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“Das ist unsere Gegenwart!”

Sein Leben folgte der Fieberkurve des bewegten 19. Jahrhunderts: Vor 200 Jahren wurde der europäische Komponist und Urvater des Musicals Jacques Offenbach geboren

Die 36-jährige Queen sitzt vorne in einer offenen Kalesche, neben ihr eine französische Prinzessin, hinten Prinz Albert, Victorias Gemahl, und Kaiser Napoleon III. Jubelfahrt durch Paris, 18. August 1855: Während im Krimkrieg französische und englische Soldaten die russische Festung Sewastopol belagern, besucht die englische Königin die Weltausstellung. Um 19 Uhr erreicht ihr Konvoi die Champs-Élysées, aber das Theaterchen dort wird sie schwerlich wahrnehmen. Hinter seinen Kulissen bereitet sich ein Mann auf seinen Auftritt vor, der wenige Wochen nach Victoria zur Welt kam. Am 20. Juni 1819 wurde er als Jacob Offenbach in Köln geboren, Jacques nennt man ihn in Paris.

Rechtzeitig zur Expo hat er die Lizenz für das leer stehende 300-Plätze-Haus bekommen. Fünf Millionen Menschen besuchen in diesem Jahr Paris, das selbst eine Million Einwohner zählt. Jeden Abend ist es voll im Theater, drängen in den schmalen Gängen die Damen seitwärts aneinander vorbei – Reifröcke sind groß in Mode -, zwängt man sich in enge Reihen und brüllt vor Lachen über die Einakter, die Offenbach komponiert hat. Allen voran Les deux Aveugles, »Die zwei Blinden«, zwei Bettler, einer lang, einer dick, die zu einer 16-Mann-Kapelle singen und kein bisschen blind sind, sondern scharfe Blicke auf diese Stadt werfen. Nie können die beiden sicher sein, welche ihrer Brücken als nächste gesperrt wird für Baron Haussmanns großen Umbau, dem allein bis 1860 mehr als 25.000 Wohnungen weichen müssen, um Platz für neue Häuser und Straßen zu schaffen. Darüber lacht man gern. Anschließend verwandeln sich der Dicke und der Lange in zwei typisch englische Touristen, die im legendären Tanzlokal Mabille eine Dame anbalzen. »Oh, Pariss, Pariss …«

Offenbach, der schmale Dirigent mit dem dürren Backenbart, ist nah am Nerv der Zeit. So nah, dass sich aus den Einaktern des Jahres 1855 ein neues Genre entfalten wird, die Offenbachiade, Mutter aller Operetten und Musicals.

manet tuileriesOffenbach sitzt mit Zylinder vor dem Baum rechts, seine Frau ist die junge Dame links im Vordergrund, links von ihr steht Édouard Manet, Maler der “Musique aux Tuileries” (1862) 

Seine Laufbahn folgt der Fieberkurve des Jahrhunderts. Mit 14 Jahren ist er als Cellist nach Paris gezogen, zusammen mit dem geigespielenden Bruder, begleitet vom Vater Isaac, einem Kölner Synagogenkantor, der für seine begabten Söhne in Paris eine bessere Zukunft sieht als in Köln, wo sie als Juden geringe Karrierechancen haben. Paris, das ist seit der Julirevolution 1830 die »Spitze der Welt«, wie Heinrich Heine schwärmt, selbst einer von Tausenden Emigranten, die in die Boom-town strömen, seien sie nun hessische Straßenkehrer oder polnische Intellektuelle. Zumal für Musiker führt an Paris kaum ein Weg vorbei. Selbst das größere London bietet nicht so viele Auftrittsmöglichkeiten, geschweige denn die Tradition subventionierter Opernhäuser und unzähliger Salons.

In den Salons macht Offenbach zuerst Karriere, als phänomenaler Cellist mit eigenen Stücken und Gespür für szenische Effekte. Von Damen umgeben, »spielte er eine seine schmachtenden Piècen, als die außerordentlich magere, doch zierliche Gestalt des Virtuosen plötzlich zusammenklappte und, wie von tiefer Rührung durch das eigene Spiel überwältigt, in eine malerische Ohnmacht fiel«, erinnert sich später ein Jugendfreund. Doch Offenbach kann auch anders und entfesselt 1846 im Salon einer Gönnerin Lachstürme mit einer Parodie auf Félicien Davids Sinfonie-Ode Le désert, die die Exotik der Wüste beschwört und sich enormer Popularität erfreut.

Zu der Zeit hat Offenbach seine Cellomusik schon in der renommierten Salle Pleyel vorgestellt, in der auch Chopin seine wenigen Konzerte gibt; nun hofft er auf eine Karriere als Opernkomponist. Doch die nächste Revolution kommt dazwischen nach Missernten und Börsencrashs, in deren Folge die Zahl der Arbeitslosen in Paris auf 180.000 wächst. Proteste gegen das vermögensabhängige Wahlrecht werden vom »Bürgerkönig« Louis-Philippe unterdrückt, eine Schießerei am 23. Februar 1848 bringt das Pulverfass zur Explosion. Zwei Tage nachdem in London das Kommunistische Manifest des aus Paris vertriebenen Karl Marx und seines Freundes Friedrich Engels erschienen ist, dankt der König ab und flieht.

Der Ruhe nach diesem Sturm traut kaum ein Ausländer in Paris. Giacomo Meyerbeer, König der Grand Opéra, reist ab nach Berlin, Chopin geht nach London, Offenbach bricht mit seiner Familie ins heimische Köln auf. Seit vier Jahren ist er verheiratet, seit zwei Jahren Vater; für seine Frau Herminie, die Tochter eines spanischen Generals, hat er sich sogar katholisch taufen lassen. Für eine Karriere in Paris wäre das zu dieser Zeit nicht nötig, aber antisemitische Presseattacken gegen prominente Künstler gibt es schon seit Längerem, und es ist Giacomo Meyerbeer eine Erwähnung im Tagebuch wert, dass zwei Minister der provisorischen Regierung »Bekenner der jüdischen Religion« seien.

Frechheiten im turbokapitalistischen Kaiserreich

Die neue Republik hält nicht lange. Das Erstarken konservativer Kräfte führt im Juni zum Aufstand, aus dem ein Bürgerkrieg wird mit 5000 Toten. Danach macht man einen schillernden Neffen des großen Napoleon zum Präsidenten, der 1851 mit einem Staatsstreich die Republik beendet, als geschickter Sozialdemagoge das Vertrauen der Armen genießt und sich nach erfolgreicher Volksabstimmung 1852 zum Kaiser krönen lässt: Napoleon III. In dessen turbokapitalistischem Kaiserreich nimmt Offenbach Platz zwischen allen Stühlen, ein »Mozart der Champs-Élysées«, wie sein Freund Rossini ihn nennt, selbst einer der Großen, die aus Paris eine Stadt der Europäer machen.

Nach dem Erfolg des Sommers 1855 findet Offenbach ein Winterquartier: 668 Plätze haben die Bouffes-Parisiens in der Passage Choiseul, für die er und ein Pool von Librettisten eine Farce nach der anderen schreiben – bis sie 1858 eine abendfüllende Mythenparodie riskieren: Orphée aux enfers, »Orpheus in der Unterwelt«, ein freches Spiel mit dem schönen Schein des Kaiserreichs. »Dieses Regime ist stumpfsinnig!«, protestieren die Götter gegen Jupiter, wobei sogar die offiziell verbotene Marseillaise zitiert wird.

