Vier ungleiche Brüder

Die komponierenden Söhne des Thomaskantors J.S. Bach gingen höchst verschiedene Wege – in die Weltstadt, in die Provinz, zu Wohlstand und Armut. Vier Werke aus einem halben Jahrhundert spiegeln Stationen ihres Lebens

Den beiden Besuchern aus Bückeburg verschlägt es den Atem, als sie in London ankommen, im Frühsommer 1778. Ein Welthandelszentrum, in dem sich an die 800.000 Menschen drängen, unvorstellbar für die Bauern und Handwerker der norddeutschen Residenzstadt Bückeburg. Auch der Leiter der dortigen Hofkapelle hätte sich, samt Sohn, nicht hergewagt, gäbe es in London nicht den erfolgreichen Bruder, 42 Jahre alt: Johann Christian Bach, Mr. John Bach, drei Jahre jünger als Johann Christoph Friedrich. Er zählt hier zur Musikprominenz. Gerade erst hatte seine fünfte Londoner Oper Premiere, Scipione, und seit drei Jahren steht am Hanover Square das Konzerthaus, das er und zwei Mitunternehmer haben bauen lassen, in der Nähe des Parlaments.
Johann_Christian_Bach_by_Thomas_Gainsborough
Wer hätte sich das träumen lassen, als er und acht Geschwister im Juli 1750 den letzten Abschied vom Vater nahmen, dem Thomaskantor? Johann Christian war damals vierzehn, zweitjüngstes Kind neben der acht Jahre alten Regina, und wie alle Söhne hatte er Unterricht gehabt beim „berühmten Musicus“, der sein Vater war. Hochbegabt und bestens ausgebildet waren die jungen Musiker, die um den Vater trauerten, und drei auch schon in passablen Stellungen. Doch wie verschieden die Wege verlaufen würden, die Johann Sebastian Bachs vier komponierende Söhne aus zwei Ehen dann gingen – das ist mehr als polyphon.

Nach der Beerdigung hatte der Älteste, Friedemann, seine Beurlaubung vom Organistenamt in Halle verlängert, um den Jüngsten nach Berlin zu bringen. Dort sollte Carl Philipp Emanuel, Hofcembalist Friedrichs II., Christians Lehrer sein. Typisch für Friedemann, dass vom Urlaub kein Vorgesetzter etwas wusste. Mit spöttischer Melancholie stand er über den Dingen und im Schatten des Vaters. Er war dessen „gutes Jüngelchen“ gewesen, Hoffnungsträger einer Musikerdynastie; er hatte eine Ausbildung ohnegleichen genossen. Wo er sich an eine Orgel setzte, hatte kein Konkurrent eine Chance, aber Geschäftliches interessierte ihn nur im Notfall, Eigensinn ging vor Diplomatie.

In Dresden hatte er seine Orgelkunst zehn Jahre lang für ein Jammergehalt verschenkt, 80 Taler im Jahr, während die Faustina an der Hofoper 4000 einstrich. Mit kleinen Werken für Adlige besserte er die Einkünfte auf, es sind Experimente im neuen Genre einer mehrsätzigen Sinfonie. Nur drei sind ganz erhalten, etwa die Sinfonia F-Dur: Kurze Sätze voller Kontraste, Abrisse, Andeutungen, voller Eindrücke auch aus Hasses Opern und Zelenkas Kirchenmusik, das alles aber komprimiert und durchgearbeitet im polyphonen Satz, mit dem er groß wurde und den er, als einziger der Söhne, niemals aufgibt. In Halle, wo Friedemann seit 1746 die Organistenstelle hat und nach seines Vaters Tod heiratet, wird er nicht glücklich. Mit 53 Jahren kündigt er einfach, ein seltsames Wanderleben mit Frau und Tochter schließt sich an, halb prekär, halb prominent. Am liebsten improvisiert Friedemann stundenlang.

Der dreieinhalb Jahre jüngere Carl Philipp ist das genaue Gegenteil, zielstrebig, systematisch, witzig, offen. Zwar erfinden er und Friedemann gleichsam die Klaviersonate in den Jahren, in denen ihr Vater die h-Moll-Messe schreibt. Aber vom Jüngeren liegen schon zwei Sixpacks im Handel vor, als der Ältere seine erste Sonate drucken lässt, ein so komplexes Werk, dass es kaum jemand kauft. Seit 1741 ist Carl Philipp Hofcembalist in Potsdam, wo er im Schatten des Flötisten Quantz steht. Doch als der seine Flötenschule vorlegt, folgt Carl Philipp mit dem geistvoller geschriebenen Versuch über die wahre Art das Klavier zu spielen, 1753, der den Musiker auch als Buchautor berühmt macht.

So einem muss Friedrich II. zähneknirschend eine Gehaltsaufbesserung gewähren, während Carl Philipp in seiner Musik längst das Weite sucht. In der e-Moll-Sinfonie aus der Mitte der 1750er wird ein selbstbewusstes Unisono-Statement in sanguinische Motorik überführt. Polyphone Reste finden sich in kleinen, melancholischen Vorhaltsbildungen, die in der Rasanz nicht die Substanz verlieren. An solche Modelle knüpft Johann Christian an, der mit vierzehn Jahren seine Lehre beim großen Bruder begann, beim Halbbruder strenggenommen, denn Christian kommt aus Bachs zweiter Ehe.

