Sprengsätze, Abrissbirnen, Wut im Bauch

1968 ist eines der finstersten Jahre der Leipziger Geschichte. Das Gewandhaus und die Unikirche werden gesprengt, Gewandhauskapellmeister Vacláv Neumann reist ab ins besetzte Prag. Die Mitschnitte seiner letzten Konzerte lassen sich wie Kommentare zur Zeit hören. Eine Erkundung, gemeinsam mit Augenzeugen

Er steht oben hinter einem der Fenster des Opernhauses, als es passiert. Er weiß, dass es passieren wird, die Uhrzeit stand in der Zeitung: 10 Uhr. Darum hat er einen Fotoapparat dabei, der 30-jährige Oboist Klaus-Peter Gütz. Es ist der 30. Mai 1968, ein Donnerstag. „Es war nicht laut“, erinnert er sich, „das Fenster war geschlossen. Ein Wumms, ein dumpfer Wumms, und die sackte in sich zusammen, der Turm kippte zur Seite, und das war´s. Eine große Staubwolke stieg auf.“ Siebenhundertachtundzwanzig Jahre lang hat die Kirche gestanden, kein Krieg hat sie schlimm beschädigt, nicht der Dreißigjährige und nicht der Zweite Weltkrieg. Ein Juwel des Mittelalters für Jahrhunderte. Zu Ostern hat Gütz hier noch die Matthäuspassion mitgespielt, deren Komponist auch häufig in dieser Kirche musizierte. Bach, der in dieser Geschichte öfters vorkommt.

unikirche

Siegfried Pank, 32 Jahre alt, seit sechs Jahren Cellist im Gewandhausorchester, steht draußen, weit draußen, als die Universitätskirche St. Pauli gesprengt wird. „Es war wahnsinnig abgeschirmt, mit einer Barrikade von Straßenbahnen auf der Ostseite des Platzes. Kein Durchkommen, Polizei mit Motorrädern. Eine Riesenmenge von Leuten hatte sich in Richtung Grassiplatz versammelt. Wir waren soweit entfernt von der Wand aus Straßenbahnen, dass wir drüber weg sahen. Ich habe gesehen und gehört, wie die Kirche zusammenfiel.“ Zuvor hat er gemeinsam mit anderen eine Woche lang schweigend auf dem Platz demonstriert, an jedem Abend versammelten sich „mehr als hundert Menschen, viele von der theologischen Fakultät, ohne Transparente und Rufe. Es war gespenstisch. Stasi war da, Hunde waren da, Leute wurden abgeführt.“

Ein Requiem vor der Zertrümmerung

1968 ist eines der bewegtesten, dramatischsten und blutigsten Jahre der internationalen Geschichte. In Leipzig, wo bereits im März auch das alte Gewandhaus in Trümmer gelegt wird, ist es eines der finstersten, und durch eine sonderbare Koinzidenz wirken zwei Programme, die das Gewandhausorchester in diesem Jahr spielt, wie Vorworte oder Kommentare zum Geschehen, eines mit dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms, eines mit der Fünften Sinfonie von Ludwig van Beethoven. Es sind Konzerte im März und im Mai, von denen sich herausstellt, dass es die letzten unter der Leitung des 47-jährigen Gewandhauskapellmeisters Václav Neumann gewesen sein werden, der im August noch die Premiere von Leoš Janáčeks Jenůfa dirigiert und dann abreist in jene Stadt, von der zu Beginn des Jahres soviel Hoffnung ausging: Prag.

Was in Prag und in der Tschechoslowakei geschah, hat auch viele DDR-Bürger begeistert, die unter Walter Ulbrichts repressivem Kurs leiden. Am 4. Januar ist der restriktive Antonín Novotný als Parteichef von Alexander Dubček abgelöst worden. Der schlägt den Weg zu einem demokratischen Sozialismus ein, zu Pluralismus und Meinungsfreiheit, und das bemerken auch die Gewandhausmusiker, die im März mit einer tschechischen Maschine zu Konzerten nach Bulgarien unterwegs sind. „Wir haben an Bord beliebige Westzeitungen lesen können“, sagt Siegfried Pank, „in einer Ostmaschine! Das war unglaublich.“ Unglaublich war aber auch, was im selben Monat in Leipzig geschehen sollte, noch ehe die Paulinerkirche in Trümmer sank. Wie eine grausige Ouvertüre dazu mutet der Abriss des alten Gewandhauses an.

