Kategorie-Archiv: Historisch

Man wäre gern dabei gewesen

Springen wir über den Schatten der Stille: zu besonderen Konzerten aus vier Jahrhunderten, bei denen die üblichen Maßstäbe nicht greifen

szilagyi venedig

Hinterm Dogenpalast gleich links, die Riva degli Chiavoni am Wasser entlang, dann betreten Sie das Gebäude vor der vierten kleinen Brücke. Der Sommertag leuchtet gedämpft in die hohe Kapelle. Eine wunderbare Frauenstimme erklingt, dazu ein kleines Orchester mit Orgel. Aber Sie sehen die Musiker nicht – oder kaum. Sie blicken hinauf zur Galerie, zum filigranen Eisengitter, und gewahren schemenhafte Gestalten, einen bewegten Schimmer von Purpur, vernehmen ein sanftes Siciliano, ein Schaukeln wie das der Gondeln draußen, ein Wiegenlied: „Cum dederit…“ Nein, Sie sind nicht Zeuge einer neuen Konzertform mit hygienischer Distanz – wobei hier viel Platz ist. Manche sitzen, andere stehen. Manche Herren sind in langes Schwarz gekleidet, mit schwerer Perücke, andere bunter, Touristen wie Sie. Es ist der 2. Juli 1716.

An diesem Donnerstag geht es besonders festlich zu im Ospedale della Pietà, man feiert die Visitatio Mariae, das Patronatsfest des Ospedale. Antonio Vivaldi hat eigens dafür ein neues Werk geschrieben, sein Nisi Dominus. Es singt und spielt eines der berühmtesten Ensembles der Welt, jene figlie del coro, Chormädchen, die es in allen vier Findelhäusern Venedigs gibt, Waisenkinder mit schwindelerregend guter Musikausbildung. Ihre Konzerte sind ein Pflichttermin für jeden, der die Grand Tour durch Europa macht.

Aber auch für jeden, der in der Stille des Sommers 2020 nach besonderen live events der komponierten Musik in den jüngsten Jahrhunderten sucht. Natürlich ist jedes gute Konzert etwas Besonderes, Unvergessliches, Folgenreiches, nicht nur die Triumphe und Skandale. Aber was kann ein Auftritt über Welt und Leben, über Alltag und Veränderung erzählen? Über den Geist, der nicht zum Schweigen zu bringen ist? Man erfährt es bei Konzerten, in denen die üblichen Maßstäbe nicht greifen, weder unsere – die in diesen Monaten ja ganz neu geeicht werden – noch frühere.

Sei es, dass ein genialer Geiger vertraute Standards über den Haufen spielt oder ein anderer genialer Geiger die Kultur da wieder ins Recht setzt, wo sie es verlor; sei es, dass bei einer Uraufführung die Zuhörer davonlaufen und bei einer anderen die Musiker anschreien; sei es, dass Menschen im Jahr 1994 ihre erste h-Moll-Messe erleben oder im Jahr 2008 drei Orchester in einem Flugzeughangar abheben. Oder eben, dass im Jahr 1716 in Venedig mit einem Sicherheitsabstand musiziert wird, der keine epidemiologischen Gründe hat, sondern rein moralische.

Venedigs Mädchen und Frauen konzertieren hinter Gittern, denn für eine kirchliche Einrichtung ist es schon ein Privileg, wenn sich Frauen überhaupt vernehmen lassen dürfen. Zudem gelten Geigen, Celli, Flöten als unweiblich. Und es soll Voyeurismus verhindert werden in der sexuell liberalsten Stadt Europas. Niemand kann also sehen, welches der Mädchen mit den schimmernden Klängen seiner Viola d´amore das Gloria Patri des Nisi Dominus eröffnet. Und niemand sieht die Altistin, deren Koloraturen das Amen prägen (schließlich konkurriert das Ospedale mit den zahlreichen Opernhäusern Venedigs, da kann man nicht auf Koloraturen verzichten). Sinnen wir nach, wie sie aussehen mag, die Altistin? Lauschen wir verklärt, wie so viele hier? Mit Blick auf die Schemen oben hinter den eisernen Ornamenten ist es einem, als käme der Klang vom Himmel.

Seine Töne gehen durch Haut und Knochen

Es lässt sich dazu kein größerer Gegensatz denken als das Konzert eines 47jährigen Geigers, für den die Hamburger des Jahres 1830 gern den doppelten Eintrittspreis entrichten. Die 2500 Plätze des neuen Stadttheaters an der Dammtorstraße sind ausverkauft, als am 12. Juni ein Mann vor das Orchester tritt, der Europa in Atem hält. Noch vor zwei Jahren kaum bekannt, ist Niccolò Paganini mit solchem Furor eingeschlagen, dass manche den Teufel wittern: Kann ein Mensch so virtuos spielen? Zwei Taler, umgerechnet achtzig Euro, zahlt jeder gern, um das zu überprüfen.

