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Vierne III: Die Orgel von Nôtre-Dame

Drittes Intermezzo zu Louis Vierne, zwischen den Orgelsinfonien V und VI

Frühmorgens am Montag, 3. August des Jahres 2020, beginnt die Demontage der größten Orgel in Frankreich. Fünf Monate wird es dauern, bis alle Teile des Instruments abgebaut und in die Werkstatt von Bertrand Cattiaux gebracht worden sind, verdreckt vom Bleistaub, der beim Brand der Kathedrale von Nôtre-Dame aus den Rauchschwaden auf das Instrument herabfiel. Dass der Orgel nichts Schlimmeres geschah, ist das glückliche Wunder inmitten der Katastrophe vom 15. April 2019.

Weder die Flammen noch die Hitze noch die 24000 Liter Löschwasser pro Minute, mit denen der Brand gestoppt wurde, haben der Substanz des Instruments und seinen 8000 Pfeifen Schaden zugefügt. Zuallererst wird an diesem Morgen der Spieltisch in Sicherheit gebracht, auf einer Plattform heruntergelassen, von maskierten Bauarbeitern. Corona hat die Demontage um fünf Monate verzögert, und ebenso lange wird sie dauern.

Als Louis Vierne am 12. April 1920 nach Paris zurückkehrt, nach mehr als fünf Jahren, findet er die Orgel von Nôtre-Dame – zwischenzeitlich hat ihn sein Schüler Marcel Dupré vertreten – in einem jämmerlichen Zustand.
Schon vor dem Krieg hatte sie viel gelitten. Im Januar 1910 war die Seine durch Tauwasser und Regenfälle zum reißenden Strom geworden und weit über die Ufer getreten, drei Meter hoch stand das Wasser über den Straßen. Die Pariser ruderten durch ihre Stadt, zwischen tausenden von Ratten aus der überquellenden Kanalisation, die Energieversorgung brach zusammen, die Metro, die Heizungsanlage von Nôtre-Dame. Kälte und Luftfeuchtigkeit beschädigten die Mechanik.

Zwei Jahre später das Gegenteil: Eine Hitzewelle im Sommer 1912 lässt die Außentemperatur auf 38 Grad steigen. An der Rosette, dem gewaltigen Glasfenster hinter der Orgel, misst Louis Vierne sogar 72 Grad. Der Leim in der Windlade beginnt sich aufzulösen, die Mechanik verzieht sich. Wieder rückt Charles Mutin an für eine provisorische Reparatur – ohne diesen Orgelbauer, an dem seine Ehe zerbrach, kommt Vierne nicht aus.

Wieder zwei Jahre später kommen die Deutschen. Nachdem ihre Truppen bereits die belgische Universitätsstadt Leuwen nebst unersetzlicher Bibliothek verbrannt und die Kathedrale von Reims mit Granaten beschossen haben, erscheinen am Sonntag, 11.Oktober 1914, fünf Eindecker vom Typ Taube über Paris und werfen Bomben ab, drei gezielt auf Notre Dame. Eine trifft die Vierung, explodiert und löst einen Brand aus, der gelöscht werden kann. Auf ebenfalls abgeworfenen Fähnchen lässt die Kulturnation Deutschland grüßen: „Wir haben Antwerpen genommen, ihr seid auch bald dran.“ Zur Sicherheit demontiert man die Glasfenster, aber der Orgel tut das nicht gut.

Im April 1920 also findet Vierne sie bedeckt von Staub und toten Fledermäusen, von Feuchtigkeit durchzogen, die Mechanik ist so marode wie die Halterung der zu dieser Zeit 5246 Pfeifen. Eine ihrer größten löst sich bei einem Gottesdienst und kann knapp davor bewahrt werden, von der Empore in die Reihen der Gläubigen zu stürzen. Die Gemeinde von Nôtre-Dame ist zu der Zeit arm wie die meisten Kirchengemeinden in Frankreich – seit der Trennung von Kirche und Staat 1905 sind sie auf Spenden angewiesen. Der Zustand der Orgel entspricht dem des inzwischen bettelarmen Organisten. Da erscheint endlich der rettende Engel.