Die „Westzeitung“ Frankfurter Allgemeine brachte schon am 15. März ein Foto mit Baumaschinen vor der Rückfassade jenes Baues, der 1884 als „Neues Concerthaus“ eröffnet worden war und den Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg schwer, aber keineswegs irreparabel beschädigt hatten..Allein bis zum Sommer 1948 sind weltweit 85.000 Deutsche Mark für ein Notdach gesammelt worden; das Orchester spielt im Exil der Leipziger Kongresshalle. Als dort am 20. März 1968 Neumann den Einsatz zu Brahms´ Requiem gibt, weiß man, dass die Tage des alten „neuen“ Hauses gezählt sind. Freilich auch, weil Gewandhausdirektor Karl Zumpe und Orchestervorstand der Stadt im Jahr zuvor selbst erklärt haben, der Bau sei für das Orchester zu klein und möge nach seiner Reparatur den zerstörten Saal der Musikhochschule ersetzen.

Neun Tage bleiben noch, bis Sprengsätze und Abrissbirnen der sozialistischen Stadterneuerung das Symbol des Leipziger Bürgerstolzes pulverisieren werden – 32 Jahre, nachdem die davor stehende Statue des Gewandhauskapellmeisters Felix Mendelssohn von den Nazis eingeschmolzen worden ist.

Die Pauke als Abrissbirne

Neumann wählt für den Beginn, für „Selig sind, die da Leid tragen…“ ein so breites Tempo, als wolle er der bürgerlichen Tradition den Raum schaffen, den man ihr in der Realität nimmt – so kann es einem, die Situation mitdenkend, vorkommen, zumal Neumann bei anderen Gelegenheiten nicht zum Pathos neigte. Doch der Eindruck besonderer Schwere entsteht mehr noch durch den Klang des Monomitschnitts, durch dessen Basslastigkeit und Dichte – und durch den expressiven Nachdruck im Klang. Das merkt man selbst im Vergleich mit Aufnahmen von Karajan 1947 oder Gardiner 2008, die beide noch hinter Neumanns Metronomzahl 62 zurückbleiben. Bei der Bremer Uraufführung am 10. April 1868 wird Brahms wohl jenes Tempo 80 dirigiert haben, das in der Leipziger Erstausgabe steht, ebenso Carl Reinecke, der zehn Monate später die erweiterte Fassung mit Gewandhauschor und -orchester aufführte. Die „68er“ des19. Jahrhunderts waren rasanter und progressiver, als wir uns das denken.

Daran ist Neumann jedenfalls nicht interessiert. Die Freudenrufe des Chores treten schwer auf der Stelle. In „Alles Fleisch, es ist wie Gras“ steuert Brahms dann das andere Extrem an. So langsam, so trauermarschmässig wagt es Neumann nicht zu dirigieren, so leise auch nicht. Dafür kommt es zu fast katastrophischen Ballungen im Orchesterzwischenspiel, in denen, sarkastisch gesagt, die Pauke fast zur Abrissbirne wird. Ein völlig anderes Licht bekommt die bis dahin lastende Atmosphäre, als der Bassist Hermann Christian Polster einsetzt. 30 Jahre alt ist er zu dieser Zeit, er singt mit einer singulären Mischung aus Textklugheit und vokaler Reinheit, Emphase und nüchternem Weitblick. Diese Stimme, diese Konzeption wäre besten Produktionen des Jahres 2018 gewachsen. Sie lässt auch Brahms als „Fortschrittlichen“ insofern erkennen, als man die Basspartie schon in der Nähe eines Strauss´schen Jochanaan erlebt.

Sopranistin Elisabeth Breul, nur acht Jahre älter, ist stilistisch der Generation Schwarzkopf näher, Klangfärbung und Worte mit einer gewissen, weniger intellektuellen als rollenhaften Distanz modellierend, nicht so hellwach unmittelbar. Der Chor des Gewandhauses klingt undifferenziert. Ob er sogar zum Brüllen neigt, kann ein Mitschnitt wie dieser nicht offenlegen, bei dem neben den Solisten am klarsten einzelne Pulte der Streicher (mit wunderbaren Bratschen übrigens) zu hören sind. Eine Zeitungskritik moniert die mangelnde Transparenz dank der „Mammutbesetzung“ des sitzenden (!) Chores, eine andere beklagt, Neumann habe die Sänger zu wenig geführt. Das könnte stimmen. Unverbindlich klingt dieser Abend nicht, vielleicht spiegelt er auch eine deprimierende Situation – aber nicht auf so zwingende Weise wie etwa 1942 Furtwänglers Berliner Neunte. Erwarten wir, rückblickend, zuviel?