Heinrich Heine, 32 Jahre alt, ist dabei und erblickt an diesem Samstagabend in den Logen „einen ganzen Olymp von Bankiers und sonstigen Millionären, die Götter des Kaffees und des Zuckers, nebst deren dicken Ehegöttinnen, Junonen vom Wantram und Aphroditen vom Dreckwall (…) Endlich aber, auf der Bühne, kam eine dunkle Gestalt zum Vorschein, die der Unterwelt entstiegen zu sein schien. Das war Paganini in seiner schwarzen Gala. Der schwarze Frack und die schwarze Weste von einem entsetzlichen Zuschnitt, wie er vielleicht am Hofe Proserpinens von der höllischen Etikette vorgeschrieben ist. Die schwarzen Hosen ängstlich schlotternd um die dünnen Beine. Die langen Arme schienen noch verlängert, indem er in der einen Hand die Violine und in der anderen den Bogen gesenkt hielt und damit fast die Erde berührte…“

Leichenblass sei er gewesen, wie ein Vampir. Doch kaum habe er zu spielen begonnen, „so kam es, daß mir Paganini mit jedem Striche seines Bogens auch sichtbare Gestalten und Situationen vor die Augen brachte, daß er mir in tönender Bilderschrift allerlei grelle Geschichten erzählte, (…) worin er selber immer mit seinem Violinspiel als die Hauptperson agierte. Schon bei seinem ersten Bogenstrich hatten sich die Kulissen um ihn her verändert…“ Tatsächlich verändert dieser Mann die Welt der Musik. Kein anderer Geiger hat diese technischen Möglichkeiten. Geradezu schwerelos, nur die Unterarme bewegend, mit unfassbar lockeren Händen macht er die Violine vom Instrument zum Medium, seine Töne gehen den Leuten durch Haut und Knochen.

Während Heine seinen Eindruck erst viel später publiziert, liest man drei Tage nach dem Konzert in den Hamburger Nachrichten ein erstaunliches Geständnis des Rezensenten: Wie Paganini „ganz neue, unerhörte, bis dahin unglaubliche Wagnisse mit der ungezwungensten Leichtigkeit des Spiels beherrscht und übersteigt, wie (…) den bacchantischen Tanz der Tonwellen schneidender Humor, bittere Ironie, gleich electrischen Flämmchen, durchzucken – ich gestehe, daß ich mich zu ohnmächtig fühle, davon durch Darstellung auch nur einen entfernten Begriff geben zu können.“

“Die Leut´ wollen nix von mir wissen“

Was aber, wenn die Musiker selbst gegen das Neue anspielen? Anton Bruckner, Konservatoriums-Professor in Wien, 53 Jahre alt, hat seine Dritte Sinfonie den Wiener Philharmonikern vorgelegt; nach einer „Novitäten-Probe“ haben sie die Aufführung abgelehnt. Johann von Herbeck, Dirigent des Musikvereins, setzt sich darüber hinweg und das Werk aufs Programm, stirbt aber sechs Wochen vor der Uraufführung. Bruckner muss sein Stück nun selbst dirigieren. Ein feindseliges Orchester kann auch den größten Dirigenten niedermachen – und Bruckner ist ein schüchterner kleiner Mann. Zudem gehen der Uraufführung am 16. Dezember 1877 noch 90 Minuten eines mediokren bunten Abends voraus. Kein Wunder, dass Eduard Hanslick danach in der Neuen Freien Presse gesteht, er habe die „gigantische Symphonie nicht verstanden“.

Die meisten Hörer seien während der Aufführung geflohen, bis auf eine enthusiastische „Fraction des Publikums“. Diese Fraktion hat es in sich. Da sind Bruckners genialischer Schüler Hans Rott, 19 Jahre alt, der 36jährige Musikverleger Theodor Rättig, der 17jährige Konservatoriumstudent Gustav Mahler. Nach dem Desaster gehen sie zu Anton Bruckner, der fast weint. „Ach, lasst´s mi aus, die Leut´ wollen nix von mir wissen“, wehrt er die jungen Bewunderer ab. Aber die „extra Verehrer und Propagatoren“ (Mahler) lassen ihn nicht allein. Rättig überrascht den Verzweifelten mit dem Entschluss, die Partitur zu drucken. Dazu kommt eine Fassung für Klavier zu vier Händen, von Gustav Mahler angefertigt – seine erste Publikation. Bruckner ist begeistert. Ab und an spendiert er nun seinem jungen Bewunderer mittags ein Bier…

Dreißig Jahre später wird der Wiener Hofoperndirektor Mahler von Intrigen aus dem Amt getrieben. Es ist ein von Antisemitismus durchsetzter „Schmäh“, der das Publikum polarisiert – auch das einer Uraufführung am 21. Dezember 1908. Teile der Presse haben sich auf den „hyperkühnen Exaltado“ Arnold Schönberg längst eingeschossen, als im randvollen Bösendorfer-Saal dessen Zweites Streichquartett erstmals erklingen soll. Man sieht Mitglieder der kaiserlichen Familie in Samtfauteuils, die Intelligenz der Stadt ist versammelt, die Presse sowieso, auf den Stehplätzen junge Leute beiderlei Geschlechts.