Madeleine Richepin ist 22 Jahre alt, Sängerin, sie kommt aus einer so alten wie reichen Familie und bringt Viernes Leben in Ordnung. Er kann aus seiner Hotelabsteige in eine schöne Wohnung unfern des Arc de Triomphe ziehen, Mademoiselle kümmert sich um Konzerte, Tourneen, den Druck seiner Werke, nimmt Kontakt zu seinen Schülern auf. Sie ist Impresario, Kopistin, Assistentin, Sekretärin, Chauffeurin – eine gefürchtete Automobilistin allerdings -, und eine überaus gut gelaunte Person. 1923 geht es Vierne, nach einer Tournee durch die Schweiz und Italien, so gut, dass er sich an eine Fünfte Orgelsymphonie setzt. Eine Entgrenzung.

Uraufgeführt wird sie ein Jahr später von Joseph Bonnet. Zu dieser Zeit geht es auch der Orgel von Nôtre-Dame schon etwas besser. Mit Spenden, für die Marcel Dupré und Louis Vierne mit Auftritten in England geworben haben, wird ein elektrischer Blasebalg finanziert.vierne mit richepin

Im April 1927 sehen wir Louis Vierne und Madeleine Richepin an der Reling des Ozeandampfers Rochambeau, auf dem Rückweg von einer USA-Tournee. Etwas tapsig steht der 56jährige da, die Augen beschattet von der Krempe eines mächtigen schwarzen Huts. Schwarz sind auch der Anzug und die Krawattenschleife nach der Mode von 1910, während Mademoiselle unter einer topaktuellen cloche, dem knappen Glockenhut, hervorstrahlt, bekleidet mit Pelzmantel, Rautenstrümpfen und Riemchenpumps.

In knapp drei Monaten hat Louis Vierne 34 Konzerte gegeben, das erste in einem New Yorker Kaufhaus. Wanamaker´s Department Store ist eine Musikadresse mit eigenem Auditorium, schon Richard Strauss hat hier dirigiert, die Orgel hat 7000 Pfeifen, 120 Register und vier Manuale. Danach bereisen Vierne und Richepin den Kontinent von Kalifornien bis Kanada. Und sie treiben genug Spendengelder ein, um die Orgel von Nôtre-Dame restaurieren und erweitern zu können.
Am erneuerten Instrument spielt Maurice Duruflé am 3. Juni 1935 erstmals die Sechste Orgelsinfonie. Sein Lehrer Vierne hat sie mit 59 Jahren komponiert, in der Villa der Familie Richepin an der französischen Riviera. „Das intensive Sonnenlicht“, schreibt er darüber, habe ihn früheres Unglück vergessen lassen, nur die „reine animalische Freude des Daseins“ sei geblieben.

Aber es ist ein kranker, erschöpfter, blasser Mann, der sich am 2. Juni 1937 die neunzig Stufen zum Spieltisch der Orgel von Nôtre-Dame hochhelfen lässt, zu einem Konzert vor 3000 Gästen. Oben angekommen, erhält er ein herzstärkendes Mittel von Dr. Mallet, dem Mann, den Madeleine Richepin inzwischen geheiratet hat. Auch sie ist auf der Empore, und Maurice Duruflé, der die Register ziehen wird. Es ist mucksmäuschenstill in der Kathedrale, als Louis Vierne das Konzert mit seinem Tryptichon beginnt. Dieses endet mit der Stele für ein gestorbenes Kind, er bringt das mit zitternden Händen zuende. Dann sagt er, er könne die Tasten nicht mehr sehen. Die Menschen unten in der Kirche hören nun ein tiefes E, lang und nicht enden wollend. Ist es der Beginn der angekündigten Improvisation? Louis Vierne, dessen Fuß auf dem Pedal ruht, hört diesen Ton nicht mehr.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Projekt KathedralKlangKosmos mit Musik von Louis Vierne (1870-1937) und war am 2. und 3. Juli 2021 in Stadthagen und Nienburg, am 1. Oktober in Rotenburg (Wümme) zu hören – als drittes von drei Intermezzi zu Viernes sechs Orgelsinfonien.

