Kategorie-Archiv: Oper

Gärprozesse im Biotank

Bei den Bayreuther Festspielen lässt der Regisseur Sebastian Baumgarten den »Tannhäuser« in einer totalitären Ökofabrik leiden, und der Dirigent Thomas Hengelbrock führt vor, dass Richard Wagners Musik dazu passt

Tannhäuser, schärft den Blick für das Phänomen auf neue, beunruhigende Weise. Und es führt dazu, dass nach drei Akten das Inszenierungsteam mit Wutgebrüll empfangen wird. »So was Schlechtes habe ich hier noch nie gesehen«, ruft später, die weiße Fliege zurechtrückend, ein Herr um die fünfzig einem Bekannten zu und strahlt geradezu begeistert.

Man sieht nur die Rücken der Schaulustigen, wie sie ihre Arme in die Höhe recken und die Attraktionen fotografieren: Merkel, Ferres, Trichet, Westerwelle und all die anderen Prominenten unserer Tage. Wie gern sich die Menschen auf ein Zentrum hin ausrichten! Kein Zwang ist nötig, schon stehen sie Spalier oder bilden Kreise. Das ist die alljährlich wiederkehrende Choreografie zur Bayreuther Eröffnung, nichts Besonderes. Doch was im Inneren des Festspielhauses geschieht, im neuen

Was denn? Hat zum soundsovielten Mal ein Regisseur entdeckt, dass Richard Wagners fünfte Oper Tannhäuser, 1845 uraufgeführt, auch totalitäre Aspekte berührt? Was wäre daran noch empörend? Dafür wurde in Bayreuth schon vor knapp vierzig Jahren Götz Friedrich abgestraft, dem damals der bayerische Ministerpräsident Alfons Goppel den Handschlag verweigerte. Unwahrscheinlich, dass der heutige Amtsinhaber Horst Seehofer ähnlich verfährt. Man ist integrativer und entspannter geworden auf beiden Seiten.

Tatsächlich geht es auch bei Sebastian Baumgarten und Joep van Lieshout, dem niederländischen Installationskünstler, um die Deformation des Individuums in einer von wem oder was auch immer gelenkten Masse. Aber eher beiläufig, geradezu verspielt, im Zusammenspiel vieler Ebenen. Und wenn man es merkt, ist es schon ziemlich tief in den Kopf geraten. Auch deswegen, weil Richard Wagners Musik selbst auf verblüffend moderne Weise mitmacht.

Damit war erst mal gar nicht zu rechnen. Sebastian Baumgarten , der im Ruf eines Dekonstruktivisten steht und in Interviews zu seinem Bayreuther Regiedebüt verdächtig oft das opernferne Wort »Soundtrack« gebrauchte, wartet nicht auf den Dirigenten und die Musik. Schon bevor der erste Ton erklingt, ist auf der Bühne eine gewaltige Installation zu sehen, es wird darin gearbeitet. Was per se auch nichts Neues ist, aber im wörtlichen Sinne scheißungemütlich. Der große blaue Biogastank rechts, Füllmenge 30.000 Liter, wird, so entnehmen wir dem Programmheft, aus den Exkrementen derer gespeist, die im »Technokrat« Marke »Wartburg« leben oder wenigstens existieren, versorgt aus Behältern mit Aufschriften wie »Nahrung« und »Alkoholator«. Es ist das aber eine saubere Angelegenheit. Blitzblanke Tanks, ein mehrstöckiges, transparentes, solides Holzgerüst, es könnte auch ein fränkisches Ökobrauhaus sein.

Da wird nun also auf diversen Etagen eifrig gewerkelt, außerdem flackern Videos, außerdem nehmen rechts und links vorn auf der Bühne Zuschauer Platz, echte Zuschauer übrigens, wie man schon im Vorfeld erfahren hat. Überhaupt erfährt man über Bayreuther Neuproduktionen mittlerweile im Vorfeld so viel, dass es schon schwierig wird, überrascht zu sein. Aber ein Zeichen bedeutet ja erst dann etwas, wenn man mit dem Zeichensystem vertraut wird. Das Orchester setzt ein, und die Videos von Christopher Kondek stören beim Hören. Denn aus dem Graben ergreift uns keineswegs der bewährte, alles verschmelzende Sog, dem man sich so schön hingeben kann.