Erstmals verlässt die Musik ganz die Tonalität, während die Sängerin Stefan Georges Zeilen vorträgt: „Ich fühle luft von anderem planeten…“. Unruhig ist es schon zu Beginn, als die Fans so provokativ klatschen, dass die Skeptiker sich zur Gegenkundgebung entschließen. Im zweiten und dritten Satz gibt es stürmisches Gelächter. Im vierten Satz wird die Sängerin von Rufen unterbrochen. „Nicht weitersingen! Schluss! Wir haben genug! Wir lassen uns nicht frozzeln!“ Selbst Kritiker sind aufgesprungen, um lautstark die neue Musik zu verhindern. Mit bleichen Gesichtern bringen die Musiker die Aufführung zu einem Ende zwischen Zischen und Beifall. Zu Hause notiert Arthur Schnitzler: „Skandal während des Schönberg Quartetts. An Schönberg glaub ich nicht. Ich habe Bruckner, Mahler gleich verstanden – sollt ich jetzt versagen?“ Hätten wir es gleich verstanden? Besser vielleicht bei der zweiten Aufführung, auf deren Tickets stand: „Diese Karte berechtigt den Inhaber, dem Konzerte beizuwohnen, unter der Voraussetzung, daß er die Aufführung in keiner Weise stört.“ Man wäre gern dabei gewesen, soviel ist sicher.

Musik an den Rändern der Epochen

Wo wäre man nicht gern dabei gewesen? Die Frage kann so nicht gestellt werden, wenn es um den 27. Juli 1945 geht, im vormaligen Offizierskasino der Wehrmacht beim Konzentrationslager Bergen-Belsen, nordöstlich von Hannover, gut drei Monate nach der Befreiung. Die Hörer sind displaced persons, Befreite ohne Heimat, für die an diesem Tag der 29jährige Weltstar Yehudi Menuhin spielt, aus jüdischer Familie kommend wie die meisten von ihnen.

Noch im März sind 18.000 Menschen im Lager gestorben, an Typhus, an Entkräftung, darunter die 15-jährige Anne Frank. Die Pianistin Zuzana Růžičková wiegt nur noch 30 Kilo, als ein Engländer der 18-jährigen die erste Zigarette ihres Lebens anbietet. Die 20-jährige Cellistin Anita Lasker, die zuvor im Häftlingsorchester von Auschwitz spielte, gehört zu Menuhins Zuhörern . Er spielt Beethovens Kreutzersonate, Bachs Chaconne, Chaussons Poème, die Erste Violinsonate von Grieg. Die symbolische Bedeutung des Auftritts macht es ihm nicht leicht, die Hörer sind unruhig. Anita Lasker schreibt gleich danach in einem Brief: „Beseelt, so wie ich mir Casals´Spiel vorstelle, war es nicht. (…) Nun mag es sein, dass ihn die hiesige Atmosphäre nicht gerade angeregt hat (…) Was seinen Begleiter betrifft, so kann ich nur sagen, dass ich mir etwas Wunderbareres kaum vorstellen kann.“ Dieser Pianist habe, so Anita Lasker, da gesessen, „als ob er nicht bis drei zählen könnte“, und „vollendet schön“ gespielt.

Erst später erfährt sie, wer dieser Benjamin Britten ist. Die „Tournee“ mit Menuhin, über zerbombte Straßen von einem Lager zum anderen, schockiert den jungen Engländer zutiefst; über die Unruhe der Hörer schreibt er: „Einige von ihnen sind in einem entsetzlichen Zustand, können nur mit Mühe sitzen und lauschen und sind immer noch erschrocken, dass für sie gespielt wurde.“ Erst am Ende seines Lebens gesteht Britten dem Freund Peter Pears, dass alles, was er nach dieser dunklen Reise komponierte, von ihr geprägt wurde, zuerst die düsteren Holy Sonnets of John Donne. „Der Zyklus trotzt dem Entsetzen des Albtraums durch eine tiefe Liebe“, schreibt Pears dazu, „die instinktive Antwort East Anglias auf Buchenwald.“

Immer erhofft man von Musik an den Rändern der Epochen symbolische Kraft. Ende Dezember 1994 startet in Ljubljana eine Maschine nach Süden. Sie umfliegt das ehemalige Jugoslawien, in dem seit drei Jahren Krieg herrscht. Als sie auf der Rollbahn von Tirana, der Hauptstadt Albaniens, aufsetzt, rennen Hunderudel über das Stoppelgras. Siebzig Musiker aus Hannover steigen aus, ich als Bratscher, Bachs h-Moll-Messe im Gepäck, die Unterstützung des Auswärtigen Amts im Rücken. Mit Konzerten in Slowenien und Mazedonien will Helmut Kohls Bundesregierung ihre Anerkennung dieser Staaten unterstreichen; in Albanien, dem ärmsten Land des Balkans, geht es um moralische Unterstützung.

