27. November 2020

> „Die werdende Musik ist ein so eifersüchtiges Lebewesen, dass sie mich nicht einmal als Mensch akzeptiert. Ich bin ihr dann total untertan. Sie frisst mich. Aber ich gebe mich gern. Und daher kann ich nicht den Haushalt machen“, erklärte sie lachend, als ich sie vor fünf Jahren interviewte: Younghi Pagh-Paan, geboren am 30. November 1945 im südkoreanischen Cheongju, wohnhaft in Bremen, wo sie 1994 als erste Frau in Deutschland eine Kompositionsprofessur erhielt. Zu ihrem 75. Geburtstag am kommenden Montag gibt es ein Interview im “Treffpunkt Klassik” ab 10.05 Uhr auf SWR2, abends moderiert Hanno Ehrler ein Musik-Panorama im Deutschlandfunk und stellt Aufnahmen vor, die das e-mex-ensemble von ihrer Kammermusik der Jahre 1992 bis 2000 machte.

Sie sind auch auf einer neuen Wergo-CD zu hören, der eine Neos-CD auf dem Fuße folgte. Die führt von Man-Nam für Klarinette und Streichtrio, einem der frühesten Werke, bis zu Mein Herz für Sopran und Viola, 2020 entstanden zu Worten von H.C. Artmann. Sopranistin Angela Postweiler und Bratschistin Kirstin Maria Piontka lassen ein Werk von großer Spannung und Klarheit erleben, besser gesagt clarté, denn wie in den mélodies von Debussy werden keine Bedeutungen herbeizitiert. Die Worte wandeln sich in eine lichte, klingende Realität. Spannend auch, das Werk neben zwei anderen zu hören, die ebenfalls eine Stimme und ein Streichinstrument vereinen: György Kurtágs Kafka-Fragmente und Wolfgang Rihms Stabat Mater. Erstmals aufgenommen hat das Ensemble KNM Berlin auch Pagh-Paans Horizont auf hoher See, 2017 vom Arditti Quartet uraufgeführt. Mitten in der „Königsdisziplin“ Streichquartett erlebt man eine neue Freiheit, ein Bewegtsein, vermittelt in so komplexen wie durchsichtigen Strukturen. Nichts darin ist beklemmend, nirgends will die Balance etwas „auf den Punkt“ bringen. Vertrauen ist besser als Kontrolle, scheint die Musik zu sagen. Sie atmet frei und ohne Maske.

Man atmete ja schon wieder auf, als im Oktober das Theater Basel nichts Geringeres als Olivier Messiaens summum opus Saint François d´Assise auf die Bühne brachte – leicht gekürzt und in der Besetzung von 140 auf gut 40 Orchestermusiker reduziert, maskiert (bis auf die Bläser) wie das Publikum, das auf drei Fünftel der 840 Plätze verteilt war. Knapp zwei Wochen nach diesem 15. Oktober wurden die Schweizer Theater (und kurz darauf die der Staaten ringsum) erneut in die hygienische Zwangspause geschickt, und so kommt mir meine Geschichte aus Basel nun vor wie ein Souvenir aus einer Zwischenzeit.

Es gibt aber in diesem schrägen Jahr Projekte, die um so lebendiger werden, je länger man gedeckelt im Kreis läuft. Ich entdeckte WindowSwaps durch einen Artikel im New Yorker. Ein indisches Paar in Singapur hat diese Fernweh-Website gebaut, an die jede*r, rund um den Planeten, ein kleines Fenstervideo schicken kann. Ein paar Minuten Bild und Ton, Kamera fest positioniert mit Blick auf kalifornische Palmen, Bielefelder Einfamilienhäuser, russische Wohnblocks, Höfe in Hongkong, Regen, Sonne. Manchmal räkeln sich Katzen auf der Fensterbank, manchmal hört man Kinder rufen, manchmal einen Song aus dem Hintergrund. Oben sind immer ein Vorname und der Ort zu lesen. Wohin man von Clip zu Clip gerät, regelt ein Zufallsgenerator. Mit Glück und Geduld trifft man seine Lieblinge wieder. Mein Favorit ist der Blick aus einem ersten Stockwerk in Glasgow auf einen kleinen Park mit seinen Passanten, Rentnern, Babykarren – einer der schönsten Kurzfilme ever. Das Ganze ist ein Projekt, das NUR im und durch das Netz existieren kann und durch seine, feierlich gesagt, egalitäre Diversität eine analoge Wahrhaftigkeit erlangt.

Nachtrag am 7. Dezember 2020: für die Website des Ricordi-Verlags habe ich ein kleines aktuelles Porträt von Younghi Pagh-Paan geschrieben, das dort auch auf Englisch zu lesen ist, übersetzt von Zack Ferryday.