Behutsam, trocken, fast statisch artikulieren die Bläser den Anfang, und wenn die Streicher dazukommen, wird man auch nicht überwältigt, sondern eher zum Hinhören genötigt, so extrem realisiert Thomas Hengelbrock die Piani, so weit legt er Komponistenhinweise wie »später erst steigern« aus. Hengelbrock ist der erste Dirigent aus der Szene der historisch informierten Praxis, der auf dem Grünen Hügel arbeitet, krasse Gegenfigur zum gleichaltrigen Aurabeschwörer Thielemann. Auf seinem Pult liegt ein zeitgenössisches Faksimile der Handschrift, die Wagner 1845 für eine Druckfassung anfertigte. Ein bisschen Fetischismus mag dabei sein, aber für so etwas hat man in Bayreuth viel Verständnis. Weniger für Hengelbrocks Plan, sich an die frühe Dresdner Fassung so konsequent zu halten, dass Venus nur einmal auftaucht, im ersten Akt. »Das war leider nicht möglich«, erklärt er in einem Interview.

Darum hat das Team die Venus szenisch so konsequent aufgewertet, dass es den Wagnerianern auch wieder nicht passen wird, aber eigentlich passen ihnen schon die Videos nicht. Es ist ja auch alles ein bisschen viel. In der Mitte die Röntgenaufnahme eines Thorax mit blubberndem Herzmuskel unter den Rippen, später Nanobasteleien unterm Mikroskop, Wissenschaft ohne Tabus, dazu diese zerbrechlichen Klänge. Als sie aufschäumen, fährt real aus dem Bühnenboden ein plumper Käfig hoch, voll mit zottigen Primaten, die an den Stäben rütteln, aber auch herauskönnen, wenn sie wollen, nebst einigen spermigen großen Kaulquappen, nebst dem menschenköpfigen Leibgeparden der Liebesgöttin, die ein bisschen wie Liz Taylor aussieht und im engen Glitzerkleid nicht verbirgt, dass sie im sechsten Monat schwanger ist. Das also ist der Venusberg, aus dem Tannhäuser in kurzen Hosen flieht, um in der großen Biogasanlage zu landen. Grusel!

Man hält sich einstweilen an Tönen fest. Da ist der schalkhafte Hirte, mit Katja Stuber die erste Gestalt, bei der man jedes Wort versteht, dicht gefolgt vom hinreißenden Wolfram des jungen Michael Nagy. Inmitten einer tapsig schunkelnden Jagdrunde empfängt er den Venusflüchtling Tannhäuser, als sänge er ein inniges Schubert-Lied auf dessen alte Liebe Elisabeth, die bei Nennung ihres Namens sofort als Schlafwandlerin hoch über einen Steg wankt. Das ist komisch. Es ist sehr vieles komisch und gruselig, anrührend und befremdlich zugleich in dieser Produktion, die aber in ihrer Polyvalenz dauernd auf Wagner trifft. Wenn etwa Elisabeth, die so fokussiert wie cremig timbrierte, wenn auch oft etwas unterm Ton bleibende Camilla Nylund, die »teure Halle« gegrüßt hat, lässt Wagner das Orchester kurz danach so abreißen, als misstraute er dem Schwärmen. Und mitten in den scheinbar so affirmativen Einzug der Gäste hat er Passagen gewoben, die man so fragend, zerbrechlich, sensibel selten hörte.

Und die man hier besonders nötig hat. Denn die Gäste sind in ihrer Mehrheit sedierte Insassen, am Alkoholator nuckelnd wie die Bewohner von Huxleys Brave New World am Soma, sektenhaft verklärt einander umarmend in einem System, das gegenwärtig positiv besetzte Begriffe wie »Nachhaltigkeit«, »Bio«, »Recycling« beansprucht und einen Totalitarismus der Effizienz ahnen lässt. Es warten schon die ökologisch einwandfreien Holzcontainer mit der Aufschrift »Rom« für den Abtransport zur Pilgerfahrt. Was diese Leute nicht mehr fragen, das fragt die Musik, traurig über die Menschen, die von einer Falle in die nächste tappen. Solche Gedanken ermöglicht Baumgarten eher, als dass er sie forciert. Sein Geflecht der Ebenen erzeugt Freiheit ebenso wie die Brecht-mäßige Brechung durch die Zuschauer auf der Bühne.