Die h-Moll-Messe ist hier noch nie gespielt worden. Am Silvestertag fährt unser abgewetzter Bus – Jahrzehnte vor uns aus Deutschland gekommen – in den Norden des Landes, das nach vier Jahrzehnten Brachialkommunismus in die Marktwirtschaft taumelt. An Telegraphenmasten baumeln blutende Tierteile, man schlachtet im Freien für den Neujahrstag. Wir überholen Pferdekarren. Ein nagelneues Coca-Cola-Lager erhebt sich wie eine Vision. Das Theater in Shkodra, einer 80.000-Einwohner-Stadt im Norden, ist in siebzig Jahren wohl nie renoviert worden. Das Licht zuckt, hinter dem Theater steht ein Dieselgenerator und liefert mit großem Getöse den Strom.

szilagyi albanien

Schon zur Einspielprobe erscheinen Leute. „Sie spielen wirklich die h-Moll-Messe?“, fragt ein Komponist aus Shkodra. „Mit allem? Mit Credo und Osanna und Sanctus?“ Er kennt das Werk nur aus den Noten und dem Radio. Auf der morschen Bühne liegt noch die Boden-Dekoration einer Varietévorstellung vom Oktober, wir stellen die Pulte und Stühle darauf, das Cembalo. Das Haus ist randvoll mit verschiedensten Menschen, nicht das „Mal sehen, was die zu bieten haben“-Publikum des Westens. Diese Hörer sind hungrig. Wenn wir jetzt nicht bei der Sache sind, wäre es, als fiele der Generator aus. Er wummert. Die Saiten verstimmen im feuchten Klima. Der Chor übertrifft sich selbst, wie vielleicht jeder von uns. Nach jeder Nummer wird geklatscht. Der Komponist weint.

Es gibt Konzerte, von denen man nie vergisst, wo genau man gesessen hat. Die meisten der über 3200 Besucher, die an zwei Septemberabenden im Berlin des Jahres 2008 Gruppen von Karlheinz Stockhausen hörten, werden es noch wissen.Denn was gibt es Spannenderes als den riesigen Hangar eines todgeweihten Flughafens, in dem die Berliner Philharmoniker mit drei Dirigenten in ein Orchesterwerk abheben, das man fast nie hört? Vorn, rechts und links sitzen im Hangar 2 von Tempelhof die Musiker, in drei Ensembles geteilt, und zwischen ihnen viele Hörer, die man mit zeitgenössischer Musik (selbst wenn die schon 50 Jahre alt ist) sonst hätte jagen können.

Es ist extraterrestrisch. Als sich irgendwann die Blechbläser aller Seiten zu einem Klangband vereinen, das golden dröhnend durch die 4200 Quadratmeter große Halle wandert, funkelt die Welt. Und die Worte des Hamburger Rezensenten, der 1830 von Paganini überwältigt war, passen noch immer: „Uns fehlt der Maßstab, es zu würdigen. Man muss es unmittelbar wahrnehmen, man muss es sehen.“

Dieser Text entstand für das Elbphilharmonie-Magazin 2020/3 (im August 2020 erschienen) und ist urheberrechtlich geschützt. Fünf Illustrationen dazu fertigte Kati Szilágyi für das Magazin der Elbphilharmonie an, zwei von ihnen – Venedig und Albanien – sind hier mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin zu sehen.

Mission accomplished, Hochwürden!

Die Erste Sinfonie: Wie Anton Bruckner in Linz seine Sprache fand

Bruckner 1855

Das Linz der mittleren 1850er Jahre ist wie geschaffen für einen wie Anton Bruckner, geradezu das ideale Biotop. Geboren in der Provinz, Sohn eines schlecht bezahlten, früh gestorbenen Schullehrers in Ansfelden, groß geworden in Schutz und Schatten eines mächtigen Klosterstifts, schüchtern, tiefgläubig, im Umgang oft hilflos, Autoritäten größten Respekt bezeugend – für diesen Organisten von 31 Jahren wäre schon Wien ein paar Nummern zu groß gewesen; eine Metropole wie Paris hätte ihn binnen Tagen zerrieben. Indessen ist es ein ausgezeichneter Organist, den Bischof Franz Joseph Rudigier an seinen Dom holt, in einer langsam, aber stetig wachsenden Stadt von rund 27.000 Einwohnern mit etwas Industrie, Dampfschiffen auf der Donau und einer im Bau befindlichen Eisenbahnlinie ins 200 Kilometer östlich gelegene Wien.

Linz ist überschaubar, aber nicht provinziell. Es ist tiefkatholisch, aber nicht rückständig. Es gibt eine kulturelle Intelligenz, einen Ehrgeiz des Aufbruchs, beides vereint in Bischof Rudigier. Er hat, ehe noch Bruckner im November 1855 sein Amt als Domorganist an St. Ignatius antritt, den Bau eines neuen Doms in die Wege geleitet. Der Grundstein für die Großbaustelle wird 1862 gelegt, ein Jahr nach Eröffnung der Westbahn. Zu der Zeit, schon 38 Jahre alt, hat Bruckner sein Kontrapunktstudium bei Simon Sechter abgeschlossen, zu dem er immer wieder nach Wien gereist ist – mit Einwilligung des Bischofs. Seit Herbst 1861 nimmt er weiteren Kompositionsunterricht in Linz beim Theaterkapellmeister Otto Kitzler, der zehn Jahre jünger als sein Schüler ist.