Vier ungleiche Brüder

Die komponierenden Söhne des Thomaskantors J.S. Bach gingen höchst verschiedene Wege – in die Weltstadt, in die Provinz, zu Wohlstand und Armut. Vier Werke aus einem halben Jahrhundert spiegeln Stationen ihres Lebens

Den beiden Besuchern aus Bückeburg verschlägt es den Atem, als sie in London ankommen, im Frühsommer 1778. Ein Welthandelszentrum, in dem sich an die 800.000 Menschen drängen, unvorstellbar für die Bauern und Handwerker der norddeutschen Residenzstadt Bückeburg. Auch der Leiter der dortigen Hofkapelle hätte sich, samt Sohn, nicht hergewagt, gäbe es in London nicht den erfolgreichen Bruder, 42 Jahre alt: Johann Christian Bach, Mr. John Bach, drei Jahre jünger als Johann Christoph Friedrich. Er zählt hier zur Musikprominenz. Gerade erst hatte seine fünfte Londoner Oper Premiere, Scipione, und seit drei Jahren steht am Hanover Square das Konzerthaus, das er und zwei Mitunternehmer haben bauen lassen, in der Nähe des Parlaments.
Johann_Christian_Bach_by_Thomas_Gainsborough
Wer hätte sich das träumen lassen, als er und acht Geschwister im Juli 1750 den letzten Abschied vom Vater nahmen, dem Thomaskantor? Johann Christian war damals vierzehn, zweitjüngstes Kind neben der acht Jahre alten Regina, und wie alle Söhne hatte er Unterricht gehabt beim „berühmten Musicus“, der sein Vater war. Hochbegabt und bestens ausgebildet waren die jungen Musiker, die um den Vater trauerten, und drei auch schon in passablen Stellungen. Doch wie verschieden die Wege verlaufen würden, die Johann Sebastian Bachs vier komponierende Söhne aus zwei Ehen dann gingen – das ist mehr als polyphon.

Nach der Beerdigung hatte der Älteste, Friedemann, seine Beurlaubung vom Organistenamt in Halle verlängert, um den Jüngsten nach Berlin zu bringen. Dort sollte Carl Philipp Emanuel, Hofcembalist Friedrichs II., Christians Lehrer sein. Typisch für Friedemann, dass vom Urlaub kein Vorgesetzter etwas wusste. Mit spöttischer Melancholie stand er über den Dingen und im Schatten des Vaters. Er war dessen „gutes Jüngelchen“ gewesen, Hoffnungsträger einer Musikerdynastie; er hatte eine Ausbildung ohnegleichen genossen. Wo er sich an eine Orgel setzte, hatte kein Konkurrent eine Chance, aber Geschäftliches interessierte ihn nur im Notfall, Eigensinn ging vor Diplomatie.

In Dresden hatte er seine Orgelkunst zehn Jahre lang für ein Jammergehalt verschenkt, 80 Taler im Jahr, während die Faustina an der Hofoper 4000 einstrich. Mit kleinen Werken für Adlige besserte er die Einkünfte auf, es sind Experimente im neuen Genre einer mehrsätzigen Sinfonie. Nur drei sind ganz erhalten, etwa die Sinfonia F-Dur: Kurze Sätze voller Kontraste, Abrisse, Andeutungen, voller Eindrücke auch aus Hasses Opern und Zelenkas Kirchenmusik, das alles aber komprimiert und durchgearbeitet im polyphonen Satz, mit dem er groß wurde und den er, als einziger der Söhne, niemals aufgibt. In Halle, wo Friedemann seit 1746 die Organistenstelle hat und nach seines Vaters Tod heiratet, wird er nicht glücklich. Mit 53 Jahren kündigt er einfach, ein seltsames Wanderleben mit Frau und Tochter schließt sich an, halb prekär, halb prominent. Am liebsten improvisiert Friedemann stundenlang.

Der dreieinhalb Jahre jüngere Carl Philipp ist das genaue Gegenteil, zielstrebig, systematisch, witzig, offen. Zwar erfinden er und Friedemann gleichsam die Klaviersonate in den Jahren, in denen ihr Vater die h-Moll-Messe schreibt. Aber vom Jüngeren liegen schon zwei Sixpacks im Handel vor, als der Ältere seine erste Sonate drucken lässt, ein so komplexes Werk, dass es kaum jemand kauft. Seit 1741 ist Carl Philipp Hofcembalist in Potsdam, wo er im Schatten des Flötisten Quantz steht. Doch als der seine Flötenschule vorlegt, folgt Carl Philipp mit dem geistvoller geschriebenen Versuch über die wahre Art das Klavier zu spielen, 1753, der den Musiker auch als Buchautor berühmt macht.