Meisterhaft, wie Baumgarten die Sängerwettstreiter zeichnet, er ist ein sensibler Karikaturist. Der hinkende Walther, der paramilitärische Biterolf und Wolfram sowieso, sie alle sind in Elisabeth auf jene verklemmte Weise verknallt, von der sie sich einzig bei Tannhäuser frei fühlt, als Einzige seiner Huldigung der Sinnlichkeit applaudierend. Wofür es, besetzungstechnisch gesehen, leider wenig Anlass gäbe. Lars Cleveman, im heimatlichen Schweden auch als Rockmusiker gefeiert, erweist sich als Inkarnation des tumben Wagner-Tenors, der am liebsten die Eins in jedem Takt betont und dann die Kraft am Ende des Tons staut, vom Text nur Vokale übrig lässt, wenn er nicht gerade ein Wort wie »unverdrossen« heraushämmert, und an szenischer Sensibilität weit hinter Nylunds Elisabeth und Nagys Wolfram zurückbleibt. Aber die Regie fängt das auf: Tannhäuser erscheint als Revolutionär wider Willen, der keine Rücksicht nimmt, weil er nichts merkt, und gern Rivalen mit Getränken begießt.

Auch Venus wohnt übrigens, noch gerundeteren Bauches, dem Wettstreit bei. Das stört keinen Wartburger, gefürchtet wird nur der Primatenkäfig im Untergrund, den sie womöglich verwaltet. Dann wäre also nicht Sex das Tabu, so wenig wie in unserer Zeit, sondern die manifeste, dreckige, haarige, äffische Regression im Käfig als Modell und Urbild der subtilen und technoiden Entindividualisierung, die oben stattfindet. Indessen bleibt das ein Gedankenspiel wie die Erwägung, ob nicht Elisabeth ihren Tannhäuser schlicht aus Frauensolidarität vorm Lynchmob schützt: Wenn Venus schwanger ist, darf der Vater ihres Kindes nicht sterben. Doch neben solchen Vielleichts bestätigt sich im dritten Akt, dass Baumgarten, Lieshout und ihre Kostümbildnerin Nina von Mechow es ernst meinen mit ihrer Deformationskritik. Es sind final Gehirngewaschene, die da aus Rom zurückkehren, sauber machende Gesäuberte.

Zuckend putzen, feudeln, schrubben sie die Dinge, einander, sich selbst, ein ganzes Kuckucksnest von katholisch Kopfoperierten, die dabei übrigens eine Glanzleistung an chorischer Genauigkeit und Sensibilität vollbringen. Es ist eine grausige, tief treffende Abrechnung mit allen Befleckungstabus, Sexverboten, Reinheitsideologien der Kirche, und Wagners Orchester erinnert erbarmungsvoll ans Leben. Wie warm, wie traurig groß pulsieren die neun Achtel der Bratschen und Bässe, taktweise im Forte angestoßen und weich verebbend! Es gibt übrigens einige überraschende Details, von denen man gern wüsste, woher Hengelbrock sie in die erweiterte Urfassung hineingenommen hat. Für eine Dokumentation dieses Materials, erklärte indessen Festspielmitleiterin Eva Wagner-Pasquier, sei im Programmheft »kein Platz« gewesen. Eine Auskunft, die den musikalischen Rang des Abends und des Komponisten patzig unterläuft.

Man ahnt, dass die Produktionsbedingungen nicht die besten waren. Bei dreieinhalb Wochen Probenzeit verzeiht man auch, dass dem Regisseur bei der Romerzählung Tannhäusers die Luft ausging, vielleicht wollte er seinen Titelhelden auch mal nach Herzenslust schreien lassen. Doch nicht den traf unter den Sängern die geballte Abneigung des Publikums, sondern die Venus. Dass Stephanie Friede die Register nicht eben geschmeidig verbindet und mit starkem Vibrato den Text verunklart, ändert nichts an ihrem Einsatz für jene Neudeutung der Rolle, für die man sie wohl mitbestrafen wollte. Am Schluss kommt das Baby im Affenstall zur Welt, während hinten Wagners berühmter Satz erscheint zu einem Werk, mit dem er auch nach sechs Fassungen nicht fertig war: »Ich bin der Welt noch einen Tannhäuser schuldig.« Na bitte, hier ist er, der Kleine! Die Szene ist voll gaga, sozusagen die Karikatur einer Behauptung und deren Transzendierung, aber irgendwie auch groß. Es fetzt halt. Man will ja auch nicht immer nur nachdenken im Festspielhaus.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 28.07.2011

Paukenschlag und Kalauer

Kann sich ein Opernhaus neu erfinden? Stuttgart versucht’s – mit einer jungen Regisseurin, vielen weißen Sofas und “hingeworfenen Akkordklumpen”.