Kitzler, in Dresden geboren, hat Richard Wagner dort in nächster Nähe erlebt, und als Bruckners Lehrgang mit dem zünftigen „Freispruch“ durch seinen jungen Meister endet, 1863, leitet Kitzler die erste Linzer Aufführung des Tannhäuser – unter Mitwirkung der Liedertafel „Frohsinn“, die von Anton Bruckner geleitet wird. Zur außergewöhnlich gründlichen und systematischen Ausbildung kommt also der starke Eindruck einer neuen Musiksprache. Auch mit den Zeitgenossen Berlioz und Liszt hat Kitzler seinen fleißigen Schüler vertraut gemacht. Fortschrittlichkeit gehört zum Lehrplan. Unter einen der Entwürfe für Sinfonie-Anfänge auf den letzten der 320 Seiten im Studienheft hat Bruckner das Urteil des Lehrers notiert: „Veraltet“. Und für „nicht besonders inspiriert“ hält Otto Kitzler eine „Studiensinfonie“ in f-Moll.

Tatsächlich findet in diesem Werk nicht der „Quantensprung“ statt, der im Eifer rückwirkender Verklärung auch schon konstatiert wurde. Die ersten beiden Sätze sind visionsarmes Handwerk in der Nähe der Wiener Klassik, im Finale landet Bruckner, mit kohärenterem Tonfall, zwischen Schumann und Mendelssohn; nur sein Scherzo hat klaren Eigensinn – die einfache Form macht ihn mutig. Das erste große Werk, das er dann für die Öffentlichkeit schreibt, ist die Messe in d-Moll. Und da, im Schutz der Liturgie, erreicht er neue Räume, weitet die Harmonik aus, Kontrapunktik und Instrumentierung werden sinnhaft über das „Richtige“ hinaus. Die Linzer, die das am 20. November 1864 erstmals im (alten) Dom hören, verstehen es. Nicht nur Lokalstolz diktiert die Notiz im Abendboten, die neue Messe sei „nach dem Ausspruche unserer bewährtesten Kunstsachverständigen das Ausgezeichnetste,was seit langem in diesem Fache geleistet wurde.“ Diese Sachverständigen ermöglichen eine zweite Aufführung im Redoutensaal der Stadt – besonders umtriebig ist dabei Moritz von Mayfeld, ein hoher Beamter, als Maler, Schriftsteller und Musiker selbst produktiv.

Mit seiner pianistisch versierten Frau Jenny hat er dem Jüngeren Beethovens Sinfonien vierhändig vorgespielt und ihn „ins Symphonische hineingetrieben“ (Bruckner). Was Mayfeld nach der Aufführung der Messe am 18. Dezember 1864 publiziert – wieder im Abendboten -, wird gern als „prophetisch“ gelesen, ist aber auch eine Aufforderung an den Komponisten. „Nur neue Gedanken“ berechtigten zur Komposition, das „handwerksmäßige Erzeugen formgerechter Stücke“ sei „gar kein Gewinn für die Kunst“. In der Messe sei aber „alles, oder doch das Meiste, neu“ und Bruckner mithin ein „vollberechtigter Compositeur“. Er werde „schon in nächster Zukunft das Feld der Simphonie, und zwar mit dem größten Erfolge, bebauen.(…) Ebnen wir ihm nach Kräften die Wege…“

Es scheint geradezu ein Projekt der Linzer Intelligenz gewesen zu sein, unter der „wenig anziehenden Hülle“ des tapsigen Domorganisten den „Feuergeist“ (Mayfeld) freizulegen. Der autoritätsgläubige Anton wird sozusagen mit Brief und Siegel in die Zukunft geschubst, in die Freiheit, und die nimmt er sich umgehend. Der erste Satz seiner c-Moll-Sinfonie (die Tonart der Fünften von Beethoven) beginnt wie ein Satz, den Gustav Mahler vierzig Jahre später komponiert haben könnte – trockene Viertel der tiefen Streicher, darüber ein Thema im punktierten Marschrhythmus, keineswegs vorwärtsdrängend, sondern pausendurchsetzt, mit einer Linie, die nur mühsam an Höhe gewinnt, immer wieder zurückfällt, dabei aber eine Spannung mit enormem Potential entwickelt.

bruckner 1 part

Ein Motivsplitter in der Klarinette wird zum Treibsatz, der den ersten Tutti-Ausbruch in As-Dur entfesselt, eine zweitaktige Steilwand, der eine weitere in as-Moll folgt und ein B-Dur-Plateau. Dass einem sofort Gebirgsmetaphern in den Sinn kommen, die innerhalb der Brucknerrezeption nicht gerade originell sind, liegt wohl auch daran, dass man hier tatsächlich schon den „ganzen Bruckner“ hört. Das ist dann doch ein Quantensprung, und der Komponist bleibt ihm gewachsen: Statische Zirkulationen in den Holzbläsern, minimal-monumentale Akkordverschiebungen – von Ces- nach C-Dur! -, selbst eine Tannhäuser-Fortschreibung werden souverän realisiert. Letztere ist mit schwerem Blech und Zweiunddreißigsteln der Streicher indessen kein „Zitat“ des Pilgerchores, eher eine Materialübernahme, wie Wagner selbst sie praktizierte, als er sich für seinen Pilgerchor von Roméo et Juliette des Kollegen Berlioz anregen ließ.