Wer hört, was der 19-jährige am Ende seiner Lehrjahre komponiert, das Cembalokonzert f-Moll, könnte im motorischen ersten Satz meinen, er habe bereits London ins Auge gefasst, im Andante, es sei die Begleitung einer der Arien, die er in Italien schreiben wird; im funkelnden Prestissimo herrscht das Tempo, mit dem es ihn aus dem Staub Brandenburgs herausdrängt. Mit einer italienischen Sängerin und einigen Empfehlungen in der Tasche reist er gen Süden und macht umgehend Furore: Als Opernkomponist in Neapel, als Organist in Mailand, als Giovanni Christiano Bach, der zum Katholizismus konversiert – und mit 26 Jahren ans King´s Theatre in London gebeten wird.

Dieses Leben ist geradezu der Gegenentwurf zu dem des Vaters und hätte dem vielleicht doch gefallen, denn Kantor zu werden war keineswegs sein Traum. Und selbst JSB ist, wegen ungebührlicher Nähe ohne Ehe, einmal vermahnt worden wie Giovanni, der den Kontakt mit Künstlerinnen ungern auf die Arbeit beschränkt. Als Mr. Bach gewinnt er nicht nur in London schnell Renommée, auch international. Fast jedes Werk, das er in England publiziert, wird auch in Paris und Amsterdam gedruckt. Die junge Königin Charlotte hat bei Bach Cembalolektionen und bittet ihn dazu, als sie 1764 einen achtjährigen Wunderknaben aus Salzburg empfängt.

Während die anderen diesen Mozart bestaunen wie ein Zirkustier, setzt sich Johann Christian mit ihm ans Cembalo, spielt mit ihm vom Blatt, behandelt ihn als Profi, und das vergisst Mozart nie. Was ihm die ganze Familie Bach bedeutet, macht sein Brief an Leopold Mozart vom 10. April 1782 deutlich: „ich mach mir eben eine Collection von den Bachischen fugen. – so wohl sebastian als Emanuel und friedeman Bach. (…) – sie werden wohl schon wissen daß der Engländer Bach gestorben ist? – schade für die Musikalische Welt!“

Johann Christian ist im Januar 1782 gestorben, keine 47 Jahre alt, nach rasantem Niedergang. Der Unternehmer, von dem sein ebenso renommierter Malerfreund Thomas Gainsborough ein grandioses Porträt schuf, hat sich verkalkuliert, ein Diener veruntreut 1000 Pfund, umgerechnet rund 170.000 Euro. Der wirtschaftliche wie gesundheitliche Verfall findet just in den Jahren statt, als der Sohn des „Bückeburger Bach“ bei ihm in die Lehre geht. Johann Christian Bach ist im Frühkapitalismus abgebrannt – aber er hat zuvor Funken gesprüht.

Beides lässt sich vom Bruder aus Bückeburg nicht sagen, der vom Besuch in London 1778 mit einem Fortepiano und Stücken neuen Stils zurückkehrt, aber bis ans Lebensende im gräflichen Dienst bleibt, den er schon mit siebzehn Jahren antrat, mit Vaters Begleitschreiben: „Übersende hiermit meinen Sohn.“ Nicht, dass er in dem Nest versauert wäre. Es gab glückliche Jahre der Zusammenarbeit mit Hofprediger Johann Gottfried Herder, und die Hofkapelle wurde unter Bachs Leitung eine der besten in Deutschland. Mit ihr führt er, um 1790, auch sein Konzert für Viola, Klavier und Orchester Es-Dur auf, dem man anhört, dass Johann Christoph Friedrich Bach auf aktuellem Stand ist: Hier nimmt erstmals nicht ein Bach Einfluss auf Mozart, sondern umgekehrt.

Zu dieser Zeit ist der Bückeburger der einzige noch lebende Sohn des Thomaskantors. Wilhelm Friedemann, der mit seinen Polonaisen für Klavier schon in die Nähe Chopins geraten war, der an jeder Orgel Aufsehen erregte, aber nirgendwo Fuß fasste, hatte es sich am Ende in Berlin noch mit der Schwester des Preußenkönigs verdorben, die ihn unterstützte, und ist dort mit 73 Jahren verarmt in der Wohnung eines Tischlermeisters gestorben.

Carl Philipp folgte ihm im Winter 1788 unter denkbar besseren Umständen. Seit 1768 Direktor der fünf Hamburger Hauptkirchen, war er nicht zu eigenen Kirchenkompositionen verpflichtet. Er schrieb vor allem instrumentale Werkzyklen, wie schon sein Vater, dazu Oratorien wie Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu, großbesetzter Sturm und Drang, der in Konzertsälen bejubelt wurde. Zur bürgerlichen Existenz an der Elbe gehörten eine Kunstsammlung und wohlgehütete Manuskripte aus Johann Sebastians Nachlass, ohne die dessen Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert kaum möglich gewesen wäre.

Sieht man sie sich auf Bildern an, seine vier Söhne, dann sind die einzige Gemeinsamkeit die kräftigen Augenbrauen, die wir vom Thomaskantor kennen. Mit fernem Lächeln sieht uns der späte Friedemann an, als Energiebündel der mittlere Carl Philipp mit dunklem Teint, aus rosigem Antlitz blickt versonnen der junge Johann Christoph Friedrich. Johann Christian aber schaut so cool zur Seite, am Maler vorbei, als habe er eigentlich Wichtigeres zu tun, als an eine Nachwelt zu denken, die sich ihn anschauen könnte. Gegenwart! Alles ist offen, kein Weg ist festgelegt. Niemand zeigt uns das so gut wie diese vier Brüder.

Dieser Text entstand für die Oper Zürich anlässlich des Livestream-Konzerts von La Scintilla, geleitet von Riccardo Minasi, am 19. Dezember 2020, online zu erleben bis 27. Dezember 2020. Das Porträt von Johann Christian Bach (Öl auf Leinwand, 750 x 620 mm) malte Thomas Gainsborough ca. 1776. Es befindet sich im Besitz der National Portrait Gallery, London