Vor einem halben Jahr versammelte sich in Gyöngyöspata, nordöstlich von Budapest, eine paramilitärische Truppe in der Nähe einer Roma-Siedlung. Frauen und Kinder der ethnischen Minderheit stiegen daraufhin in Busse des ungarischen Roten Kreuzes und wurden in Sicherheit gebracht. In so einem Europa gerät man nicht unbedingt in freudige Erwartung, wenn sich auf einer Opernbühne eine ziganeske Hochzeitsgesellschaft vorm Wohnwagen versammelt. Sie wirkt schon bedroht, ehe hinten nebst ungarischer Flagge auch die (offiziell verbotene) rechtsradikale Nationale Garde aufzieht.

Die Töne zum Überfall liefert Hector Berlioz . Der ungarische Rákóczi -Marsch ist das bekannteste Stück seiner Damnation de Faust, und was zu seinen Klängen geschieht, filmt der Titelheld als Kameramann persönlich. Den jungen Faust hat es, in der Partitur wie auf der Bühne der Stuttgarter Staatsoper, nach Ungarn verschlagen. Die Bilder der unter Schlagstockhieben endenden Hochzeit verfolgen ihn und uns bis ans Ende einer Oper, die sich einer verbindenden Erzählung allerdings widersetzt wie keine andere. Berlioz selbst hat das 1846 konzertant uraufgeführte Werk eine »légende dramatique« genannt und die Regeln der Grand Opéra großzügig ignoriert.

Gegen den Opernbetrieb sperrt es sich noch heute. Auch wenn vom Madrigal bis zum Requiem längst alles inszenierbar erscheint, gehört viel Mut dazu, mit diesem sehr frei nach Goethe entstandenen, collagenhaften Halboratorium nicht nur eine Spielzeit zu eröffnen, sondern eine ganze Intendanz – auf der zudem ein Erwartungsdruck lastet wie auf kaum einer anderen. Wer ermessen will, auf was sich die 39-jährige Regisseurin Andrea Moses und ihr Förderer, der neue Stuttgarter Intendant Jossi Wieler, eingelassen haben, stößt nicht nur auf ein schier unerzählbares Werk, sondern auch auf ein Opernhaus, dessen Maßstab der Kultstatus ist, den sein Intendant Klaus Zehelein ihm bis 2006 verschaffte.

Komplexeste Werke von Helmut Lachenmann und Luigi Nono wurden damals zu Kassenschlagern, das sogenannte Regietheater war brillant vertreten, von Ruth Berghaus über Peter Konwitschny bis zu solchen, die hier ihre ersten Opern inszenierten. Wer musiktheatralisch auf dem Laufenden bleiben wollte, musste nach Stuttgart. Doch Zeheleins Nachfolger Albrecht Puhlmann, der in Hannover eine vergleichbare Linie mit vergleichbarer Resonanz verfolgt hatte, konnte im schwäbischen Kessel nicht Fuß fassen. Rückkopplungseffekte zwischen Haus, Politik und Medien fegten Puhlmann aus dem Amt.

Nicht nur vor diesem Hintergrund birgt der Neustart ein hohes Risiko. Es ist vielleicht das größte Wagnis des neuen Intendanten, sich an eine überregional noch kaum bekannte Künstlerin zu binden. Andrea Moses debütiert mit ihrem Faust als Stuttgarter Hausregisseurin. Außer einer Gastregie pro Saison werden die Novitäten künftig ausschließlich Arbeiten der Newcomerin und jenes gefeierten Traumduos der Opernregie sein, das an diesem Haus groß wurde. Jossi Wieler und sein Dramaturg Sergio Morabito, 60 und 48 Jahre alt, von Zehelein auf den Weg gebracht und auch unter Puhlmanns Ägide erfolgreich, werden für zunächst fünf Jahre nur in Stuttgart inszenieren.