Auch die Promiskuität fast aller Figuren ist ein heißes Thema in einer Gesellschaft, in der Kurtisanen zu steinreichen Influencern, aber niemals zu achtbaren Personen werden können. In der es für Männer Ehrensache ist, Geliebte zu haben, aber Werke wie Giuseppe Verdis La Traviata und Gustave Flauberts Madame Bovary realistisch zeigen, welche Grenzen der weiblichen Selbstbestimmung gesetzt sind. Offenbach selbst leistet sich später mindestens eine Affäre, setzt aber bei seinen Töchtern die behördliche Regelung durch, die unverheirateten Damen den Besuch von Boulevardtheatern untersagt.

Dass seine Sujets oft sexuelle Doppelmoral spiegeln, ist kein unique selling point. Einzigartig ist vielmehr Offenbachs Doppelbödigkeit. Seine Stücke sind ironisch und wahrhaftig in einem. Er komponiert Melodien, die das Publikum von den Sitzen reißen, die aber auch melancholisch berühren können. Das alles scheint ihm zuzufliegen, trifft sich allerdings mit obsessiver Arbeitswut. Bald kennt ganz Paris den Wagen, in dem Offenbach, von Theater zu Theater rasselnd, am eingebauten Schreibpult komponiert. 150 Bühnenwerke wird er hinterlassen und 550 weitere Stücke. Noch während der Proben, noch nach Premieren feilt er an Klangfarben, am perfekten Timing, an dem, was Friedrich Nietzsche als »Leichtfertigkeit im Schwersten« begeistert.

Der Orphée wird schon in der ersten Saison 227 Mal hintereinander gespielt. Dank der Einnahmen kann der Komponist sich im Küstenort Étretat in der Normandie die herrschaftliche Villa Orphée bauen lassen. Und dank des Erfolges öffnet ihm die Opéra-Comique ihre Pforten, in deren Orchester er als 15-Jähriger Cellist war. Für dieses Haus entsteht 1860 seine Oper Barkouf über einen Hund, der von einem Willkürherrscher als bellender Gouverneur eingesetzt wird.

Das gibt Ärger, denn gerade jetzt ist Napoleon III. schwer unter Druck geraten. Mit 170.000 Soldaten hat er die Österreicher aus dem Piemont vertrieben, er sympathisiert mit einem einigen Italien, ist aber als katholischer Herrscher dem römischen Kirchenstaat verpflichtet. Auch innenpolitisch wird das Eis dünn, und so reagieren die Zensoren empfindlich auf das Barkouf-Libretto aus der Werkstatt des berühmten Eugène Scribe. Das Stück spielt in einem fantastischen Indien, doch die Zensoren erkennen zutreffend »die fortwährende Verspottung aller staatlichen Autorität«. Warum wird diese opéra-bouffe dennoch aufgeführt?

Dahinter steckt der Duc de Morny, Halbbruder des Kaisers, seit 1852 Präsident einer Karikatur von Parlament, skrupellos und progressiv zugleich, ein jovialer Mephisto mit Sinn für die Kunst. Die begabte Tochter seiner Geliebten lässt er zu einer Schauspielerin ausbilden, die als Sarah Bernhardt Theatergeschichte macht, dem Freund Offenbach schreibt er Libretti unter falschem Namen und räumt ihm die Steine aus dem Weg.

Warum Berlioz ausgerechnet Offenbach an Wagners Seite sah

Die Partitur der Politsatire Barkouf ist in der Form ein Schritt zur großen Oper, in Ton und Text der Abschied von ihr. Selbst der Avantgardist Hector Berlioz verreißt sie ausführlich: »Ganz entschieden geht es verrückt zu in den Hirnlein gewisser Musiker. Der Wind, der durch Deutschland weht, macht sie wahnsinnig«. Damit stellt er Offenbach neben Richard Wagner, dessen Tannhäuser auf kaiserlichen Befehl in der Opéra geprobt wird. Große Teile der französischen Presse sehen Wagner an der Spitze einer musikalischen Invasion aus Deutschland. Doch Offenbach könnte keinem ferner sein in seinen Schnitten, Sprüngen, Blitzlichtern, seinem Witz. Er verspottet Wagners »Zukunftsmusik« sogar in einer Farce.

1864 erfassen die Liberalisierungen, zu denen sich Napoleon III. genötigt sieht, die Theaterszene: Nun darf auf jeder Bühne jedes Genre gespielt werden. Womit sich auch das prachtvolle Théâtre des Variétés für Offenbach öffnet. Hier feiert seine Parodie La belle Hélène Premiere, eine schrille Demontage jener Antike, die Berlioz in seinen Troyens ein letztes Mal beschworen hat. »La belle Hélène, das ist unsere Gegenwart, das ist unsere Gesellschaft, das sind wir [...], die keine Eltern, keine Freunde, keine Traditionen kennen«, jubelt ein Kritiker. Ein anderer wittert sogar einen »antideutschen und vollkommen pariserischen Sinn für die Kunst«.

Da gerät schon ein patriotischer Tonfall ins Lob der Modernität, für die Jacques Offenbach steht. Als Erster bringt er einen Bahnhof auf die Bühne und sogar eine Reise zum Mond. Selbst den Krieg, der sich am Horizont abzeichnet, macht er so funkelnd zur -Farce, dass sich die künftigen Kontrahenten allerbestens im Theater amüsieren. Während nämlich zur Pariser Weltausstellung 1867 eine monströse Kanone der Firma Krupp den gewichtigsten Beitrag aus den deutschen Landen darstellt, besuchen sowohl Napoleon III. als auch Preußens Ministerpräsident Otto von Bismarck La Grande-Duchesse de Gérolstein. In dieser irrwitzigen Militärparodie wird ein deutsches Fantasieländ-chen von einer Dame regiert, halb Salon-löwin, halb Säbelweib, zu deren Zerstreuung man einen Krieg vom Zaun bricht. Ein Märschlein nach dem andern springt aus dem Orchester wie aus einer Maschine, die nicht mehr zu stoppen ist. So wie die Produktion selbst, die monatlich 130.000 Franc einspielt – gut eine Million Euro.

In Bad Ems wird die Lunte zum nächsten Krieg entzündet

Die Lunte zum realen Krieg wird ausgerechnet dort entzündet, wo Offenbach sich gern von Paris erholt. Die Kurstadt Bad Ems ist seit Langem der Ort, an dem er Stücke testet, seiner Spielsucht frönt, Seitensprünge genießt und die Gicht zu lindern versucht. Als er im Sommer 1870 eintrifft, so schildert es Ralf-Olivier Schwarz in seinem kenntnisreichen Buch über Offenbach, befinden sich dort schon der Preußenkönig und Bismarck zur Erholung und lassen sich Offenbachsche Einakter gefallen – ehe sie Frankreichs Kaiser in die Falle locken: In Ems verfasst Bismarck jene provozierende Depesche, die Napoleon III. zur Kriegserklärung veranlasst und zum Untergang des Second Empire führen wird.

Der Krieg gegen Preußen endet mit der 132 Tage dauernden Belagerung von Paris, in deren Verlauf sogar Ratten, Katzen und Zootiere der Ernährung dienen müssen. Ihren Sieg krönen die Preußen und ihre Verbündeten am 1. März 1871 mit einem Marsch durch den Arc de Triomphe. Inzwischen ist Frankreich wieder Republik, doch tief gespalten. So folgt dem Trauma der Demütigung – mit fast 140.000 Kriegstoten auf französischer Seite – die »Blutwoche«: Eine Pariser Revolutionsregierung, die Commune, wird von den Regierungstruppen niedergekämpft, 20.000 Menschen verlieren das Leben.