So einem muss Friedrich II. zähneknirschend eine Gehaltsaufbesserung gewähren, während Carl Philipp in seiner Musik längst das Weite sucht. In der e-Moll-Sinfonie aus der Mitte der 1750er wird ein selbstbewusstes Unisono-Statement in sanguinische Motorik überführt. Polyphone Reste finden sich in kleinen, melancholischen Vorhaltsbildungen, die in der Rasanz nicht die Substanz verlieren. An solche Modelle knüpft Johann Christian an, der mit vierzehn Jahren seine Lehre beim großen Bruder begann, beim Halbbruder strenggenommen, denn Christian kommt aus Bachs zweiter Ehe.

Wer hört, was der 19-jährige am Ende seiner Lehrjahre komponiert, das Cembalokonzert f-Moll, könnte im motorischen ersten Satz meinen, er habe bereits London ins Auge gefasst, im Andante, es sei die Begleitung einer der Arien, die er in Italien schreiben wird; im funkelnden Prestissimo herrscht das Tempo, mit dem es ihn aus dem Staub Brandenburgs herausdrängt. Mit einer italienischen Sängerin und einigen Empfehlungen in der Tasche reist er gen Süden und macht umgehend Furore: Als Opernkomponist in Neapel, als Organist in Mailand, als Giovanni Christiano Bach, der zum Katholizismus konversiert – und mit 26 Jahren ans King´s Theatre in London gebeten wird.

Dieses Leben ist geradezu der Gegenentwurf zu dem des Vaters und hätte dem vielleicht doch gefallen, denn Kantor zu werden war keineswegs sein Traum. Und selbst JSB ist, wegen ungebührlicher Nähe ohne Ehe, einmal vermahnt worden wie Giovanni, der den Kontakt mit Künstlerinnen ungern auf die Arbeit beschränkt. Als Mr. Bach gewinnt er nicht nur in London schnell Renommée, auch international. Fast jedes Werk, das er in England publiziert, wird auch in Paris und Amsterdam gedruckt. Die junge Königin Charlotte hat bei Bach Cembalolektionen und bittet ihn dazu, als sie 1764 einen achtjährigen Wunderknaben aus Salzburg empfängt.

Während die anderen diesen Mozart bestaunen wie ein Zirkustier, setzt sich Johann Christian mit ihm ans Cembalo, spielt mit ihm vom Blatt, behandelt ihn als Profi, und das vergisst Mozart nie. Was ihm die ganze Familie Bach bedeutet, macht sein Brief an Leopold Mozart vom 10. April 1782 deutlich: „ich mach mir eben eine Collection von den Bachischen fugen. – so wohl sebastian als Emanuel und friedeman Bach. (…) – sie werden wohl schon wissen daß der Engländer Bach gestorben ist? – schade für die Musikalische Welt!“

Johann Christian ist im Januar 1782 gestorben, keine 47 Jahre alt, nach rasantem Niedergang. Der Unternehmer, von dem sein ebenso renommierter Malerfreund Thomas Gainsborough ein grandioses Porträt schuf, hat sich verkalkuliert, ein Diener veruntreut 1000 Pfund, umgerechnet rund 170.000 Euro. Der wirtschaftliche wie gesundheitliche Verfall findet just in den Jahren statt, als der Sohn des „Bückeburger Bach“ bei ihm in die Lehre geht. Johann Christian Bach ist im Frühkapitalismus abgebrannt – aber er hat zuvor Funken gesprüht.