Eigentlich hatte man politisches Theater ja für Geschichte gehalten

Aus dem Reisekarussell der Regiestars steigen sie aus. »Es sind zehn bis zwanzig Namen, die da immer wieder auftauchen von Wien bis Amsterdam«, meint Wieler. »Wo ist denn da das Besondere?« Wenn das deutsche Stadttheater mit seinen festen Ensembles und der Repertoirepflege kein »Auslaufmodell« werden solle, müsse es wieder spezifisches Profil entwickeln, bis hin zur Regie. Nicht dass ein Intendant auch zu Hause inszeniert, ist singulär, sondern dass ein international gefragtes Duo wie dieses sich gänzlich an ein Haus bindet. Das hat auch Sylvain Cambreling beeindruckt, der als Generalmusikdirektor 2012 dazustößt. Wieler und Morabito werden zwei Stücke pro Spielzeit inszenieren, aber ein »einheitlicher Stil« sei nicht zu befürchten, sagt Wieler. »Jede unserer Arbeiten hat eine eigene Sprache.« Das muss er niemandem mehr beweisen.

Wohl aber, dass er mit Andrea Moses den richtigen Griff getan hat. Ihr szenischer Einstieg in Berlioz’ Faust -Oper ist als Paukenschlag, als Bekenntnis dem geballten Erwartungsdruck durchaus gewachsen. Politisches Theater hatte man in dieser Eindeutigkeit schon für Regiegeschichte gehalten. Was gerade angesichts rassistischer Entwicklungen mitten in Europa nicht dagegen spricht, diese Geschichte neu aufzurollen. Andrea Moses, 1972 in Dresden geboren, bringt Erfahrungen aus zwei Deutschlands mit, sie ist an der Ernst-Busch-Hochschule in Berlin noch »unter dem Primat der Fabel erzogen worden«, wie sie sagt, sie glaubt noch an die gesellschaftliche Erzählung.
Doch was bei ihr so plakativ wie atembeklemmend beginnt, stößt nicht nur auf den Widerstand des Komponisten, der uns im Faust erratische Tableaus hinterließ. Noch der talentierteste Newcomer würde unter dem Druck der Stuttgarter Situation aus der Balance geraten – und nach den ersten, kräftigen Akzenten liefert Andrea Moses von allem zu viel. Die Trinker in Auerbachs Keller gehören einer schlagenden Verbindung an, die Soldateska schreitet zur Bücherverbrennung, das zivile Kollektiv neigt zum Voyeurismus. In ihrem Übermaß entwerten sich die gesellschaftskritischen Signale gegenseitig.

Der von Moses favorisierte Ausstatter Christian Wiehle verschärft das Dilemma. Die Klarheit seines ersten Bildes – leere Gegend, Wohnwagen, davor ein Klappstuhl, darauf der junge Faust – verliert sich in einer Folge von Schnurvorhängen, Kohorten weißer Sofas unter blauem Licht, verschwiemelter Stadtansichten. Als gotischen Rest der Faust-Legende hat Wiehle ein Kirchenfenster quergelegt, das – mit Blick auf das emsig von Autos befahrene Dresdener Elbufer – Marguerite als Wohnung dient. Immer wieder wird projiziert: Damit wir sehen, was Faust bewegt, flimmern im übergroßen Scherenschnitt seines Profils die Bilder seiner Träume und Filme.

Aber was bewegt ihn wirklich? Pavel Černoch ist ein stimmlich wie szenisch wunderbar präsenter junger Tenor, am Charakter mehr als am Wohlklang interessiert, den er gleichwohl zu bieten hat. Doch bleibt er passiv, Stereotyp des reinen Toren. Nachdem er Zeuge des Überfalls geworden ist und auf den eigenen Weltekel mit einem Suizidversuch reagiert, wird er Spielzeug eines Méphistophélès, den Robert Hayward mit porösem Bariton als Zyniker gibt. Der hat alles in der Hand. Vielleicht soll seine Allmacht zeigen, dass in dieser Welt kein Gott mehr ist – aber eigentlich wirkt er, rotgelbhaarig, wie ein Teufel aus dem Kaspertheater, der nun mal einfach so fies ist.