Die Stadt, in die Offenbach im Frühjahr 1871 zurückkehrt, ist zutiefst verwundet. Zwar will man sich auch wieder vergnügen, und gleich drei neue Werke des bald 52-Jährigen werden an drei verschiedenen Theatern gespielt, doch manche sehen darin eine Fortsetzung der deutschen Invasion: »Offenbach hat sich vervielfältigt und fällt über uns her [...]. Platz für die unsrigen!« Ausgerechnet Georges -Bizet, dem er mit auf den Weg geholfen hat, will den »teuflischen Offenbach« bekämpfen. Über das beste der Stücke, das opulente Politmärchen Le Roi Carotte, schreibt Gustave Flaubert an George Sand, es sei »dumm und gehaltlos«. Es wird zwar ein Erfolg, doch der Komponist ist angeschlagen.

Als er 1873 das große Théâtre de la Gaîté übernimmt, beschimpft ihn ein Blatt als »preußischen Juden«, der »die ruhmreiche Armee lächerlich gemacht« habe. Dagegen hilft nur der unsinkbare Orphée aux enfers, aufs Format einer Grand Opéra verdoppelt, eine Orgie der Ausstattung. Auch arbeitet Offenbach weiter mit den Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy zusammen, mit denen er La belle Hélène und La Grande-Duchesse schuf. Doch die neuen Stücke finden keinen Anklang: »Es fällt uns nichts mehr ein«, notiert Halévy 1875. Dabei haben die beiden Librettisten gerade ein ganz anderes Stück auf die Bühne gebracht, Georges Bizets Carmen. Auch Offenbach fällt noch viel Gutes ein, doch seine große Zeit ist vorbei. Um die Kasse aufzubessern, nimmt der Komponist eine Einladung in die USA an.

Wie Offenbach 1876 Rassismus in den USA erlebt

Was er nach der Rückkehr in seinem Buch Offenbach en Amérique schildert, passt nicht ins verbreitete Bild vom eigentlich unpolitischen Künstler. Sechs Jahre nachdem die Afroamerikaner die Bürgerrechte erlangt haben, erlebt Offenbach einen Rassismus, der noch das 20. Jahrhundert prägen wird. »Omnibusse und andere öffentliche Fahrzeuge sind ihnen verboten. Die Theater dürfen sie unter keinen Umständen betreten, die Restaurants nur, um dort zu bedienen«, schreibt er – und fügt, an seine Leser gewandt, hinzu: »Sie denken vielleicht, allein den Negern seien die wünschenswerten Freiheiten versagt: Irrtum. Der Hotelier des Cataract-Hotels in Niagara hat in den großen Zeitungen folgende Notiz inseriert: ›Ab heute sind Juden aus meinem Hotel ausgeschlossen‹.«

Ist Europa besser? Die Leipziger Zeitschrift Puck zeigt Offenbach 1876 als Affen und schreibt dazu: »Der semitisch-musikalische-akrobatische Gorilla (Simia Affenbach)«. Offenbach wendet sich in seinen letzten Jahren einem anderen, früheren Deutschland zu, dem vergrübelten, geheimnisvollen Land, das Madame de Staël einst den Franzosen nahebrachte, die es in E.T.A. Hoffmanns Erzählungen wiederfanden. Diese Welt wird als Les Contes d’Hoffmann das Abschiedswerk Offenbachs, eine große Oper, deren Titelheld ein deutscher Dichter mit dem Habitus eines Pariser Bohemiens ist. Zur zweiten Probe in der Opéra-Comique muss man den Komponisten schon tragen, Gicht und Brustschmerzen plagen ihn. Am 5. Oktober 1880 stirbt er, 61 Jahre alt.

Letzten posthumen Triumphen folgt langes Vergessen auf beiden Seiten des Rheins. Es ist unter anderem dem Aufstieg derer geschuldet, die von Offenbach lernten – allen voran Johann Strauß. Doch auch Offenbachs Comeback seit den Zwanzigerjahren erfolgt zunächst unter gehobenen Augenbrauen, als habe man es mit einem Spaßmacher zu tun, dessen Cancan und Barcarole nicht totzukriegen sind. Erst seit Kurzem zählt man diesen Europäer verdientermaßen zu den Großen. Jacques Offenbach hat das Musiktheater seiner Zeit weit hinter sich gelassen, er hat das Zerbrechen der großen Erzählungen gespiegelt, den Dünkel jeglicher Autorität zerlegt. Seine Musik bevormundet nie; ihre Freiheit ist gegen Polarisierungen immun. Es könnte keine bessere Zeit geben, ihn wiederzuentdecken.

Dieser Text erschien am 13. Juni 2919 in der ZEIT, Ressort Geschichte, und ist urheberrechtlich geschützt. Illustration und Zwischentitel wurden für diese Website hinzugefügt

 

Spätzünder an der Seine

Eine Reise ins Paris der Jahre 1722 bis 1733, als Jean-Philippe Rameau vom unbekannten Provinzorganisten zum Erneuerer der französischen Oper wurde

Der Donner ist verklungen, Göttin Diana hat gesprochen. Die Priesterinnen sind ihr in den Tempel gefolgt, und Hippolyte führt seine geliebte Aricie zur Seite hinaus. Nun endlich ist die femme fatale alleine, Phèdre, die ihren Stiefsohn begehrt und gegen ihre Rivalin wütet. Phèdre wird an diesem Abend gegeben von Marie Antier, der 36-jährigen Sopranistin, die ihrerseits von nicht wenigen begehrt wird hier im Palais Royal, wo sich 600 Herren stehend im Parkett drängen, die Haare weiss gepudert und hinten in den modischen crapaud mündend, ein Samtsäckchen mit Schleife. Die Damen nebst weiteren Herren blicken und lauschen von den Logen aus, drei Reihen von Balkons bieten Platz für 550 Gäste, noch einmal 150 sitzen hinter den Stehplätzen im Parkett. karte paris 1729 Phèdre sieht keineswegs aus wie eine Gestalt aus ferner Antike. Während Hippolyte glänzenden Harnisch zur gepuderten Perücke trägt, tritt sie in ausladendem Reifrock, Puffärmeln und generös dekolletierter Corsage auf. Sie ist so aktuell gekleidet wie das Publikum, nur ein wenig spektakulärer. «Quoi! La terre et le ciel contre moi sont armés! Ma rivale est brave! Elle suite Hippolyte!» Mit Rivalitäten kennt man sich aus in diesem Theater, in dieser Stadt. Unvergessen, wie sich der Prince de Carignan vor fünf Jahren am steinreichen Le Riche de La Pouplinière rächte, nachdem der ihm seine Mätresse ausgespannt hatte – keine andere als Marie Antier, die zornbebende Phèdre dort im Licht, in Duft und Qualm von 24 Öllampen an der Rampe, 600 Kerzen hinter den Kulissenwagen, im warmen Schein, den elf Lüster im Saal verbreiten.

