Liebestod mit einem Kopflosen

Auch mit ihrem neuen Generalmusikdirektor gewann die Deutsche Oper Berlin bislang wenig Profil. Doch jetzt hat Donald Runnicles einen sensationellen “Tristan” dirigiert.

Einer wurde immer verschwiegen, weggeschwiegen. Man wusste von ihm, aber spielte er eine Rolle? Er singt ja nicht, er ist tot, von Tristan erschlagen. Morold! Er hatte von Cornwall den Tribut für Irland eingefordert, Tristan schlug ihm den Kopf ab und sandte ihn Morolds Verlobter Isolde. So was vergisst sich nicht, da kann die neue Liebe noch so rasen. Doch die Rezeptionsgeschichte von Tristan und Isolde hat die Leiche immer im Keller versenkt. Bis jetzt. In der Deutschen Oper Berlin ist Morolds glänzender Sarg von Anfang bis Ende präsent, Morold wächst schier im Sarge, während die Beziehungen der Lebenden untereinander bröckeln und bersten. Schon lange hat sich das gern als weltoffen gelobte Berliner Publikum nicht mehr so aufgeregt wie über diesen Abend.

Damit war eigentlich nicht zu rechnen. Regisseur Graham Vick, 1953 in Großbritannien geboren, hatte an deutschsprachigen Bühnen bislang nicht viel zu tun, auch nach einer Aida in Bregenz, einer Zauberflöte in Salzburg blieb der Ruf eines freundlichen Arrangeurs, mit dem Scala und Met kein Risiko eingehen. Das passte zum Kurs, den für die Deutsche Oper Berlin manche befürchteten und manche erhofften, als 2009 der neue Generalmusikdirektor Donald Runnicles antrat, der die Amtszeit der scheidenden Intendantin Kirsten Harms mit der von Dietmar Schwarz verbindet. Weil der erst 2012 anfängt, Harms aber jetzt aufhört, ist der 1954 geborene Schotte Runnicles eine prägende Gestalt an einem der größten Opernhäuser Europas, das in sechs Jahren unter Harms zwischen vielen Abstürzen und manchen Lichtblicken schlingerte.

Wer wissen will, wie unter Runnicles das Haus tickt, was ihm fehlt und warum sich sein Publikum so über Tristan ereifert, wer sich für den Alltag jenseits der Premieren interessiert und für das Profil des Generalmusikdirektors, muss zum Beispiel in eine der fast ausverkauften Vorstellungen der monumentalen Trojaner von Hector Berlioz gehen, nach wie vor ein rares Werk. Harms selbst hatte für diese Herausforderung den Briten David Pountney engagiert, Runnicles war das sehr recht, er dirigierte die Trojaner als seine erste Premiere in Berlin und wurde sehr gelobt, während die Regie bei den Kritikern bestenfalls Kopfschütteln auslöste. Beim Publikum weniger, aber tatsächlich hat Pountney Berlioz’ Fünfakter geradezu skandalös verschenkt und versenkt.

Der trojanische Beginn, unverbindlich archaisierend, ist noch auszuhalten als Erinnerung an eine Ästhetik, wie sie an Covent Garden um 1975 üblich war, danach geht es steil in die Fünfziger. Kitschigstes Ballettgehopse, kopfloses Chorgerenne, Geisterauftritte aus der Mottenkiste lassen das Desinteresse an Personenregie und Figurenerkundung noch schärfer hervortreten. Aber die Berliner gehen hin. Neben Solisten, die überragend sein können wie Anna Caterina Antonaccis Cassandra und überfordert wie Ian Storeys Énée, gibt es ja noch den Chor, oft gerühmt als einer der besten der Welt – aber dem heiklen Beginn der Trojaner sind diese Sänger in der fünften Vorstellung nicht annähernd gewachsen. Es klappert an allen Enden, die Sprache erkennt man nicht, und es hilft auch nichts, diese Defizite zu überbrüllen.

Das Orchester, von Runnicles dirigiert, zeigt vor allem die Streicher in bester Form, symptomatisch ist eine Basslinie wie im vierten Akt, sinnlich gespannt, mystisch dunkel. Die Bläser haben hinreißende Solisten, aber eine problematische Intonation. Abgesehen davon, wirkt der Klang, den Berlioz anders als Wagner nicht verschmilzt, sondern trennscharf konstruiert, erstaunlich homogen. Französischen Elan bietet Runnicles’ robustes Dirigat bei Berlioz ebenso wenig, wie er in Verdis Otello scharfe Akzente setzt oder das Gift spüren lässt, das Verdi in scheinheiligen Orchestergesten zu Jagos Intrigen wirken lässt. Das Orchester klingt dann auf sehr deutsche Weise zutraulich, aber diese Musiker haben einen gemeinsamen Impetus, einen Klang von sanfter Wucht, der sie nicht nur innerhalb Berlins unverwechselbar macht.