Nur acht “Genossen” im 173-Musiker-Ensemble

„Neumann“, sagt der Flötist Karl-Heinz Passin, Jahrgang 1939, „wollte viel, hat sich aber nicht durchsetzen können. Er war vielleicht zu angenehm für ein so großes Orchester.“ „Er war ein besonderer Dirigent,“ sagt Siegfried Pank, „geistig und politisch völlig integer und sensibel.“ Er vergisst es diesem Chef nicht, dass er ihm, dem als politisch kritisch aufgefallenen Cellisten, die Leitung des Jugendclubs übertrug, mit dem junge Hörer für das Orchester gewonnen werden sollten: „Eine Signalentscheidung!“ Einig sind sich alle Befragten, dass das 173-Musiker-Ensemble gerade in repressivster Ulbricht-Zeit einen „großen Freiraum“ bot, wie Oboist Gütz sagt. „Wir sind offen miteinander umgegangen“, meint Flötist Passin. „Von allen Musikern waren nur acht Parteigenossen“, sagt Cellist Pank. „Darin spiegelt sich die innere Verfassung wider.“

Aber diese Musiker, die natürlich auch als im Westen konzertierende Devisenbringer einen Sonderstatus hatten, konnten nicht die Zerstörung ihres alten Saales am 29. März verhindern und schon gar nicht die von langer Hand vorbereitete Beseitigung der gotischen Paulinerkirche. „Solche Helden waren wir ja auch nicht“, sagt Karl-Heinz Passin, und Siegfried Pank erläutert: „Die Angst war in den Sechzigern größer als in den Achtzigern.“ Speziell in Leipzig, wo der Bezirksparteichef Paul Fröhlich hieß, Jahrgang 1913, Mitglied des Politbüros, gelernter Koch und knallharter Dogmatiker, der sich schon 1953 mit einem eigenmächtigen Schießbefehl gegen Aufständische profiliert hatte und als Kronprinz von Walter Ulbricht gehandelt wurde. Beim Umbau Leipzigs zur „sozialistischen Großstadt“, zu dem die Neugestaltung des Karl-Marx-Platzes gehörte, war besonders Fröhlich der sakrale Bau ein Dorn im Auge.

Schon Anfang 1964 erklärte ein Ratsmitglied intern, „dass die Kirche weichen muss“. Als das durchsickerte und Thema in westlichen Medien bis hin zu Tagesschau und Times wurde, dementierte die Leipziger Volkszeitung polemisch: „Was sie schreiben, sind elende Phrasen.“ Der Leipziger Kinderarzt Christoph Richter wandte sich unerschrocken an Fröhlich selbst: „Natürlich haben Sie die Macht, gegen das Volk Ihre Pläne zu verwirklichen.“ Stünde an Stelle der Kirche ein „Karl-Marx-Mausoleum“, wäre es sicher nicht bedroht. Der Politiker antwortete höhnisch auf das, was er „Froschperspektive von Demokratie“ nannte, und setzte sich, kurz gefasst, in den nächsten Jahren über alle Einwände seitens der Kirche, der Universität, des Denkmalschutzes hinweg.

Am 16. Mai 1968 kommt im Leipziger Rathaus eine Versammlung aller Beteiligten zusammen, Mitglieder der SED wie der Ost- CDU, Vertreter der Universität, Ratsherren, Oberbürgermeister Kresse, Bezirksparteichef Fröhlich. Ein einziger artikuliert seine Ablehnung gegenüber einem Abriss der Kirche: Ernst-Heinz Amberg, Dekan der Theologischen Fakultät. Am selben Tag stimmen die Gewandhausmusiker ihre Instrumente für das 20. Anrechtskonzert der Saison. Vaclav Neumann wird die Euryanthe-Ouvertüre von Carl Maria von Weber dirigieren, das Concerto für Streichquartett und Orchester des Tschechen Bohuslav Martinů, und nach der Pause die Fünfte, zu der Beethoven im Programmheft zitiert wird: „Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen.“