Sie sind heute mit Wachslichtern besetzt, nicht mit Talg – sofern Mitglieder des Königshauses anwesend sind bei dieser première représentation der Oper «von einem namens Ramau», wie Voltaire am nächsten Tag nachlässig notiert, Hippolyte et Aricie. Auch Voltaire ist dabei an diesem Donnerstagabend, womöglich in der Loge Carignans, mit dessen Sekretär François Berger er gute Verbindungen unterhält. Ja, Carignan! Er ist 43 Jahre alt, Generalinspekteur der Académie Royale de musique sowie Intendant aller höfischen Zeremonien und Bankette, ein vermögender Aristokrat, an dem keiner vor beikommt, der an diesem Haus reüssieren will, in den der erst 23 Jahre alte König Louis XV. sein ganzes Vertrauen setzt, wenn es um die Oper geht, um die tragédie lyrique.

Diesem Mann also hatte ein anderer die Sopranistin ausgespannt, Alexandre Le Riche de La Pouplinière, als fermier-général ein Steuereintreiber in königlichem Auftrag. Carignan, am längeren Hebel sitzend, hatte dafür gesorgt, dass der Rivale für drei Jahre in die Provinz verbannt wurde. Doch nun ist der wieder in Paris und führt ein grosses Haus nur ein paar Schritte vom Palais-Royal entfernt in der modischen Rue Neuve des Petits-Champs. Auch er liebt die Künste. Dass allerdings die erste Oper des Jean-Philippe Rameau in seinem Haus zuerst erprobt worden sein soll, im Frühjahr 1733, ist nicht belegt und nicht wahrscheinlich – erst zwei Jahre später wird er Rameaus wichtigster Mäzen.

Eine Kürzung verbittert ihn jahrzehntelang

Der Komponist leitet die Uraufführung nicht selbst, das tut François Francœur, einer der 24 violons du roi und an diesem Abend auch batteur de mesure, Taktschläger. Aber natürlich hat Rameau an den Proben teilgenommen und zu seinem Leidwesen feststellen müssen, dass die raffinierte Enharmonik im zweiten Trio der Parzen die Sänger überforderte – man musste die Passage für diese Produktion streichen, denn das Publikum «urteilt oft nach dem ersten Eindruck, ohne zu überprüfen, ob der wahrgenommene Fehler auf die Ausführung oder auf die Sache selbst zurückgeht.» So schreibt es Rameau 1737 in seiner Génération harmonique, und noch 27 Jahre nach der Pariser Premiere kommt er voller Bitterkeit auf die Kürzung dieser Takte zurück.

Die Proben mit ihm können nicht bequem gewesen sein. Er ist anspruchsvoll, ernst und streng bis zur Unhöflichkeit, und das bei einem, der so «baroque» schreibt, wie später sich einmal ein Geiger beschwert, so bizarr also: «Sie haben mir gestern gesagt, ich verstünde mein Handwerk nicht, da ich Ihre Musik nicht auszuführen wisse. Ich könnte antworten, dass Sie das Ihre nicht verstehen, da Sie nichts machen als eine barocke Musik, die unmöglich auszuführen ist.» Im Herbst 1733 aber, mit dem Orchester der Académie Royale, kann es sich Rameau noch nicht leisten, Musiker zu beleidigen. Hippolyte et Aricie ist sein Debüt im Genre der Oper – das Debüt eines Mannes von immerhin fünfzig Jahren in einer Zeit, da ein Mann jenseits der vierzig bereits als ausgelebt gilt.

Erst 1722 hat er sich in Paris niedergelassen, endgültig, nach einem Intermezzo als Organist im Jesuitenkolleg an der Rue St. Jacques, das schon lange zurückliegt. Kaum etwas in seinem Werdegang deutet darauf hin, dass er einer der wichtigsten Komponisten der französischen Oper werden könnte. 1683 geboren, zwei Jahre vor Bach und Händel, siebtes von elf Kindern eines Domorganisten in Dijon, begabt, kein Wunderkind, hat er den Beruf des Vaters gewählt und in Städten ausgeübt, die Parisern als Provinz gelten: Lyon, Avignon, Dijon, Clermont. Eine erste Sammlung von pièces de clavecin, 1706 in Paris erschienen, hat ihn nicht berühmt gemacht. Und dann taucht er, 38-jährig, gleichsam mit einem Buch unter dem Arm wieder an der Seine auf, seiner just gedruckten, 450 Seiten dicken Abhandlung Traité de l’harmonie.

Paris ist in diesen Jahren eine Stadt von etwa 500.000 Einwohnern, die sich auf gerade einmal 15 Quadratkilometern drängen – das sind gut 33.000 Menschen pro Quadratkilometer in bis zu 25 Meter hohen Bauten an engen Strassen, in denen der Gestank der Senkgruben stockt, fern jener Gärten, die der Maler Watteau mit Rendezvous von flirrender Erotik belebt hat. Die Stadt reicht von der Bastille im Osten bis zu den Tuilerien im Westen, vom heutigen Boulevard des Italiens im Norden bis etwa zum Südende des Jardin du Luxembourg. Diesem nah ist die foire Saint-Germain, in jedem Jahr von Februar bis Ostern Tummelplatz von Händlern, Gauklern und Theaterleuten, die für einen Platz nicht mehr als fünf Sous nehmen, ein Euro, knapp unter dem minimalen Tages verdienst eines Arbeiters. Es wimmelt von Menschen in diesen Hallen, man findet alles, Gemüse, Fleisch, Wein, Stoff, Schmuck, dressierte Affen, Feuerspucker, Seiltänzer und eben die kleinen, temporären Bühnen, die von den priviligierten Theatern der Stadt scharf und eifersüchtig beobachtet werden.

Zuerst schreibt er Popmusik für Marktbühnen

Denn nur die Académie Royale de musique darf vollständig gesungene Werke nebst Ballett zeigen, nur die Comédie-Française und die Comédie-Italienne – wo der Liebespsychologe Marivaux erste Erfolge feiert – dürfen sich dem Sprechtheater widmen. Ihrerseits nicht subventioniert, lassen sich diese Häuser von den Marktkünstlern die Lizenz bezahlen, Genres zu vermischen. So entsteht die Opéra-comique, immer neuen Bremsmanövern ausgesetzt. Jüngste Bedingung anno 1722: Zu Instrumentalisten, Marionetten und Tänzern darf nur ein Akteur kommen. Rameaus literarischer Freund Alexis Piron, abgebrochener Jurist aus Dijon, macht aus der Not einen Hit und ersinnt eine Harlekinade mit ungeheurem Erfolg. Für ein nächstes Stück lässt er den frisch zugereisten Freund Rameau die Arien einer gewissen Grazinde schreiben. Der gelehrte Organist beginnt seine Bühnenlaufbahn als Komponist von Popmusik.

Weitere Produktionen folgen, auch Tanzmusiken für die Comédie-Italienne, Rameau hat Blut geleckt: «Für die Bühne sollte ein Musiker gefunden werden», schreibt er 1727 einem potentiellen Librettisten, «der die Natur studiert hat, ehe er sie malt, und der, durch seine Wissenschaft, die Farben und die Nuancen zu wählen weiss, von denen sein Geist und sein Geschmack ihn spüren lassen, wie sie mit dem nötigen Ausdruck zu verbinden sind. Ich bin weit entfernt davon zu glauben, dass ich dieser Musiker sei, aber …» Soll heißen, wie der Rest des Briefes zeigt: Natürlich ist er dieser Musiker! Zum späten Anlauf motiviert den mittlerweile 44-Jährigen zweifellos auch, dass soeben Claude-François als erstes Kind seiner jungen Ehe zur Welt gekommen ist: 1726 hat Rameau seine erst neunzehn Jahre alte Klavierschülerin Marie-Louise Mangot geheiratet, die als exzellente Sängerin auch sein Gespür für Stimmen verfeinert.

