der Mann, der das schreibt, ist Claude Debussy.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Projekt KathedralKlangKosmos mit Musik von Louis Vierne (1870-1937) und war am 2. und 3. Juli 2021 in Stadthagen und Nienburg, am 1. Oktober in Rotenburg (Wümme) zu hören – als erstes von drei Intermezzi zu Viernes sechs Orgelsinfonien. Der Ausschnitt aus dem Stadtplan von Paris ist dem Baedeker-Reiseführer von 1903 entnommen: “Paris et ses environs – manuel du voyageur”.