Beides lässt sich vom Bruder aus Bückeburg nicht sagen, der vom Besuch in London 1778 mit einem Fortepiano und Stücken neuen Stils zurückkehrt, aber bis ans Lebensende im gräflichen Dienst bleibt, den er schon mit siebzehn Jahren antrat, mit Vaters Begleitschreiben: „Übersende hiermit meinen Sohn.“ Nicht, dass er in dem Nest versauert wäre. Es gab glückliche Jahre der Zusammenarbeit mit Hofprediger Johann Gottfried Herder, und die Hofkapelle wurde unter Bachs Leitung eine der besten in Deutschland. Mit ihr führt er, um 1790, auch sein Konzert für Viola, Klavier und Orchester Es-Dur auf, dem man anhört, dass Johann Christoph Friedrich Bach auf aktuellem Stand ist: Hier nimmt erstmals nicht ein Bach Einfluss auf Mozart, sondern umgekehrt.

Zu dieser Zeit ist der Bückeburger der einzige noch lebende Sohn des Thomaskantors. Wilhelm Friedemann, der mit seinen Polonaisen für Klavier schon in die Nähe Chopins geraten war, der an jeder Orgel Aufsehen erregte, aber nirgendwo Fuß fasste, hatte es sich am Ende in Berlin noch mit der Schwester des Preußenkönigs verdorben, die ihn unterstützte, und ist dort mit 73 Jahren verarmt in der Wohnung eines Tischlermeisters gestorben.

Carl Philipp folgte ihm im Winter 1788 unter denkbar besseren Umständen. Seit 1768 Direktor der fünf Hamburger Hauptkirchen, war er nicht zu eigenen Kirchenkompositionen verpflichtet. Er schrieb vor allem instrumentale Werkzyklen, wie schon sein Vater, dazu Oratorien wie Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu, großbesetzter Sturm und Drang, der in Konzertsälen bejubelt wurde. Zur bürgerlichen Existenz an der Elbe gehörten eine Kunstsammlung und wohlgehütete Manuskripte aus Johann Sebastians Nachlass, ohne die dessen Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert kaum möglich gewesen wäre.

Sieht man sie sich auf Bildern an, seine vier Söhne, dann sind die einzige Gemeinsamkeit die kräftigen Augenbrauen, die wir vom Thomaskantor kennen. Mit fernem Lächeln sieht uns der späte Friedemann an, als Energiebündel der mittlere Carl Philipp mit dunklem Teint, aus rosigem Antlitz blickt versonnen der junge Johann Christoph Friedrich. Johann Christian aber schaut so cool zur Seite, am Maler vorbei, als habe er eigentlich Wichtigeres zu tun, als an eine Nachwelt zu denken, die sich ihn anschauen könnte. Gegenwart! Alles ist offen, kein Weg ist festgelegt. Niemand zeigt uns das so gut wie diese vier Brüder.

Dieser Text entstand für die Oper Zürich anlässlich des Livestream-Konzerts von La Scintilla, geleitet von Riccardo Minasi, am 19. Dezember 2020, online zu erleben bis 27. Dezember 2020. Das Porträt von Johann Christian Bach (Öl auf Leinwand, 750 x 620 mm) malte Thomas Gainsborough ca. 1776. Es befindet sich im Besitz der National Portrait Gallery, London

Einsteigen, Ausbrechen, Standhalten

In drei Werken von Strauss, Mozart und Hartmann spiegeln sich Lebenslagen und Weichenstellungen, die nicht unterschiedlicher sein könnten

So begeistert war Hans von Bülow nun auch wieder nicht, wie es sich Richard Strauss später einbilden durfte. Aus mehreren Gründen blickte er skeptisch auf die Partitur des Jünglings, die ihm ein Münchner Verleger nach Meiningen geschickt hatte, und schrieb am 27. November 1883: „Sie ist gut gemacht u. wohlklingend – freil. Phantasie u. Originalität – vacat.“ Das Urteil bezog sich auf die Serenade für dreizehn Blasinstrumente, die Strauss drei Jahre zuvor, mit siebzehn Jahren, geschrieben hatte. Bülow wusste, wovon er sprach, wenn es um Originalität von Zeitgenossen ging. Seine Meininger Hofkapelle spielte neben Brahms auch Berlioz; er hatte eng mit Liszt und Wagner zusammengearbeitet und in München die Uraufführung von Tristan und Isolde dirigiert.