Faust und Mephisto sitzen auf dem Sofa und spielen Autofahren

Wenn sich am Ende erweist, dass die Paramilitärs unter seinem höllischen Kommando stehen, wird Gesellschaftskritik auf ebenjenes Gut und Böse reduziert, gegen das sie sich zu wenden hätte. Wobei, andererseits, auch alles in Anführungszeichen steht. Wie nah können wir uns die Traurigkeit der verlassenen Marguerite gehen lassen, wenn sie doch Assistentin des Teufels ist und schon ihre Schwangerschaft nur ein Spiel mit Kissen war? Sicher, Oper lebt von Mehrdeutigkeiten – aber auch die brauchen ihre Ökonomie. Wer die Alcina erlebt, die Wieler und Morabito hier 1998 inszenierten und jetzt neu aufnahmen, sieht, mit welcher Virtuosität sich etwas in der Schwebe halten lässt.

Dass einen Gretchens Schmerz dann doch berührt, verdankt sich dem Orchester fast mehr als dem handfesten Mezzo von Maria Riccarda Wesseling. Dirigent Kwamé Ryan dehnt die Romance zum Meeresspiegel der Emotionen, und nicht nur da zeigt uns das Orchester den Extremisten Berlioz, hemmungslos im Weinen wie im Spotten, im Häkeln folkloristischer Genrebilder ebenso wie auf dem Serpentinenpfad den eine rätselhafte Geigenlinie zurechtschlängelt. Wenn dazu Faust in den Regalen der Begehrten stöbert, wird an der komponierten Fremdheit aber kleinteilig vorbeiinszeniert.

Vielleicht kann man an diesem Stück ja gar nicht anders als vorbeiinszenieren. Das müsste dann aber mit Entschlossenheit geschehen, mit der Unverschämtheit eines Berlioz sozusagen, der Goethes Vorlage dekonstruiert und beballert hat. Dass er zu allem entschlossen ist, hört man beim Höllenritt, auf dem der Komponist seiner Zeit weit vorausgaloppiert mit jenen »eigens hingeworfenen Akkordklumpen«, die Robert Schumann irritierten. In Stuttgart sitzen dazu Faust und Mephisto brav auf dem Sofa und spielen Autofahren, und zu den jähen Schreien des tiefen Blechs drückt Faust auf eine imaginäre Hupe. Na ja.

Der Kalauer steht am anderen Ende des Spektrums, das mit dem politischen Paukenschlag beginnt und vielen vieles bringen will. Der Gesellschaft ein Signal, dem Repertoire eine Rarität, allen Chören des Hauses einen Auftritt, der Bühnentechnik eine Leistungsschau, dem Affen Zucker. Und Zehelein, der alte Gott, sitzt ja auch noch im Publikum. Dass das nicht aufgehen kann, erzählt uns weniger über die Regisseurin als über die Erwartungen, mit denen es das neue Team aufnehmen muss. Dazu passt ein ziemlich schwäbischer Satz aus der Werkstatt von Wieler und Morabito: »Wenn wir das Gefühl haben, wir haben etwas nicht zu Ende gelöst, bleiben wir dran.«

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 03.11.2011

Trost und Trümmer

“Der fliegende Holländer” bleibt unsinkbar: Helmut Oehrings und Claus Guths Wagner-Collage in Düsseldorf

Man kommt nicht los von ihm. Warum hat gerade Richard Wagner dieses Vereinnahmende, das die einen von vornherein abschreckt und die anderen für ihr Leben in seinen Kreis zieht? Claus Guth könnte es wissen. Der 1964 geborene Regisseur hat alle „kanonischen“ Opern des Sachsen inszeniert und uns dabei Wunder der Psychologie und historischen Verortung geschenkt. Doch mit dem „Lohengrin“ an der Scala, so beschloss er im vergangenen Jahr, sollte Schluss sein. Kein Wagner mehr. Oder ganz anders, vielleicht dekonstruktivistisch.