Und die Zeit ist für neue Impulse in der Oper tatsächlich nicht schlecht. 1728 endet nach knapp vier Jahrzehnten die Ära des Jean-Nicolas Francine, einem Schwiegersohn des legendären Jean-Baptiste Lully. Seit dessen Tod 1687 hat Francine, selbst kein Musiker, sondern Unternehmer und Lebemann, die Académie Royale geleitet, enorme Schulden aufgehäuft, und doch – mit einer Unterbrechung von sieben Jahren – einen Herrscher nach dem anderen für sich einzunehmen gewusst. Den Sonnenkönig zuerst, Louis XIV., sodann Philippe d’Orléans, Regent anstelle des noch unmündigen Louis XV., und weitere Politiker – nebst deren einflussreichen Mätressen –, die dem erst 1710 geborenen König seine Entscheidungen abnehmen, einschliesslich der für eine Gemahlin, die das biologische Fortbestehen der Bourbonen garantieren kann.

Für das Fortbestehen der Oper verlässt man sich bis zum Ende der 1720er vor allem auf Werke von Lully. Wann immer eine neue tragédie lyrique an der Kasse scheitert, wird ein Lully herausgeholt und neu aufgeputzt; das Œuvre dieses Grossen beansprucht 30 bis 60 Prozent des Spielplans, während die alten Schulden den Betrieb belasten: 300.000 Livres, etwa sechs Millionen Euro. 1730 wird Prince de Carignan zum Generalinspekteur der Oper ernannt, und nach einigen personellen Fehlschlägen findet er den passenden Operndirektor in der eigenen Entourage. Der König erteilt Eugène de Thuret das Privileg – also eine Mischung aus Geschäftsführung und Intendanz. Thuret, unehelicher Sohn des Eugène de Savoie, ist ein Regimentskapitän. Und tatsächlich kommt mit ihm die schlingern de Académie endlich auf Kurs. Die elf Jahre seiner Direktion, von 1733 bis 1744, fallen zusammen mit dem steilen Aufstieg Rameaus.

Der Weg in die Zukunft führt durch die Unterwelt

Er muss beizeiten dem Prinzen Carignan aufgefallen sein, nicht nur als zunehmend begehrter Klavierlehrer. Catherine Le Maure, eine der besten Sopranistinnen der Zeit, singt 1728 seine Kantate Le Berger fidèle – gleichsam eine Kurzoper. Im selben Konzert tritt auch der geniale Violinist und Komponist Jean-Marie Leclair auf, dessen Frau, eine Notenstecherin, vier von Rameaus Kantaten für die Publikation vorbereitet. Dieser Sammlung folgen zwei Kollektionen von Klavierstücken. Als 1732 das zweite Kind der Rameaus zur Welt kommt, Marie-Louise, hat sich der Komponist wohl schon mit dem Librettisten seiner ersten Oper zusammengetan. Dieser wendige Abbé Pellegrin, bald 70, kennt in Paris alle und jeden und hat für jegliches Genre geschrieben, auch für die Markttheater, wo Rameau ihm vielleicht zuerst begegnete.

Klug wählt man ein Sujet, das dem Publikum durch Jean Racines Tragödie Phèdre et Hippolyte von 1677 bekannt ist. Dessen Kernmotive übernimmt Pellegrin, holt aber das junge Paar Hippolyte und Aricie in den Vordergrund und lässt den jungen Helden am Ende nicht sterben – ohne freilich auf das Meeresungeheuer zu verzichten, das bei Racine den Tod Hippolytes herbeiführte. Während Rameau dieses Spektakel in nur siebzehn Takten abhandelt, wird im zweiten Akt der Gang des Theseus in die Unterwelt zum Weg in die Zukunft der Oper: Verdichtet in Dramaturgie, Struktur und Harmonik bis hin zu jenen enharmonischen Passagen, die sich in verblüffender Nähe eines Zeitgenossen bewegen, von dem Rameau so wenig weiss wie der von ihm, des Leipziger Thomaskantors Bach. Wie jener ist Rameau ein Neuerer nicht, indem er neu beginnt, sondern Traditionen auf neue Ebenen bringt.

Die Energie, das Glühen und Funkeln gerade dieser Partitur hat vielleicht auch damit zu tun, dass den Komponisten noch kein Betrieb, keine Theaterroutine abgeschliffen hat. Und so, wie sein Freund Alexis Piron ihn schildert, hält sich Rameau auch dem Pariser Trubel fern. Gern treffen sich beide vormittags um elf in den Tuilerien, wenn dort kaum jemand sonst unterwegs ist. Meist erkennt Rameau den kurzsichtigen, nach der Lorgnette greifenden Piron eher als dieser ihn, der von fern aussieht «wie eine Orgelpfeife ohne Blasebalg» – dass der Komponist ausserordentlich hochgewachsen, mager und blass war, bestätigen alle, die ihn beschrieben. Über Persönliches spricht er nie, über Musik um so mehr: «Seine ganze Seele, sein ganzer Geist war in seinem Cembalo». Er ist keiner der Männer von Welt, die täglich zehn Salons besuchen.

Das Image eines gelehrten Musikers hat vielleicht auch Voltaire im Sinn, als er am Tag nach der Uraufführung über «Ramau» schreibt, dieser Mann habe «das Unglück, mehr über Musik zu wissen als Lully. Er ist ein musikalischer Pedant. Er ist exakt und langweilig.» Das Publikum ist allerdings so angetan, dass Hippolyte et Aricie 32 Mal in Folge gespielt werden kann. Für Rameau ist das auch finanziell erfreulich, denn den Opernautoren werden für jede der ersten zehn Vorstellungen je 100 Livres und für die nächsten 20 je 50 Livres gezahlt. Damit kommt er auf 2.000 Livres, etwa 40.000 Euro. Dass sich nach und nach eine gegnerische Fraktion von «Lullisten» formiert, denen er zu komplex komponiert, macht ihn nur interessanter, auch für Voltaire, der nun sein Librettist werden möchte. «Ihre Musik ist bewundernswert», schreibt er ihm im Dezember 1733, «doch eben das schafft Ihnen Feinde, und grausame Feinde. Ich müsste weniger haben als sie, wäre ihre Anzahl proportional zum Talent.»