Darum wusste Bülow auch gut, wer dieser Strauss war, nämlich der Sohn des Ersten Hornisten der Münchener Hofkapelle, Franz Strauss, der beim Tristan 1865 keinen Hehl daraus gemacht hatte, dass er Wagner verabscheute. Bülow hatte darüber hinweggesehen, weil der Hornist überragend gut war; Wagner selbst bestand auf dessen Mitwirkung beim ersten Parsifal 1882, von dem wiederum der 18jährige Richard Strauss überwältigt war. Doch seine Serenade hatte der junge „Pschorr-Genius“ – wie ihn Bülow in Anspielung auf seine Mutter aus der Bierdynastie Pschorr nannte – noch fern von Wagner komponiert, unterrichtet von Kollegen des Vaters. Die Serenade bot Entfaltung aller Bläserschönheit, Transparenz, fasslichen Aufbau, Geschmeidigkeit.

Strauss spielte Geige und Klavier, kein Blasinstrument – und auch für den Sohn eines Hornisten ist es nicht selbstverständlich, neben vier Hörnern auch mit Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotten so souverän umzugehen, wie es hier geschieht, in chorischen Gegenüberstellungen von Holz- und Hörnerklang, in der Auflösung von Tuttiklang in Arpeggien. Nach einem Oboenrezitativ entwickelt sich ein Minidrama zwischen Fagotten und hohen Bläsern, verdichtet sich klanglich und ist dann doch kein Drama – so wie alle Expressivität, die hier und da schimmert, nur eher ein Mittel ist und auf kein Dahinter verweist. Eine Studie also – aber von einer Eleganz, die ihren eigenen Charakter hat.
MeiningerHofkapelle1882Die Meininger Hofkapelle 1882 mit ihrem Chefdirigenten Hans von Bülow

Das war mehr als nur gut genug, um gespielt zu werden, und erlebte als erstes Werk von Strauss eine Uraufführung außerhalb seiner Heimatstadt München. Franz Wüllner, ab 1884 dann Kapellmeister des Gürzenich-Orchesters, dirigierte die Serenade 1882 in Dresden. Aber die Weichenstellung für Strauss´ ganzes Leben führte das Stück erst herbei, als Hans von Bülow es nach erster Skepsis ins Meininger Programm nahm, im Dezember 1883. Die Serenade kam gut an, sie „zeigt unsere Bläser in ihrem virtuosen Glanz“, fand Bülow. Er applaudierte dem Komponisten vor versammeltem Orchester, gab nun selbst ein Bläserwerk in Auftrag, eine Suite, und ließ sie Richard Strauss, der nie öffentlich am Pult gestanden hatte, 1884 selbst in einer Münchener Matinée dirigieren. „Ein geborner Dirigent“, urteilte Bülow danach und machte ihn umgehend zum zweiten Hofkapellmeister auf dem Meiniger Musenhügel. Mit 21 Jahren trat Strauss eine Stelle an, um die Gustav Mahler zuvor Bülow geradezu angefleht hatte. Dessen Sinn für Humor kann übrigens die Pointe nicht entgangen sein, mit der Strauss´ Serenade endet. Als große Vorgängerin hat sie die Gran Partita von Mozart, eine Serenade für vierzehn Bläser – plus Kontrabass. Dieses Streichinstrument setzt auch Strauss ein, ganz am Schluss: Nach 174 Takten ein subtiler Gruß an den Meister aus Salzburg.

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Als Meister wurde Mozart in Salzburg nicht behandelt, er wollte fort. „Trauerig genug“, schrieb er rückblickend, „wenn man seine junge jahre so in einen Bettel ort in Unthätigkeit verschlänzt“. Es waren nicht die Salzburger Umstände allein, die ihn frustrierten, seit er im Januar 1879 von einer sechzehnmonatigen Reise nach München, Mannheim, Paris zurückgekommen war. In Paris hatte er das Sterben seiner Mutter erlebt und als Musiker nicht reüssiert, in München hatte Aloisia Weber seinen Heiratsantrag abgelehnt, viel komponiert hatte er nicht, die Reise war ein finanzielles Desaster. Und in Salzburg erwartete ihn mit Fürstbischof von Colloredo ein zwar hochintelligenter, aber wenig duldsamer Dienstherr.