Das Orchester rastet aus

Es wird zunächst eine recht unentschlossene Aufführung dieser einst bahnbrechenden, später vor allem in Deutschland oft auf „Kampf“ und „Schicksal“ reduzierten Sinfonie. Im Tempo bleibt man weit unter den Metronomangaben des Komponisten, die zu dieser Zeit ohnehin nur zwei von hundert Dirigenten ernst nehmen. Zwischen zahlreichen Ungenauigkeiten erfreut einen das Oboensolo. Doch aus einer nur achtbaren Allerwelts-Fünften gerät das Gewandhausorchester im Verlauf des extrem langsamen “Andante con moto” heraus. Dass es mit 74 Achteln pro Minute eher ein senza moto wird, ist an der Stelle völlig überzeugend, an der die leisen Es-Dur-Septakkorde der Streicher förmlich stillstehen und eine menschenleere Weite erzeugen, in die sich Klarinette und Fagott mit zerbrechlichen Linien tasten

.Das andere Extrem erlebt man im Finale – diesmal sogar in Beethovens Tempo 84 pro Halbe, wenn auch ohne Wiederholung der Exposition. Es ist existentiell, ungeschönt, unschön im guten Sinne, weit entfernt vom üblichen Ad-astra-Triumph. Das Orchester rastet aus, fast wütend. Da klirrt in den Geigen auch mal eine E-Saite, und die Piccoloflöte, zur Uraufführung in einer Sinfonie eine Novität, klingt mehr nach Verzweiflung als nach Sternenfunkeln. Flötist Karl-Heinz Passin weiß nicht mehr, ob er in diesem Konzert dabei war. Er weiß aber von Václav Neumann noch, dass der, so fein und angenehm er war, große Energien mobilisieren konnte: „Dann ging was los!“ So etwas geschieht in diesem Finale. Was bedeutet es, in so bedrückten Zeiten solche Werke zu spielen? „Zum Glück gibt es Musik“, sagt Siegfried Pank. „Gerade solche Zustände werden nur ertragbar, weil es Musik gibt.“

Bach? Sofort aufhören!

„Ein schreckliches Jahr, ein fürchterlicher Wonnemonat Mai“, schreibt Erich Loest im Roman Völkerschlachtdenkmal, ehe er zornbebend die Leipziger Stadtverordnetenversammlung vom 23. Mai schildert. Sie beschließt mit einer Gegenstimme die Sprengung. Die ist indessen längst vorbereitet, denn am 5. Juni beginnt in Leipzig der Internationale Bach-Wettbewerb. Dessen Gäste sollen nicht vor den Trümmern einer Kirche stehen, in der Johann Sebastian selbst die Orgel spielte, prüfte und lobte. Von Johann Scheibe 1716 vollendet, ist sie in bestem Zustand. Kurt Grahl, ein Orgelstudent, schafft es am 24. Mai auf die Empore, während schon die Bohrer dröhnen: Loch um Loch wird für die Sprengladungen gebohrt, teils mitten durch die Epitaphe hindurch, Gräber sind aufgebrochen. Maisonne scheint durch Staubwolken, und Grahl zieht alle Register. Bach, Toccata C-Dur. Eine apokalyptische Szene. Bis zur dritten Seite kommt Grahl, dann erscheinen drei Herren und brüllen: „Sofort aufhören!“

„Sagen Sie bloß, da ist eine Orgel drin?“, soll Hermann Henselmann gesagt haben, der mit der Neugestaltung des Platzes beauftragte Architekt des “Uni-Riesen“. 24 Stunden bleiben, um wenige Teile des Instruments zu retten.Am Mittwoch, 29. Mai, sieht es aus, als würde das Gebäude geschmückt. Aber die Nadelbäume, dicht an dicht an die Mauern gestellt, sollen die Wirkung der Sprengung zum Platz hin dämpfen, der abends vollständig gesperrt wird. Fotos zeigen Passanten, viele stehend, mit tristen Gesichtern. Wer nicht wusste, was ansteht, hat es an diesem Tag aus der Zeitung erfahren. Doch kaum einem dürften die stillen, immer größer werdenden Demonstrationen entgangen sein. 400 Personen zählte die Stasi am 27. Mai, tags drauf wurden Wasserwerfer und Hunde eingesetzt, Teilnehmer „zugeführt“. Rolf Reuter, Generalmusikdirektor, versucht bis zum letzten Tag, Verantwortliche in der Stadt umzustimmen.