Der Mehrheit der Pariser dürften solche ästhetischen Diskussionen so fern sein wie der Mond. Schon ein Programmheft der Académie Royale kostet mit 30 Sols soviel, wie ein Handwerker oder Arbeiter maximal in zwei Tagen verdient. Für eine einzige der 132 grossen Wachskerzen, die den Saal zur Premiere erleuchten, müsste er eine ganze Woche arbeiten, auf gut 200 Livres kommt er im Jahr. Marie Antier hingegen, die Phèdre des Abends, kann es auf alles in allem 12.000 Livres an realen Jahreseinnahmen bringen, immerhin das halbe Einkommen eines der Gentilhommes de la Chambre, der Staatsminister, die sie aus ihren Logen lorgnettieren. Wie sie aber klagt, was sie singt, als sie erfährt, ihr geliebter Hippolyte sei tot, wie Verzweiflung und Schuldbewusstsein sie in den Selbstmord treiben – diese existenziellen Töne werden weit über die elitären Gäste am 1. Oktober 1733 hinaus dringen. «Musique d’un caractère neuf», so fasst es der Mercure de France zusammen. «Die günstige Aufnahme, die das Publikum dieser Oper erwies, lässt zahlreiche Aufführungen erhoffen.» Dieser Text erschien im MAG 69 der Oper Zürich, Mai 2019, und ist urheberrechtlich geschützt. Illustration: Nouveau Plan de Paris, 1728, Ausschnitt

Sprengsätze, Abrissbirnen, Wut im Bauch

1968 ist eines der finstersten Jahre der Leipziger Geschichte. Das Gewandhaus und die Unikirche werden gesprengt, Gewandhauskapellmeister Vacláv Neumann reist ab ins besetzte Prag. Die Mitschnitte seiner letzten Konzerte lassen sich wie Kommentare zur Zeit hören. Eine Erkundung, gemeinsam mit Augenzeugen

Er steht oben hinter einem der Fenster des Opernhauses, als es passiert. Er weiß, dass es passieren wird, die Uhrzeit stand in der Zeitung: 10 Uhr. Darum hat er einen Fotoapparat dabei, der 30-jährige Oboist Klaus-Peter Gütz. Es ist der 30. Mai 1968, ein Donnerstag. „Es war nicht laut“, erinnert er sich, „das Fenster war geschlossen. Ein Wumms, ein dumpfer Wumms, und die sackte in sich zusammen, der Turm kippte zur Seite, und das war´s. Eine große Staubwolke stieg auf.“ Siebenhundertachtundzwanzig Jahre lang hat die Kirche gestanden, kein Krieg hat sie schlimm beschädigt, nicht der Dreißigjährige und nicht der Zweite Weltkrieg. Ein Juwel des Mittelalters für Jahrhunderte. Zu Ostern hat Gütz hier noch die Matthäuspassion mitgespielt, deren Komponist auch häufig in dieser Kirche musizierte. Bach, der in dieser Geschichte öfters vorkommt.

unikirche

Siegfried Pank, 32 Jahre alt, seit sechs Jahren Cellist im Gewandhausorchester, steht draußen, weit draußen, als die Universitätskirche St. Pauli gesprengt wird. „Es war wahnsinnig abgeschirmt, mit einer Barrikade von Straßenbahnen auf der Ostseite des Platzes. Kein Durchkommen, Polizei mit Motorrädern. Eine Riesenmenge von Leuten hatte sich in Richtung Grassiplatz versammelt. Wir waren soweit entfernt von der Wand aus Straßenbahnen, dass wir drüber weg sahen. Ich habe gesehen und gehört, wie die Kirche zusammenfiel.“ Zuvor hat er gemeinsam mit anderen eine Woche lang schweigend auf dem Platz demonstriert, an jedem Abend versammelten sich „mehr als hundert Menschen, viele von der theologischen Fakultät, ohne Transparente und Rufe. Es war gespenstisch. Stasi war da, Hunde waren da, Leute wurden abgeführt.“

Ein Requiem vor der Zertrümmerung

1968 ist eines der bewegtesten, dramatischsten und blutigsten Jahre der internationalen Geschichte. In Leipzig, wo bereits im März auch das alte Gewandhaus in Trümmer gelegt wird, ist es eines der finstersten, und durch eine sonderbare Koinzidenz wirken zwei Programme, die das Gewandhausorchester in diesem Jahr spielt, wie Vorworte oder Kommentare zum Geschehen, eines mit dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms, eines mit der Fünften Sinfonie von Ludwig van Beethoven. Es sind Konzerte im März und im Mai, von denen sich herausstellt, dass es die letzten unter der Leitung des 47-jährigen Gewandhauskapellmeisters Václav Neumann gewesen sein werden, der im August noch die Premiere von Leoš Janáčeks Jenůfa dirigiert und dann abreist in jene Stadt, von der zu Beginn des Jahres soviel Hoffnung ausging: Prag.

Was in Prag und in der Tschechoslowakei geschah, hat auch viele DDR-Bürger begeistert, die unter Walter Ulbrichts repressivem Kurs leiden. Am 4. Januar ist der restriktive Antonín Novotný als Parteichef von Alexander Dubček abgelöst worden. Der schlägt den Weg zu einem demokratischen Sozialismus ein, zu Pluralismus und Meinungsfreiheit, und das bemerken auch die Gewandhausmusiker, die im März mit einer tschechischen Maschine zu Konzerten nach Bulgarien unterwegs sind. „Wir haben an Bord beliebige Westzeitungen lesen können“, sagt Siegfried Pank, „in einer Ostmaschine! Das war unglaublich.“ Unglaublich war aber auch, was im selben Monat in Leipzig geschehen sollte, noch ehe die Paulinerkirche in Trümmer sank. Wie eine grausige Ouvertüre dazu mutet der Abriss des alten Gewandhauses an.

Die „Westzeitung“ Frankfurter Allgemeine brachte schon am 15. März ein Foto mit Baumaschinen vor der Rückfassade jenes Baues, der 1884 als „Neues Concerthaus“ eröffnet worden war und den Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg schwer, aber keineswegs irreparabel beschädigt hatten..Allein bis zum Sommer 1948 sind weltweit 85.000 Deutsche Mark für ein Notdach gesammelt worden; das Orchester spielt im Exil der Leipziger Kongresshalle. Als dort am 20. März 1968 Neumann den Einsatz zu Brahms´ Requiem gibt, weiß man, dass die Tage des alten „neuen“ Hauses gezählt sind. Freilich auch, weil Gewandhausdirektor Karl Zumpe und Orchestervorstand der Stadt im Jahr zuvor selbst erklärt haben, der Bau sei für das Orchester zu klein und möge nach seiner Reparatur den zerstörten Saal der Musikhochschule ersetzen.

Neun Tage bleiben noch, bis Sprengsätze und Abrissbirnen der sozialistischen Stadterneuerung das Symbol des Leipziger Bürgerstolzes pulverisieren werden – 32 Jahre, nachdem die davor stehende Statue des Gewandhauskapellmeisters Felix Mendelssohn von den Nazis eingeschmolzen worden ist.

Die Pauke als Abrissbirne

Neumann wählt für den Beginn, für „Selig sind, die da Leid tragen…“ ein so breites Tempo, als wolle er der bürgerlichen Tradition den Raum schaffen, den man ihr in der Realität nimmt – so kann es einem, die Situation mitdenkend, vorkommen, zumal Neumann bei anderen Gelegenheiten nicht zum Pathos neigte. Doch der Eindruck besonderer Schwere entsteht mehr noch durch den Klang des Monomitschnitts, durch dessen Basslastigkeit und Dichte – und durch den expressiven Nachdruck im Klang. Das merkt man selbst im Vergleich mit Aufnahmen von Karajan 1947 oder Gardiner 2008, die beide noch hinter Neumanns Metronomzahl 62 zurückbleiben. Bei der Bremer Uraufführung am 10. April 1868 wird Brahms wohl jenes Tempo 80 dirigiert haben, das in der Leipziger Erstausgabe steht, ebenso Carl Reinecke, der zehn Monate später die erweiterte Fassung mit Gewandhauschor und -orchester aufführte. Die „68er“ des19. Jahrhunderts waren rasanter und progressiver, als wir uns das denken.