Mozart war Organist und Konzertmeister mit der Verpflichtung zum Komponieren. Er schrieb viel, seit er wieder die „sclaverey in salzbourg“ angetreten hatte, aber nicht das, wovon er träumte, eine Oper. Im Mai 1780 kam endlich die erlösende Nachricht: In München wünschte man eine Festoper zum nächsten Karneval. Der Stoff: Idomenée, eine französische Vorlage, Probenbeginn im November. Mozarts Hochstimmung spiegelt sich im Übermut der Einträge, die er im gemeinsam geführten Tagebuch seiner Schwester hinterließ. Während er am Idomeneo und der letzten Sinfonie für Salzburg arbeitete, Ende August, notierte er: „den 62:ten apud die conteßine de Lodron. alle dieci e demie war ich in templo. Posteà chés le signore von Mayern. Post prandium la sig:ra Catherine chés uns. wir habemus joués colle carte di Tarock. à sept heur siamo andati spatzieren in den horto aulico. faceva la plus pulchra tempestas von der welt.“

Er war also am 26. August bei den Komtessen Lodron gewesen,um 10.30 in der Kirche, dann bei Frau von Mayrn und ihren Töchtern, nach dem Essen war Katherl zu Mozarts gekommen, Katherina Gilowsky, Tochter des Hofbarbiers und langjährige Freundin, um Tarock zu spielen, um 19 Uhr ging man bei schönstem Wetter im Hofgarten spazieren. Irgendwann muss er auch noch komponiert haben, denn drei Tage später schrieb er aufs dicke Papier der neuen Partitur: „Sinfonia / di Wolfgango Amadeo / Mozart mpa / li 29 d´agosto / Salzbourg / 1780“.  Vermutlich wurde das neue Werk dann in einem Hofkonzert gespielt.

Festlicher Beginn, C-Dur, Trompeten, marschartiger Rhythmus, aber nach vier Takten eine buffonesk wiederholte Floskel, fast schon ein wenig Osmin aus der Entführung darin. Festliche Fortsetzung in F-Dur, doch nach vier Takten ein Echo in Moll. Beiläufig stellt er das stattliche Portal in Frage, beiläufig lässt er später ein paar Takte zwischen G-Gur und g-Moll irisieren und feiert danach ausgiebig die Dominanttonart. Aber nur, um einen Schatten hereinbrechen zu lassen, keineswegs mehr beiläufig. Es ist weniger der Gang von G-Dur 7 nach As-Dur als die Ausdehnung dieser Entwicklung über dem drohend wiederholten Intervall As-G im Bass, das ein anhaltendes Gefühl von Instabilität vermitteln kann. Dem festlichen Glanz danach bleibt etwas Vorläufiges.

Es folgt ein langsamer Satz, der keiner ist, nur Streicher, zwei Bratschenstimmen. „Andante di molto“ bedeutet „sehr gehend“, im Stimmenmaterial hat Mozart die Anweisung „più tosto Allegretto“ ergänzt, „eher etwas fröhlich“. Gleichwohl hat das Stück eine schwebende Melancholie, der im Finalsatz (das Menuett davor hat Mozart herausgerissen) das absolute Gegenteil folgt. Ein schneller Sechsachteltakt, in dem der Elan des Wortspielers Mozart prickelt. Man sollte die Musik nicht auf seine Aufbruchslust herunterbrechen, aber etwas davon ist ihr, und in der zweiten Themenhälfte eine verblüffende Nähe zum Jahr 1968: „Ob-la-di, ob-la-da … La-la how the life goes on“.

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Das war nun gerade nicht die Verfassung, in der Karl Amadeus Hartmann am 20. Juli 1939 aus München an den Dirigenten Hermann Scherchen schrieb: „Jetzt beginne ich eine Trauermusik in einem Satz für Streichorchester zu schreiben. Wenn ich im Herbst nach Winterthur komme, so hoffe ich Ihnen diese Arbeit zeigen zu können.“ Scherchen, vierzehn Jahre älter als der 1905 geborene Hartmann, hatte den jungen Münchener erst „darauf gebracht, wohin es mit mir und meinen Kompositionen eigentlich hinauswollte.“ Gleich nach der „Machtergreifung“ Hitlers war Scherchen, überzeugter Kommunist, emigriert; 1935 bescherte er Hartmann in Prag einen Erfolg mit der Tondichtung Miserae. Im „Dritten Reich“ wurde Hartmann dagegen weder gedruckt noch gespielt.

