Gärprozesse im Biotank

Bei den Bayreuther Festspielen lässt der Regisseur Sebastian Baumgarten den »Tannhäuser« in einer totalitären Ökofabrik leiden, und der Dirigent Thomas Hengelbrock führt vor, dass Richard Wagners Musik dazu passt

Tannhäuser, schärft den Blick für das Phänomen auf neue, beunruhigende Weise. Und es führt dazu, dass nach drei Akten das Inszenierungsteam mit Wutgebrüll empfangen wird. »So was Schlechtes habe ich hier noch nie gesehen«, ruft später, die weiße Fliege zurechtrückend, ein Herr um die fünfzig einem Bekannten zu und strahlt geradezu begeistert.

Man sieht nur die Rücken der Schaulustigen, wie sie ihre Arme in die Höhe recken und die Attraktionen fotografieren: Merkel, Ferres, Trichet, Westerwelle und all die anderen Prominenten unserer Tage. Wie gern sich die Menschen auf ein Zentrum hin ausrichten! Kein Zwang ist nötig, schon stehen sie Spalier oder bilden Kreise. Das ist die alljährlich wiederkehrende Choreografie zur Bayreuther Eröffnung, nichts Besonderes. Doch was im Inneren des Festspielhauses geschieht, im neuen

Was denn? Hat zum soundsovielten Mal ein Regisseur entdeckt, dass Richard Wagners fünfte Oper Tannhäuser, 1845 uraufgeführt, auch totalitäre Aspekte berührt? Was wäre daran noch empörend? Dafür wurde in Bayreuth schon vor knapp vierzig Jahren Götz Friedrich abgestraft, dem damals der bayerische Ministerpräsident Alfons Goppel den Handschlag verweigerte. Unwahrscheinlich, dass der heutige Amtsinhaber Horst Seehofer ähnlich verfährt. Man ist integrativer und entspannter geworden auf beiden Seiten.

Tatsächlich geht es auch bei Sebastian Baumgarten und Joep van Lieshout, dem niederländischen Installationskünstler, um die Deformation des Individuums in einer von wem oder was auch immer gelenkten Masse. Aber eher beiläufig, geradezu verspielt, im Zusammenspiel vieler Ebenen. Und wenn man es merkt, ist es schon ziemlich tief in den Kopf geraten. Auch deswegen, weil Richard Wagners Musik selbst auf verblüffend moderne Weise mitmacht.

Damit war erst mal gar nicht zu rechnen. Sebastian Baumgarten , der im Ruf eines Dekonstruktivisten steht und in Interviews zu seinem Bayreuther Regiedebüt verdächtig oft das opernferne Wort »Soundtrack« gebrauchte, wartet nicht auf den Dirigenten und die Musik. Schon bevor der erste Ton erklingt, ist auf der Bühne eine gewaltige Installation zu sehen, es wird darin gearbeitet. Was per se auch nichts Neues ist, aber im wörtlichen Sinne scheißungemütlich. Der große blaue Biogastank rechts, Füllmenge 30.000 Liter, wird, so entnehmen wir dem Programmheft, aus den Exkrementen derer gespeist, die im »Technokrat« Marke »Wartburg« leben oder wenigstens existieren, versorgt aus Behältern mit Aufschriften wie »Nahrung« und »Alkoholator«. Es ist das aber eine saubere Angelegenheit. Blitzblanke Tanks, ein mehrstöckiges, transparentes, solides Holzgerüst, es könnte auch ein fränkisches Ökobrauhaus sein.

Da wird nun also auf diversen Etagen eifrig gewerkelt, außerdem flackern Videos, außerdem nehmen rechts und links vorn auf der Bühne Zuschauer Platz, echte Zuschauer übrigens, wie man schon im Vorfeld erfahren hat. Überhaupt erfährt man über Bayreuther Neuproduktionen mittlerweile im Vorfeld so viel, dass es schon schwierig wird, überrascht zu sein. Aber ein Zeichen bedeutet ja erst dann etwas, wenn man mit dem Zeichensystem vertraut wird. Das Orchester setzt ein, und die Videos von Christopher Kondek stören beim Hören. Denn aus dem Graben ergreift uns keineswegs der bewährte, alles verschmelzende Sog, dem man sich so schön hingeben kann.