Daran ist Neumann jedenfalls nicht interessiert. Die Freudenrufe des Chores treten schwer auf der Stelle. In „Alles Fleisch, es ist wie Gras“ steuert Brahms dann das andere Extrem an. So langsam, so trauermarschmässig wagt es Neumann nicht zu dirigieren, so leise auch nicht. Dafür kommt es zu fast katastrophischen Ballungen im Orchesterzwischenspiel, in denen, sarkastisch gesagt, die Pauke fast zur Abrissbirne wird. Ein völlig anderes Licht bekommt die bis dahin lastende Atmosphäre, als der Bassist Hermann Christian Polster einsetzt. 30 Jahre alt ist er zu dieser Zeit, er singt mit einer singulären Mischung aus Textklugheit und vokaler Reinheit, Emphase und nüchternem Weitblick. Diese Stimme, diese Konzeption wäre besten Produktionen des Jahres 2018 gewachsen. Sie lässt auch Brahms als „Fortschrittlichen“ insofern erkennen, als man die Basspartie schon in der Nähe eines Strauss´schen Jochanaan erlebt.

Sopranistin Elisabeth Breul, nur acht Jahre älter, ist stilistisch der Generation Schwarzkopf näher, Klangfärbung und Worte mit einer gewissen, weniger intellektuellen als rollenhaften Distanz modellierend, nicht so hellwach unmittelbar. Der Chor des Gewandhauses klingt undifferenziert. Ob er sogar zum Brüllen neigt, kann ein Mitschnitt wie dieser nicht offenlegen, bei dem neben den Solisten am klarsten einzelne Pulte der Streicher (mit wunderbaren Bratschen übrigens) zu hören sind. Eine Zeitungskritik moniert die mangelnde Transparenz dank der „Mammutbesetzung“ des sitzenden (!) Chores, eine andere beklagt, Neumann habe die Sänger zu wenig geführt. Das könnte stimmen. Unverbindlich klingt dieser Abend nicht, vielleicht spiegelt er auch eine deprimierende Situation – aber nicht auf so zwingende Weise wie etwa 1942 Furtwänglers Berliner Neunte. Erwarten wir, rückblickend, zuviel?

Nur acht “Genossen” im 173-Musiker-Ensemble

„Neumann“, sagt der Flötist Karl-Heinz Passin, Jahrgang 1939, „wollte viel, hat sich aber nicht durchsetzen können. Er war vielleicht zu angenehm für ein so großes Orchester.“ „Er war ein besonderer Dirigent,“ sagt Siegfried Pank, „geistig und politisch völlig integer und sensibel.“ Er vergisst es diesem Chef nicht, dass er ihm, dem als politisch kritisch aufgefallenen Cellisten, die Leitung des Jugendclubs übertrug, mit dem junge Hörer für das Orchester gewonnen werden sollten: „Eine Signalentscheidung!“ Einig sind sich alle Befragten, dass das 173-Musiker-Ensemble gerade in repressivster Ulbricht-Zeit einen „großen Freiraum“ bot, wie Oboist Gütz sagt. „Wir sind offen miteinander umgegangen“, meint Flötist Passin. „Von allen Musikern waren nur acht Parteigenossen“, sagt Cellist Pank. „Darin spiegelt sich die innere Verfassung wider.“

Aber diese Musiker, die natürlich auch als im Westen konzertierende Devisenbringer einen Sonderstatus hatten, konnten nicht die Zerstörung ihres alten Saales am 29. März verhindern und schon gar nicht die von langer Hand vorbereitete Beseitigung der gotischen Paulinerkirche. „Solche Helden waren wir ja auch nicht“, sagt Karl-Heinz Passin, und Siegfried Pank erläutert: „Die Angst war in den Sechzigern größer als in den Achtzigern.“ Speziell in Leipzig, wo der Bezirksparteichef Paul Fröhlich hieß, Jahrgang 1913, Mitglied des Politbüros, gelernter Koch und knallharter Dogmatiker, der sich schon 1953 mit einem eigenmächtigen Schießbefehl gegen Aufständische profiliert hatte und als Kronprinz von Walter Ulbricht gehandelt wurde. Beim Umbau Leipzigs zur „sozialistischen Großstadt“, zu dem die Neugestaltung des Karl-Marx-Platzes gehörte, war besonders Fröhlich der sakrale Bau ein Dorn im Auge.

Schon Anfang 1964 erklärte ein Ratsmitglied intern, „dass die Kirche weichen muss“. Als das durchsickerte und Thema in westlichen Medien bis hin zu Tagesschau und Times wurde, dementierte die Leipziger Volkszeitung polemisch: „Was sie schreiben, sind elende Phrasen.“ Der Leipziger Kinderarzt Christoph Richter wandte sich unerschrocken an Fröhlich selbst: „Natürlich haben Sie die Macht, gegen das Volk Ihre Pläne zu verwirklichen.“ Stünde an Stelle der Kirche ein „Karl-Marx-Mausoleum“, wäre es sicher nicht bedroht. Der Politiker antwortete höhnisch auf das, was er „Froschperspektive von Demokratie“ nannte, und setzte sich, kurz gefasst, in den nächsten Jahren über alle Einwände seitens der Kirche, der Universität, des Denkmalschutzes hinweg.

Am 16. Mai 1968 kommt im Leipziger Rathaus eine Versammlung aller Beteiligten zusammen, Mitglieder der SED wie der Ost- CDU, Vertreter der Universität, Ratsherren, Oberbürgermeister Kresse, Bezirksparteichef Fröhlich. Ein einziger artikuliert seine Ablehnung gegenüber einem Abriss der Kirche: Ernst-Heinz Amberg, Dekan der Theologischen Fakultät. Am selben Tag stimmen die Gewandhausmusiker ihre Instrumente für das 20. Anrechtskonzert der Saison. Vaclav Neumann wird die Euryanthe-Ouvertüre von Carl Maria von Weber dirigieren, das Concerto für Streichquartett und Orchester des Tschechen Bohuslav Martinů, und nach der Pause die Fünfte, zu der Beethoven im Programmheft zitiert wird: „Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen.“

Das Orchester rastet aus

Es wird zunächst eine recht unentschlossene Aufführung dieser einst bahnbrechenden, später vor allem in Deutschland oft auf „Kampf“ und „Schicksal“ reduzierten Sinfonie. Im Tempo bleibt man weit unter den Metronomangaben des Komponisten, die zu dieser Zeit ohnehin nur zwei von hundert Dirigenten ernst nehmen. Zwischen zahlreichen Ungenauigkeiten erfreut einen das Oboensolo. Doch aus einer nur achtbaren Allerwelts-Fünften gerät das Gewandhausorchester im Verlauf des extrem langsamen “Andante con moto” heraus. Dass es mit 74 Achteln pro Minute eher ein senza moto wird, ist an der Stelle völlig überzeugend, an der die leisen Es-Dur-Septakkorde der Streicher förmlich stillstehen und eine menschenleere Weite erzeugen, in die sich Klarinette und Fagott mit zerbrechlichen Linien tasten

.Das andere Extrem erlebt man im Finale – diesmal sogar in Beethovens Tempo 84 pro Halbe, wenn auch ohne Wiederholung der Exposition. Es ist existentiell, ungeschönt, unschön im guten Sinne, weit entfernt vom üblichen Ad-astra-Triumph. Das Orchester rastet aus, fast wütend. Da klirrt in den Geigen auch mal eine E-Saite, und die Piccoloflöte, zur Uraufführung in einer Sinfonie eine Novität, klingt mehr nach Verzweiflung als nach Sternenfunkeln. Flötist Karl-Heinz Passin weiß nicht mehr, ob er in diesem Konzert dabei war. Er weiß aber von Václav Neumann noch, dass der, so fein und angenehm er war, große Energien mobilisieren konnte: „Dann ging was los!“ So etwas geschieht in diesem Finale. Was bedeutet es, in so bedrückten Zeiten solche Werke zu spielen? „Zum Glück gibt es Musik“, sagt Siegfried Pank. „Gerade solche Zustände werden nur ertragbar, weil es Musik gibt.“

Bach? Sofort aufhören!