Wie Bruckner dann diese Zweiunddreißigstel zum Horizontflimmern in der Flöte werden lässt, wie er überhaupt Themen, Motive, Splitter in immer neue Beziehungen setzt und Unberechenbares durch Architektur stabilisiert, ohne es zu verraten, das ist keineswegs nur „kühn“ und „ungestüm“, wie manche es reflexhaft diesem sinfonischen „Erstling“ attestieren, sondern meisterhaft. Schade, dass Hans von Bülow das nicht erkannte, dem Bruckner diesen Satz zur Prüfung überreichte, als er im Sommer 1865 zur ersten  Tristan-Produktion nach München reiste. Die wiederum hinterließ Spuren im dort vollendeten Trio des Scherzo, und sie erklärt vielleicht auch ein wenig das Adagio der c-Moll-Sinfonie, den zweiten Satz, der als letzter im April 1866 fertig wurde.

Mit ihm blickt man ins meditativ gärende Hinterland des Komponisten. Dass er auch hier in seiner neuen Sprache zu erkennen ist, aber nicht ganz zu sich oder gar schon dem großen Bogen späterer langsamer Sätze kommt, sondern mitunter wie improvisierend sich in der Endlosigkeit bewegt, hat wohl auch einiges mit dem tiefen Eindruck zu tun, den Tristan und die Begegnung mit seinem Komponisten hinterließen. Da beginnt die Entdeckung der Maßlosigkeit, mit der umzugehen ein lebenslanges (Arbeits-)Thema für Bruckner werden wird. Im Adagio seiner ersten Sinfonie bewegt es sich noch gedämpft, amorph zwischen den klaren Konturen von erstem und drittem Satz. Die Wucht des Scherzo hat danach etwas so Heiteres und wie Gefährliches, im Trio sogar etwas Ironisches.

Das Finale konzipierte Bruckner zuallererst, viel weiter ausgreifend, als es das heroische Hauptthema  erwarten lässt. Es gibt da eine unvermutete schöne Insel der Stille, ruhige Linien von hohen Bläsern und Streichern, 40 Takte lang, es gibt aber auch Repetitionen bis zur Redundanz, große Blöcke, denen der Halt fehlt, einen Bruckner zwischen Steinbruch und Baustelle – und natürlich einen Schluss in strahlendem C-Dur. Als der am 9. Mai 1868 nachmittags im Linzer Redoutensaal verklungen ist, gibt es Ovationen. Allerdings sind es beschränkte Bedingungen, unter denen die Uraufführung stattgefunden hat: Unter der Leitung des Komponisten spielten gerade mal 21 teils überforderte Streicher, und „nur von der Aristokratie“ wurde das Konzert besucht, ergänzt durch  „die Anwesenheit des hochwürdigsten Herrn Bischof“. Wie sehr aber Bruckner nicht nur von der Linzer Elite, sondern auch von den Musikern unterstützt wird, zeigt der Theaterhornist Franz Schimatschek: Er hat schon 1866 in nur einem Monat die Orchesterstimmen und eine Partiturabschrift angefertigt.

Natürlich träumt Bruckner auch von einer Aufführung in Wien. Doch „ein pragmatisch motivierter Notbehelf“ ist die Linzer Uraufführung allenfalls im Vergleich mit so gediegenen Bruckner-Interpretationen, wie sie der Komponist erst als 60jähriger mit seiner Siebten Sinfonie erlebte – und das keineswegs in Wien. Vor allem ist dieser Mai-Samstag 1868 der Ausdruck einer Anteilnahme, wie sie vorher und nachher keine Stadt einem werdenden Genie gewährte. Als Bruckner im Sommer nach der Uraufführung seiner Ersten die Westbahn besteigt, um nach Wien umzuziehen – er wird am Konservatorium lehren -, hat er, trotz aller Krisen, eines der besten Jahrzehnte seines Lebens hinter sich.

Er hat in einem Kreis von Verständigen die Form gefunden und sich angeeignet, in der er alle Widersprüche produktiv machen kann, die er in sich trägt. Ein Frommer, den Wagner fasziniert. Ein Blockierter, der von Entgrenzung träumt, ein Unsicherer, der alles „richtig“ machen will und doch alles „neu“. In Linz hat er sich als Komponist gefunden. Von hier bringt er die Basis für die Arbeit an einem Jahrhundert-Oeuvre mit. Mission accomplished, Hochwürden!

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand im Auftrag des Gürzenich-Orchesters Köln für ein Programm, das am 21., 22,. und 23. Juni von FX Roth hätte dirigiert werden sollen und den Corona-Sicherheitsmaßnahmen zum Opfer fiel. Das Foto von Anton Bruckner machte Joseph Löwy in Wien, 1854. Die Partiturseite gehört zur Neuen Bruckner-Gesamtausgabe, Band I/1, Musikwissenschaftlicher Verlag Wien, 2016.

„Er sitzt im Käfig und kann nicht entkommen“

Im „Don Pasquale“ steckt viel Realität und Doppelsinn – so viel, dass selbst das tragische und groteske Ende des Komponisten Gaëtano Donizetti schon anzuklingen scheint

jdd 6 1 1843 A

Sie holen ihn an einem Sonntag. Es ist der 1. Februar 1846, als in der Rue Grammont, im 2. Pariser Arrondissement, eine Kutsche hält. Zwei junge Männer bringen Gepäck aus dem Haus, es sind der Diener und der Neffe des Mannes, der dann, auf seinen Neffen gestützt, unsicheren Schrittes, auf die Straße tritt und einsteigt. Ein 48-jähriger, für eine längere Reise gekleidet. Gaëtano Donizetti wird in Wien erwartet. Seit drei Jahren ist er dort Hofkapellmeister, mit 4000 Gulden (etwa 140000 Euro) Gehalt für sechs Monate Anwesenheit. Seine Basis ist Paris – er wohnt in nächster Nähe aller drei Häuser, an denen hier seine Opern triumphieren. Ganz besonders Don Pasquale, uraufgeführt am 3. Januar 1843 in der Salle Ventadour. Gut möglich, dass die Kutsche an diesem Theater vorbeifährt, statt auf den Boulevard des Italiens einzubiegen.