Doch das bleibt der Widerstand einer kleinen Minderheit. Zuviele Bürger hier können sich noch an 1953 erinnern; man hat Angst und auch noch andere Sorgen, man resigniert. Und man sieht sich vom Westen im Stich gelassen. „Die Bundesrepublik war voll mit sich selbst beschäftigt“, sagt Siegfried Pank. Nach den Kaufhausbrandstiftungen durch die RAF, nach den Unruhen, die dem Attentat auf Rudi Dutschke folgten, will die Große Koalition unter Kanzler Kiesinger die Grundrechte einschränken, Kontrollmöglichkeiten verstärken. Gegen diese „Notstandsgesetze“ demonstrieren Zehntausende. Am 30. Mai werden sie dennnoch im Bundestag beschlossen, dem Tag, an dem in Leipzig eine Kirche in sich zusammenfällt. Welt, Frankfurter Rundschau und Süddeutsche setzen ihre Leser über die Sprengung mit einer Meldung von sechzehn Zeilen in Kenntnis.

Die Hoffnung stürzt ab

Der Cellist folgt auf seinem Fahrrad den Lastwagen nach Probstheida, wo die Trümmer in einer Sandgrube entsorgt werden. Zweimal macht er das, obwohl der Platz bewacht wird. Teile von Gewölben stopft er in den Rucksack, eine Holzsäule vom Emporengeländer, zerdrückte Orgelpfeifen. „Sollte es die Universität mal schaffen, eine Gedenkecke einzurichten, gebe ich ihnen das.“

Weder Pank noch seine Kollegen Gütz und Passin sind dabei, als am 20. Juni 1968 der dritte Internationale Johann-Sebastian-Bach-Wettbewerb endet. Anwesend ist aber wiederum Kurt Grahl. Der 21-jährige Organist hat einen Preis für Improvisation errungen und wartet auf dem Podium in der Kongresshalle mit den anderen Preisträgern. Pianisten wie Valeri Afanasjew, Ivan Klansky, Jewgeni Koroljew sind dabei, die Geiger Oleg Kagan und Christian Funke. Auf einmal schwillt der Applaus an und will nicht enden, obwohl gerade niemand vorn steht. Eilig winkt man Krahl zur Preisvergabe, aber das Publikum interessiert sich nicht für ihn. Der Applaus gilt einem gelben Plakat, das sich wie von selbst über der Bühne entrollt hat: „Wir fordern Wiederaufbau!“ steht darauf, versehen mit dem Umriss der Unikirche.

Zwei junge Physiker haben es hineingeschmuggelt, mit einem Wecker für den Auslösemechanismus. Sie fliehen danach mit einem Faltboot über das Schwarze Meer in die Türkei. Der Protest, vor aller Welt entrollt, Jahrzehnte vor vergleichbaren Greenpeace-Aktionen, ist eine Sensation, „ein Ereignis, das wieder Hoffnung brachte“, erinnert sich Siegfried Pank. Doch die Hoffnung stürzt ab, als in der Nacht zum 21. August Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei einmarschieren, um den „Prager Frühling“ zu beenden.

Während am Tag danach in London die Beatles erstaunlich passend Back in the U.S.S.R. aufnehmen, haben in Leipzig die Orchesterproben für Jenůfa begonnen. Klaus-Peter Gütz spielt nun erstmals unter der Leitung von Václav Neumann. „In einer Probe hat er gerufen: Mein Sender sagt, es ist eine Okkupation!“ Karl Kayser, linientreuer Generalintendant der Leipziger Theater, sei darüber außer sich vor Wut gewesen. „Er hat nach der Premiere hinter der Bühne die Blumen für Neumann zertreten.“ Da hat der Dirigent schon beschlossen, seinen Posten zu quittieren und nach Prag zurückzukehren. „Jenůfa“, sagt Karl-Heinz Passin, „war ein großer Höhepunkt. Er hat mit Wut im Bauch dirigiert. Wir haben an dem Abend alle gespürt, es ist seine letzte Vorstellung.“ „Nach seinem Weggang“, sagt Siegfried Pank, „wurde alles eliminiert, was an ihn erinnerte.“ Ein Büchlein über das Orchester, auf dessen Titelfoto man Neumann sah, wurde eingestampft, „danach existierte er nicht mehr als Gewandhauskapellmeister.“

Ein Licht sieht der jetzt 82 Jahre alte Cellist und Gambist im finsteren Jahr 1968 aber doch: „Unser Protest damals, das war die Vorübung für 1989.“

Dieser Text entstand für die Nr. 100 des Gewandhausmagazins, erschienen im September 2018. Den Urheber des Fotos von der Sprengung der Unikirche – Quelle: Internet – konnte ich nicht ermitteln.