„Ein schreckliches Jahr, ein fürchterlicher Wonnemonat Mai“, schreibt Erich Loest im Roman Völkerschlachtdenkmal, ehe er zornbebend die Leipziger Stadtverordnetenversammlung vom 23. Mai schildert. Sie beschließt mit einer Gegenstimme die Sprengung. Die ist indessen längst vorbereitet, denn am 5. Juni beginnt in Leipzig der Internationale Bach-Wettbewerb. Dessen Gäste sollen nicht vor den Trümmern einer Kirche stehen, in der Johann Sebastian selbst die Orgel spielte, prüfte und lobte. Von Johann Scheibe 1716 vollendet, ist sie in bestem Zustand. Kurt Grahl, ein Orgelstudent, schafft es am 24. Mai auf die Empore, während schon die Bohrer dröhnen: Loch um Loch wird für die Sprengladungen gebohrt, teils mitten durch die Epitaphe hindurch, Gräber sind aufgebrochen. Maisonne scheint durch Staubwolken, und Grahl zieht alle Register. Bach, Toccata C-Dur. Eine apokalyptische Szene. Bis zur dritten Seite kommt Grahl, dann erscheinen drei Herren und brüllen: „Sofort aufhören!“

„Sagen Sie bloß, da ist eine Orgel drin?“, soll Hermann Henselmann gesagt haben, der mit der Neugestaltung des Platzes beauftragte Architekt des “Uni-Riesen“. 24 Stunden bleiben, um wenige Teile des Instruments zu retten.Am Mittwoch, 29. Mai, sieht es aus, als würde das Gebäude geschmückt. Aber die Nadelbäume, dicht an dicht an die Mauern gestellt, sollen die Wirkung der Sprengung zum Platz hin dämpfen, der abends vollständig gesperrt wird. Fotos zeigen Passanten, viele stehend, mit tristen Gesichtern. Wer nicht wusste, was ansteht, hat es an diesem Tag aus der Zeitung erfahren. Doch kaum einem dürften die stillen, immer größer werdenden Demonstrationen entgangen sein. 400 Personen zählte die Stasi am 27. Mai, tags drauf wurden Wasserwerfer und Hunde eingesetzt, Teilnehmer „zugeführt“. Rolf Reuter, Generalmusikdirektor, versucht bis zum letzten Tag, Verantwortliche in der Stadt umzustimmen.

Doch das bleibt der Widerstand einer kleinen Minderheit. Zuviele Bürger hier können sich noch an 1953 erinnern; man hat Angst und auch noch andere Sorgen, man resigniert. Und man sieht sich vom Westen im Stich gelassen. „Die Bundesrepublik war voll mit sich selbst beschäftigt“, sagt Siegfried Pank. Nach den Kaufhausbrandstiftungen durch die RAF, nach den Unruhen, die dem Attentat auf Rudi Dutschke folgten, will die Große Koalition unter Kanzler Kiesinger die Grundrechte einschränken, Kontrollmöglichkeiten verstärken. Gegen diese „Notstandsgesetze“ demonstrieren Zehntausende. Am 30. Mai werden sie dennnoch im Bundestag beschlossen, dem Tag, an dem in Leipzig eine Kirche in sich zusammenfällt. Welt, Frankfurter Rundschau und Süddeutsche setzen ihre Leser über die Sprengung mit einer Meldung von sechzehn Zeilen in Kenntnis.

Die Hoffnung stürzt ab

Der Cellist folgt auf seinem Fahrrad den Lastwagen nach Probstheida, wo die Trümmer in einer Sandgrube entsorgt werden. Zweimal macht er das, obwohl der Platz bewacht wird. Teile von Gewölben stopft er in den Rucksack, eine Holzsäule vom Emporengeländer, zerdrückte Orgelpfeifen. „Sollte es die Universität mal schaffen, eine Gedenkecke einzurichten, gebe ich ihnen das.“

Weder Pank noch seine Kollegen Gütz und Passin sind dabei, als am 20. Juni 1968 der dritte Internationale Johann-Sebastian-Bach-Wettbewerb endet. Anwesend ist aber wiederum Kurt Grahl. Der 21-jährige Organist hat einen Preis für Improvisation errungen und wartet auf dem Podium in der Kongresshalle mit den anderen Preisträgern. Pianisten wie Valeri Afanasjew, Ivan Klansky, Jewgeni Koroljew sind dabei, die Geiger Oleg Kagan und Christian Funke. Auf einmal schwillt der Applaus an und will nicht enden, obwohl gerade niemand vorn steht. Eilig winkt man Krahl zur Preisvergabe, aber das Publikum interessiert sich nicht für ihn. Der Applaus gilt einem gelben Plakat, das sich wie von selbst über der Bühne entrollt hat: „Wir fordern Wiederaufbau!“ steht darauf, versehen mit dem Umriss der Unikirche.

Zwei junge Physiker haben es hineingeschmuggelt, mit einem Wecker für den Auslösemechanismus. Sie fliehen danach mit einem Faltboot über das Schwarze Meer in die Türkei. Der Protest, vor aller Welt entrollt, Jahrzehnte vor vergleichbaren Greenpeace-Aktionen, ist eine Sensation, „ein Ereignis, das wieder Hoffnung brachte“, erinnert sich Siegfried Pank. Doch die Hoffnung stürzt ab, als in der Nacht zum 21. August Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei einmarschieren, um den „Prager Frühling“ zu beenden.

Während am Tag danach in London die Beatles erstaunlich passend Back in the U.S.S.R. aufnehmen, haben in Leipzig die Orchesterproben für Jenůfa begonnen. Klaus-Peter Gütz spielt nun erstmals unter der Leitung von Václav Neumann. „In einer Probe hat er gerufen: Mein Sender sagt, es ist eine Okkupation!“ Karl Kayser, linientreuer Generalintendant der Leipziger Theater, sei darüber außer sich vor Wut gewesen. „Er hat nach der Premiere hinter der Bühne die Blumen für Neumann zertreten.“ Da hat der Dirigent schon beschlossen, seinen Posten zu quittieren und nach Prag zurückzukehren. „Jenůfa“, sagt Karl-Heinz Passin, „war ein großer Höhepunkt. Er hat mit Wut im Bauch dirigiert. Wir haben an dem Abend alle gespürt, es ist seine letzte Vorstellung.“ „Nach seinem Weggang“, sagt Siegfried Pank, „wurde alles eliminiert, was an ihn erinnerte.“ Ein Büchlein über das Orchester, auf dessen Titelfoto man Neumann sah, wurde eingestampft, „danach existierte er nicht mehr als Gewandhauskapellmeister.“

Ein Licht sieht der jetzt 82 Jahre alte Cellist und Gambist im finsteren Jahr 1968 aber doch: „Unser Protest damals, das war die Vorübung für 1989.“

Dieser Text entstand für die Nr. 100 des Gewandhausmagazins, erschienen im September 2018. Den Urheber des Fotos von der Sprengung der Unikirche – Quelle: Internet – konnte ich nicht ermitteln.