So konzipierte er für die Oper in Düsseldorf gemeinsam mit dem Komponisten Helmut Oehring einen szenischen Essay über Wagners „Fliegenden Holländer“. Von dessen Partitur ragen gewaltige Fragmente in ein Werk namens „Sehnsuchtmeer“ hinein, dem auch Hans Christian Andersens „Kleine Meerjungfrau“ entsteigt, an dessen Rand sich Heinrich Heine Gedanken über Nordsee und Romantik macht und jenen „dunkelroten Riesen“ sieht, das Schiff des Holländers, das den Leser Wagner überhaupt erst auf sein Sujet brachte, und auch für Agnes Luckemeyer aus Wuppertal ist noch Platz, besser bekannt als Mathilde Wesendonck.

An Wuppertal darf man auch denken beim Anblick der kargen Halle, die Christian Schmidt entworfen hat, Eisensäulen, Spitzbogenfenster, ein bitter pietistisches Kirchenschiff des Industriezeitalters, es könnte auch eine postindustriell entleerte Maschinenhalle sein. Dass die von Heine ironisierte, von Wagner hypertrophierte Romantik der Sehnsucht auch auf die Funktionalisierung der Welt reagiert, bleibt aber vorerst ein rein konzeptueller Gedanke, ergänzt durch den, dass im 19. Jahrhundert die Frau zum Schweigen gebracht wurde und sich um so vernehmlicher als Opernheroine äußerte. Bei Oehring ist nun sogar Senta tonlos.

Der Komponist, 1961 als Sohn gehörloser Eltern geboren, hat ihre Rolle der gebärdensprechenden Christina Schönfeld anvertraut, und allein die Intensität, mit der sie im Industriekirchenschiff die Koordinaten ihrer Hoffnung abschreitet, ist verbindlicher als die paar Klänge, in denen Oehring seinen großen Kollegen nicht zitiert. Mit Orgelpunkt, Esogeklingel und Chormelismen hebt sich´s an, es gibt auch ein paar mäßig vertrackte Rhythmen, als Soundtrack ist das prima. Eine autarke Position, gar eine Partitur, die sich mit Derzeitigem von Reimann bis Neuwirth vergleichen ließe, ist bei diesem Versuch vielleicht auch gar nicht möglich.

Dafür wird die Sogkraft der Vorlage vielleicht deutlicher als an jedem werktreuen Wagnerabend. Oehring schraffiert und verzerrt Wagner, färbt hier eine Linie grell, lässt dort eine abreißen, aber ganz gleich, ob das von Axel Kober exzellent vorbereitete Orchester gerade Soundtrack, Übermalung oder Original spielt – die Bindungskraft, die Gravitation Wagners ist enorm, und mit ihr setzt sich der stärkste Moment des Abends auseinander. Man muss auf ihn warten. Regisseur Guth ist diesmal nicht Psychologe, er arrangiert Versatzstücke. Die Sprecher, die die von Stefanie Wördemann collagierten Texte vortragen, wirken so requisitenhaft wie das Telefonkontor oder die riesigen Zahnräder, die gelegentlich in den Raum ragen.

Dann aber stehen da Flügel, Sopha, Zimmerpalme unterm Gewölbe, und die wunderbare Manuela Uhl singt Wagners Lieder zu Gedichten der Fabrikantentochter, die seine Muse wurde. Zuerst wird sie von der stummen Senta begleitet, am Ende verstummt sie selbst, und die „Träume“ übernimmt ein Mann mit Macken. David Moss röchelt die Worte, jault sie, zerfetzt Silben, er scheint gegen einen Dämon um die Sprache zu kämpfen, es sind bizarre Koloraturen der Deformation.

Klammern wir uns nicht wie er an diesen letzten intimen Zauber eines Jahrhunderts, in dem der Traum zum Symptom absank und die Zerlegung der Welt in die kleinen Teile begann, zwischen denen wir nun zucken und zappen? Die Einheit, die Wagner im Bewusstsein ihres Verlusts herstellt, nach ihr sehnt man sich, und Moss ist so zerrissen wie wir. Hier bekommt manche papierene Passage des Abends rückwirkend Sinn. Man ahnt, wofür wir Wagner brauchen. Und weil er ihn nicht los wird, lässt Guth am Ende noch Senta ihre Holländerstatuette zerschmeißen. Aber Wagner bleibt ganz. Besonders, wenn man ihn zerlegt.

Der Text erschien in etwas kürzerer Fassung am 14.3.13 im Tagesspiegel und ist urheberrechtlich geschützt