Behutsam, trocken, fast statisch artikulieren die Bläser den Anfang, und wenn die Streicher dazukommen, wird man auch nicht überwältigt, sondern eher zum Hinhören genötigt, so extrem realisiert Thomas Hengelbrock die Piani, so weit legt er Komponistenhinweise wie »später erst steigern« aus. Hengelbrock ist der erste Dirigent aus der Szene der historisch informierten Praxis, der auf dem Grünen Hügel arbeitet, krasse Gegenfigur zum gleichaltrigen Aurabeschwörer Thielemann. Auf seinem Pult liegt ein zeitgenössisches Faksimile der Handschrift, die Wagner 1845 für eine Druckfassung anfertigte. Ein bisschen Fetischismus mag dabei sein, aber für so etwas hat man in Bayreuth viel Verständnis. Weniger für Hengelbrocks Plan, sich an die frühe Dresdner Fassung so konsequent zu halten, dass Venus nur einmal auftaucht, im ersten Akt. »Das war leider nicht möglich«, erklärt er in einem Interview.

Darum hat das Team die Venus szenisch so konsequent aufgewertet, dass es den Wagnerianern auch wieder nicht passen wird, aber eigentlich passen ihnen schon die Videos nicht. Es ist ja auch alles ein bisschen viel. In der Mitte die Röntgenaufnahme eines Thorax mit blubberndem Herzmuskel unter den Rippen, später Nanobasteleien unterm Mikroskop, Wissenschaft ohne Tabus, dazu diese zerbrechlichen Klänge. Als sie aufschäumen, fährt real aus dem Bühnenboden ein plumper Käfig hoch, voll mit zottigen Primaten, die an den Stäben rütteln, aber auch herauskönnen, wenn sie wollen, nebst einigen spermigen großen Kaulquappen, nebst dem menschenköpfigen Leibgeparden der Liebesgöttin, die ein bisschen wie Liz Taylor aussieht und im engen Glitzerkleid nicht verbirgt, dass sie im sechsten Monat schwanger ist. Das also ist der Venusberg, aus dem Tannhäuser in kurzen Hosen flieht, um in der großen Biogasanlage zu landen. Grusel!

Man hält sich einstweilen an Tönen fest. Da ist der schalkhafte Hirte, mit Katja Stuber die erste Gestalt, bei der man jedes Wort versteht, dicht gefolgt vom hinreißenden Wolfram des jungen Michael Nagy. Inmitten einer tapsig schunkelnden Jagdrunde empfängt er den Venusflüchtling Tannhäuser, als sänge er ein inniges Schubert-Lied auf dessen alte Liebe Elisabeth, die bei Nennung ihres Namens sofort als Schlafwandlerin hoch über einen Steg wankt. Das ist komisch. Es ist sehr vieles komisch und gruselig, anrührend und befremdlich zugleich in dieser Produktion, die aber in ihrer Polyvalenz dauernd auf Wagner trifft. Wenn etwa Elisabeth, die so fokussiert wie cremig timbrierte, wenn auch oft etwas unterm Ton bleibende Camilla Nylund, die »teure Halle« gegrüßt hat, lässt Wagner das Orchester kurz danach so abreißen, als misstraute er dem Schwärmen. Und mitten in den scheinbar so affirmativen Einzug der Gäste hat er Passagen gewoben, die man so fragend, zerbrechlich, sensibel selten hörte.

Und die man hier besonders nötig hat. Denn die Gäste sind in ihrer Mehrheit sedierte Insassen, am Alkoholator nuckelnd wie die Bewohner von Huxleys Brave New World am Soma, sektenhaft verklärt einander umarmend in einem System, das gegenwärtig positiv besetzte Begriffe wie »Nachhaltigkeit«, »Bio«, »Recycling« beansprucht und einen Totalitarismus der Effizienz ahnen lässt. Es warten schon die ökologisch einwandfreien Holzcontainer mit der Aufschrift »Rom« für den Abtransport zur Pilgerfahrt. Was diese Leute nicht mehr fragen, das fragt die Musik, traurig über die Menschen, die von einer Falle in die nächste tappen. Solche Gedanken ermöglicht Baumgarten eher, als dass er sie forciert. Sein Geflecht der Ebenen erzeugt Freiheit ebenso wie die Brecht-mäßige Brechung durch die Zuschauer auf der Bühne.