Um so mehr war er auf Interpreten im Ausland angewiesen, besonders auf Scherchen. Die „Trauermusik“, die Hartmann ihm 1939 ankündigte, verrät im später zu Concerto funebre geänderten Titel, welcher Zeitgenosse den Komponisten besonders beeindruckte: Paul Hindemith. Der hatte 1936 für die BBC nach dem Tod des englischen Königs George V. die Trauermusik für Viola und Streicher geschrieben. Hartmann übernahm die Besetzung (bis auf die Soloviola), die Viersätzigkeit und den Einsatz eines Chorals. Bei ihm wurden die vier kurzen Sätze verbunden und aus einem zwei Choräle. Hartmanns Trauer galt nicht dem Widmungsträger, „meinem lieben Sohn Richard“. Der war zur Zeit der Komposition vier Jahre alt. Doch im Sommer 1939 standen alle Zeichen auf Krieg.

Was die Solovioline in der „Introduktion“ spielt, ist das Hussitenlied Die ihr Gottes Streiter seid von 1430. Diese Melodie böhmischer Rebellen hatte schon Smetana verwendet, für Hartmann war sie eine Reverenz vor der zerschlagenen Tschechoslowakei. Mit einem anderen Zitat eröffnen die Streicher den Choral im vierten Satz: In Zeitlupe paraphrasieren sie einen Trauermarsch aus Hartmanns Geburtsjahr 1905, als die Melodie für die Toten der ersten, gescheiterten russischen Revolution entstand: Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin. In der Sowjetunion wurde sie bei jeder Staatstrauer gespielt, uns ist sie sowenig geläufig wie der Hussitenchoral. Aber Hartmanns Partitur erschließt sich in ihrer Substanz auch ohne Kenntnis solcher „Fußnoten“, die  - oft auch zu jüdischen Melodien führend – sein ganzes Œuvre wie ein zweiter Text durchziehen. Der bleibt in der Tiefe seiner Musik immer spürbar.

So wenig wie eine Botschaft wird auch die Virtuosität der Violine ausgestellt, obwohl sie weit über das hinausgeht, was Hindemith in seiner Trauermusik der Viola abverlangt. Die Solostimme hat im zweiten Satz etwas von einem singenden Erzähler, dem Orchester in rezitativartigen wie ariosen Partien verbunden. Im dritten Satz werden alle zu Akteuren, da ungeheurer Druck in ein komplexes Drama umschlägt, mit szenischen Kontrasten und einem aggressiven Motiv, das an Schostakowitsch erinnert. Nicht, weil Hartmann ihn zitiert, sondern weil sein Concerto funebre auch ein Konzentrat von dem ist, was in vielen Musiksprachen dieser Jahre mitschwingt, vom Signalhaften bis zu einer offenen Harmonik, in der Erinnerungen an die alte Diatonik durchschimmern.

Nicht Hermann Scherchen dirigierte dann die Uraufführung am 29. Februar 1940 in St. Gallen, sondern dessen Schüler Ernst Klug, Leiter des Städischen Orchesters, dessen Konzertmeister Karl Neracher die Solopartie übernahm. Als Hartmann 1959 die Partitur überarbeitete, war er längst einer der meistgespielten  Komponisten der jungen Bundesrepublik. Nicht zuletzt deswegen, weil er, ohne zu emigrieren, als „Unbelasteter“ den Nationalsozialismus überstanden hatte. Von dem Druck, unter dem er in jenen Jahren stand, ist im Concerto Funebre viel zu hören – aber mehr noch von der Autarkie, die sich Hartmann bewahrte.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das erste Programm, mit dem das Gürzenich-Orchester Köln nach dem Lockdown wieder vor dem Publikum auftrat, am 13., 14. und 15, September 2020 in der Kölner Philharmone. Dirigent war François-Xavier Roth, Solist Renaud Capuçon. Den hier besprochenen Werken ging die Uraufführung von Georg Friedrich Haas´ “hope” für Blechbläser und Pauke voraus.