Denn der Kutscher wählt eine sonderbare Route. Er fährt keineswegs in Richtung Wien, wie der 27jährige Andrea Donizetti seinem berühmten Onkel weisgemacht hat. Das Ziel ist nur acht Kilometer nach Südosten entfernt – die Maison Esquirol in Ivry vor den Mauern von Paris, eine Privatpsychiatrie für Wohlhabende. Drei Stunden lang dauert das Zickzack dorthin – vermutlich bei geschlossenen Vorhängen. Dann wird dem Komponisten erklärt, es habe eine Panne gegeben, die Reparatur werde eine Weile dauern, glücklicherweise sei aber ein gutes Gasthaus in der Nähe. Donizetti lässt sich in eine komfortable Suite mit Gartenblick führen. Er ist durchaus klaren Geistes, wird nach einer Weile misstrauisch und will hinaus. Man verwehrt es ihm und tischt weitere Lügen auf, eine haarsträubender und fadenscheiniger als die andere.

„Der arme Teufel weiss nicht, was ihn erwartet: er bebt vergebens, er zürnt vergebens,er sitzt im Käfig und kann nicht entkommen.“ Diese Zeilen hat Gaëtano Donizetti drei Jahre zuvor selbst vertont. Malatesta singt sie, der falsche Freund des Don Pasquale, den er in einer Intrige sondergleichen an den Rand des Ruins und des Wahnsinns treibt, einen Mann übrigens, der sich selbst recht realistisch sieht: „Ich bin, schon klar, ziemlich bejahrt, aber noch immer gut in Fahrt“, hat Pasquale erklärt. Sein Schöpfer, der auch nach fünf Tagen in Ivry festsitzt, schreibt am 6. Februar 1846: „Meine Gesundheit ist schwach, aber dumm bin ich nicht.“ Er verfasst Briefe an Freunde und Freundinnen und weiß sehr gut, wo er sich befindet. „Madame, kommen Sie nach Ivry… in einer Stunde! Ich bin eingesperrt worden.“ Die Briefe werden nicht zugestellt.

maison esquirol

Schwache Gesundheit ist freilich ein Euphemismus für den Zustand des Erkrankten. Im vergangenen August haben ihm vor seinem Haus die Beine den Dienst versagt, er verlor das Bewusstsein. Schon länger sind seiner Umgebung nicht nur Unregelmäßigkeiten des Ganges aufgefallen, auch Gedächtnisausfälle und Wutanfälle, wie man sie von diesem so selbstbewussten wie souveränen Mann sonst nicht kannte. Als sein Neffe Andrea zu Weihnachten eintraf, fand er den Onkel abgemagert, den Blick erloschen, die Äußerungen konfus, die Launen extrem. Donizetti hatte Mühe, den Kopf gerade zu halten. Dieselben Ärzte, die ihm im August nur rieten, das Pariser Klima zu verlassen, Aufregung und Arbeit zu vermeiden, konstatierten Ende Januar 1846, er sei nicht länger „fähig, die Konsequenzen seiner Entscheidungen und Handlungen einzuschätzen“. Dass er an den Folgen einer Syphilis litt, wurde, wie üblich, umschrieben.

Kopfschmerzen plagten Donizetti schon seit Jahren. „Wenn du das im Kopf aushältst, mit diesem Hammer, ist es ein Wunder“, singt Pasquale. Er meint seine Fassungslosigkeit über die Demütigung, die ihm bereitet wird, doch was ein martello im Kopf ist, wusste der Komponist wortwörtlich. Zum Triumph der französischen Fassung seiner Lucia di Lammermoor im August 1839 konnte er nicht kommen, mit Schädelweh im Bett liegend und sich nur erhebend, weil ihm das ganze Ensemble unter seinen Fenstern ein Ständchen brachte. Das Publikum liebte seine Stücke so, dass Hector Berlioz, der sie nicht liebte, grimmig von einer „Invasion“ sprach. Innerhalb von zwei Monaten wurden in Paris 1840 La fille du régiment und Les Martyrs uraufgeführt, bis 1842 folgen fünf weitere Opern für Paris, Rom, Mailand, Wien, zwischendurch zum Zeitvertreib ein Einakter für die Schublade, in einer Woche komponiert. Donizetti arbeitete ständig an der Grenze zum burn-out. Und immer wieder: Kopfweh.