Meisterhaft, wie Baumgarten die Sängerwettstreiter zeichnet, er ist ein sensibler Karikaturist. Der hinkende Walther, der paramilitärische Biterolf und Wolfram sowieso, sie alle sind in Elisabeth auf jene verklemmte Weise verknallt, von der sie sich einzig bei Tannhäuser frei fühlt, als Einzige seiner Huldigung der Sinnlichkeit applaudierend. Wofür es, besetzungstechnisch gesehen, leider wenig Anlass gäbe. Lars Cleveman, im heimatlichen Schweden auch als Rockmusiker gefeiert, erweist sich als Inkarnation des tumben Wagner-Tenors, der am liebsten die Eins in jedem Takt betont und dann die Kraft am Ende des Tons staut, vom Text nur Vokale übrig lässt, wenn er nicht gerade ein Wort wie »unverdrossen« heraushämmert, und an szenischer Sensibilität weit hinter Nylunds Elisabeth und Nagys Wolfram zurückbleibt. Aber die Regie fängt das auf: Tannhäuser erscheint als Revolutionär wider Willen, der keine Rücksicht nimmt, weil er nichts merkt, und gern Rivalen mit Getränken begießt.

Auch Venus wohnt übrigens, noch gerundeteren Bauches, dem Wettstreit bei. Das stört keinen Wartburger, gefürchtet wird nur der Primatenkäfig im Untergrund, den sie womöglich verwaltet. Dann wäre also nicht Sex das Tabu, so wenig wie in unserer Zeit, sondern die manifeste, dreckige, haarige, äffische Regression im Käfig als Modell und Urbild der subtilen und technoiden Entindividualisierung, die oben stattfindet. Indessen bleibt das ein Gedankenspiel wie die Erwägung, ob nicht Elisabeth ihren Tannhäuser schlicht aus Frauensolidarität vorm Lynchmob schützt: Wenn Venus schwanger ist, darf der Vater ihres Kindes nicht sterben. Doch neben solchen Vielleichts bestätigt sich im dritten Akt, dass Baumgarten, Lieshout und ihre Kostümbildnerin Nina von Mechow es ernst meinen mit ihrer Deformationskritik. Es sind final Gehirngewaschene, die da aus Rom zurückkehren, sauber machende Gesäuberte.

Zuckend putzen, feudeln, schrubben sie die Dinge, einander, sich selbst, ein ganzes Kuckucksnest von katholisch Kopfoperierten, die dabei übrigens eine Glanzleistung an chorischer Genauigkeit und Sensibilität vollbringen. Es ist eine grausige, tief treffende Abrechnung mit allen Befleckungstabus, Sexverboten, Reinheitsideologien der Kirche, und Wagners Orchester erinnert erbarmungsvoll ans Leben. Wie warm, wie traurig groß pulsieren die neun Achtel der Bratschen und Bässe, taktweise im Forte angestoßen und weich verebbend! Es gibt übrigens einige überraschende Details, von denen man gern wüsste, woher Hengelbrock sie in die erweiterte Urfassung hineingenommen hat. Für eine Dokumentation dieses Materials, erklärte indessen Festspielmitleiterin Eva Wagner-Pasquier, sei im Programmheft »kein Platz« gewesen. Eine Auskunft, die den musikalischen Rang des Abends und des Komponisten patzig unterläuft.

Man ahnt, dass die Produktionsbedingungen nicht die besten waren. Bei dreieinhalb Wochen Probenzeit verzeiht man auch, dass dem Regisseur bei der Romerzählung Tannhäusers die Luft ausging, vielleicht wollte er seinen Titelhelden auch mal nach Herzenslust schreien lassen. Doch nicht den traf unter den Sängern die geballte Abneigung des Publikums, sondern die Venus. Dass Stephanie Friede die Register nicht eben geschmeidig verbindet und mit starkem Vibrato den Text verunklart, ändert nichts an ihrem Einsatz für jene Neudeutung der Rolle, für die man sie wohl mitbestrafen wollte. Am Schluss kommt das Baby im Affenstall zur Welt, während hinten Wagners berühmter Satz erscheint zu einem Werk, mit dem er auch nach sechs Fassungen nicht fertig war: »Ich bin der Welt noch einen Tannhäuser schuldig.« Na bitte, hier ist er, der Kleine! Die Szene ist voll gaga, sozusagen die Karikatur einer Behauptung und deren Transzendierung, aber irgendwie auch groß. Es fetzt halt. Man will ja auch nicht immer nur nachdenken im Festspielhaus.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 28.07.2011