Vor der sperrigen Migrationsoptik, die Harald Thor für Otello auf die Bühne gestapelt hat, ließe sich spannend die Verbindung kollektiver und individueller Ängste erkunden, aber Regisseur Andreas Kriegenburg, von Verdi offenbar eher gehemmt als animiert, vertieft keine Figur, und was die Solisten angeht, ist es Glückssache, welche Besetzung man erwischt. Nach solchen Eindrücken kann man es durchaus nicht nur der Nöligkeit der Hauptstadtpresse zuschreiben, wenn unablässig von einer Krise des Hauses die Rede ist. Und man ist sich nicht sicher, ob Runnicles die Lichtgestalt ist, die das ändern könnte. Nun ist da dieser Tristan, und alles ist anders. Nicht sofort. Die ersten Takte zerfallen, obwohl Wagner »nicht schleppend« anmerkt, die Holzbläser intonieren schartig. Dann aber entdeckt Runnicles seinen Wagner auf den Spuren ausgerechnet Bachs.

Dass nämlich dieses Vorspiel ein Wunderwerk der Kontrapunktik ist, haben nicht mal Norringtons historische Instrumente so deutlich hören lassen. Hatte Runnicles Berlioz noch homogenisiert, nimmt er den Verschmelzer Wagner auseinander, gestaltet Klangfarbenflächen, die aneinandergefügt sind wie bei Cézanne, und er lässt sprechen. Das Orchester umgibt hier nicht wissend die Protagonisten, es spricht mit ihnen. Denn sie beschweigen vieles in diesem Siebziger-Jahre-Bungalow, den Vicks Ausstatter Paul Brown gebaut hat. Da sitzt Brautwerber Tristan steif im Anzug auf dem Sofa, den Sarg vor sich sehend oder auch nicht, während Isolde das Brautkleid ausprobiert und ihr künftiger Gemahl Marke nicht an ferner Küste, sondern schon hier, im Fernsehsessel, wartet. Alle sind schon da, plus ein Toter, unbehaglicher könnte die Stimmung nicht sein.

Im beklemmenden Ambiente rückt näher, was zwischen den Gestalten geschieht. Wie Tristan, von der Liebe erwischt, seinen Seelenpanzer verliert und schutzlos zum zitternden Wrack wird, das im dritten Akt durchs Wohnzimmer taumelt, ein Pflegefall für seinen Diener Kurwenal – das wird von Peter Seiffert so intensiv gespielt, dass sein schlackerndes Vibrato schon wieder passt, und wenn das Orchester parsifaleske Gesten wie zur Faust ballt, die dieser Held im Schlafrock reckt, dann hofft man für ihn. Wenn er den »furchtbaren Trank« besingt, der den »sehrendsten Zauber« erst möglich machte, ist es gar, als rede Wagner von sich und seiner Musik, aus der er selbst nicht herauskann und die hier immer deutlicher die Menschen ihrer Selbstgewissheit entkleidet.

Wie anrührend ist da der hilflose Trost des ältesten Kurwenal, den man je erlebte. Eike Wilm Schulte, 70-jähriger Wagner-Kämpe, will nicht sehen, was wir sehen, den Sarg, die Verzweiflung, die Schwäche, er bastelt seinem Herrn ein Papierschiff, rafft alle Kräfte zusammen, gute alte Schule, der Mann hat Statur, auch stimmlich noch, er tut, als wisse er nicht, dass (in Vicks Deutung) Isolde Tristan verlassen hat. Weißhaarig kommt sie, als Tristan schon hinausgetaumelt ist und nur noch aus dem Off singt, und ihren Schlussmonolog singt Petra Maria Schnitzer – intensiv, nicht verklärt – am Sarg ihres toten Verlobten Morold. Alldem hält die Partitur nicht nur stand, sie scheint darauf gewartet zu haben wie auf König Markes traurige Frage nach dem Grund des Betrugs. Wie liebevoll, wie scheu, wie sprechend ihm da die Holzbläser antworten, das ist symptomatisch für eine Verbindung von Graben und Bühne, in der einem so klar wird wie seit Langem nicht mehr, wozu Oper wirklich da ist.

Über anderes lässt sich streiten. Die Gestalten aus Welt und Psyche, die da noch herumwandern, Migranten, Halbwelttypen, paradiesische Nackte, die sonderbare Brutlampe, die wie eine Machina ex Deo über die Protagonisten wacht – na ja. Doch es scheint, als wütete das Publikum vor allem wider die Ernüchterung, die aus dem seligen Paar ein gescheitertes macht und im Orchester aus wohligem Wogen eine deutliche Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind. Wenn das den künftigen Kurs der Deutschen Oper bestimmt, wird sie keine Krise mehr haben, sondern ein Ort sein, an dem man sich mit Krisen auseinandersetzen kann. Solche Orte werden gebraucht.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 15.03.2011