„Höchst unwahrscheinlich“, schreibt sein Biograph William Ashbrook, „dass er nie einen Verdacht zur wahren Natur seines Zustands und möglicher Konsequenzen hatte, denn Menschen, die an fortgeschrittener Syphilis litten, waren in diesen Tagen nicht selten. Donizettis exzessive Arbeit in den letzten Monaten des Jahres 1842 und im ganzen Jahr 1843 legt nahe, dass er so viel komponieren wollte wie möglich, solange er dazu noch fähig war.“ In elf Tagen ist im Herbst 1842 Don Pasquale skizziert, aber alles in allem dauert die Arbeit drei Monate, und sie geht mit Sorgfalt vonstatten. Der Komponist zieht eine Summe seiner Erfahrungen und greift dabei auch massiv ins Libretto ein. Donizetti, Mitte 40, blickt zurück – doch er verwandelt ein historisch gewordenes Genre, die Opera buffa, in etwas Neues, ein Dramma buffo, so neu, dass er auf zeitgenössischen Kostümen besteht und die Gestalten ambivalent macht. Selbst dem Strippenzieher Malatesta („schlimmer Kopf“) tut der Erfolg seiner Intrige leid: „Er scheint nicht mehr derselbe. Es tut mir im Herzen weh.“

Ähnlich geht es den Freunden, Kollegen, Angehörigen, die Donizetti in Ivry besuchen. Der altvertraute Tenor Gilbert Duprez inspiriert mit einer Arie aus Lucia den Komponisten dazu, ans Klavier zu tappen – immerhin gibt es eines! -, doch gehorchen die Finger nicht mehr. Die Italiener möchten ihn in seinen Geburtsort Bergamo heimbringen, die Ärzte widersetzen sich. Andrea mobilisiert den österreichischen Botschafter in Paris – immerhin ist Donizetti als Hofkapellmeister Ferdinands I. dessen Untertan und dazu noch Mitglied des kaiserlichen Haushalts. Da tritt überraschend der Pariser Polizeipräfekt Gabriel Delessert aus der Kulisse und untersagt jegliche Reisepläne. Mit welchem Recht und welchem Motiv, bleibt so unklar, dass sich konspirative Züge abzeichnen. Steckt Donizettis Pariser Bankier August de Coussy dahinter, der die Kontrolle über die sprudelnden Tantienen behalten möchte? Dessen Frau Zélie hat Donizetti seinen Don Pasquale gewidmet – und ihre Mischung aus „Katzbuckeln und Tyrannisieren“ (Ashbrook) vielleicht auch in Norina verewigt. “Peggiore consorzio di questo non v’ha”, klagt Pasquale, als er das Ausmaß der Intrige erkennt, “einen schlimmeren Verbund als diesen gibt es nicht“.

Nachdem Neffe Andrea im September 1846 frustriert abgereist ist, ergreift der österreichische Baron  Eduard von Lannoy die Initiative, mit Musikwelt und Diplomatie gleichermaßen vertraut. Er nötigt den Neffen zur Rückkehr, mobilisiert die Presse und erzwingt Donizettis „Freilassung“ . Nach fast siebzehn Monaten kann Donizetti von Ivry in eine neue Pariser Wohnung ziehen, verliert seine Apathie und genießt tägliche Ausfahrten, die alsbald vom Polizeipräfekten unterbunden werden: Delessert postiert Gendarmen vor dem Haus, damit der Kranke nicht doch noch nach Italien transportiert wird. Diese Besessenheit erinnert an den Polizeispitzel Javert aus Victor Hugos Misérables, die freilich noch nicht geschrieben sind,während Honoré de Balzcac längst geschildert hat, zu welcher Skrupellosigkeit in Paris die Geldgier führt.

Auch mit Le Père Goriot von Balzac im Sinn kann man Don Pasquale lesen, diese Demontage eines altmodischen Seniors in soliden Verhältnissen. Freilich endet sie im Libretto versöhnlich mit „Ich will alles vergessen“, während Goriot verarmt und einsam stirbt. Und Donizetti? Sein letztes Kapitel gleicht dem eines Romans zwischen Balzac und Hugo: Erst als internationale diplomatische Verwerfungen drohen, geht der Polizeichef in die Knie, und nach einer Reise von siebzehn Tagen erreicht der todkranke Komponist im September 1847 seine Heimat Bergamo. Fast wirkt es als Prophetie, wie er zwei Jahre zuvor einen Brief endigte, der im Duktus einem Rezitativ ähnelt: „Pazienza! La tomba! È finita.“ „Geduld! Das Grab! Es ist vollendet.“ Konkret bezieht sich das wohl auf das Mausoleum, das Donizetti in Neapel für die Liebe seines Lebens bauen ließ, Virginia, 1837 gestorben. Doch mit Blick auf Don Pasquale und seinen Komponisten kann man nicht anders, als mehr zwischen den Worten zu lesen.

donis tod, jdd 18 4 1848

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programmheft der Züricher Produktion des Don Pasquale, Dirigent: Enrique Mazzola, Regisseur: Christof Loy, Premiere am 8. Dezember 2019. Illustrationen: Beginn der zehn Spalten langen Rezension der Uraufführung, geschrieben von Étienne-Jean Delécluze, erschienen im Journal des Débats vom 6. Januar 1843, der Eingang zur – heute nicht mehr existenten – Maison Esquirol in Ivry-sur-Seine, die Meldung vom Tod Donizettis, erschienen im Journal des Débats vom 18. April 1848.