Ich will hier rein! Ich will hier raus!

Zwei neue Einakter von Salvatore Sciarrino und Wolfgang Rihm zeigen die Extreme zeitgenössischer Opernmusik

Woran liegt es, wenn wir nicht weiterkommen? Wenn wir stecken bleiben? Sind die Hindernisse zu groß? Haben wir sie groß werden lassen und sind von ihnen hypnotisiert, sollten wir einfach die Laufrichtung ändern? »Was du suchst, liegt immer hinter dir«, lässt Goethe seine Proserpina sagen, die unbedingt dorthin zurück will. Nach oben, ans Licht und in die Jugend, die »vertaumelte liebliche Zeit«, aus der sie Pluto heruntergerissen hat zur Zwangsehe in der Unterwelt. Dort kommt sie nicht heraus, und gerade die Sehnsucht versperrt ihr endgültig den Weg. Bei Kafkas Mann vom Lande ist es so ähnlich und doch ganz anders. Er hat noch kein Glück hinter sich. Er kommt von unten und will, wenn schon nicht nach oben, so doch zur Gerechtigkeit. Vergeblich wartet er Vor dem Gesetz, auch er, ohne es zu ahnen, mitschuldig an der Blockade.

Er kann nicht rein, sie kann nicht raus. Zwischen Goethes Göttertochter und Kafkas namenlosem Mann liegen 137 Jahre und Welten der Ästhetik und Perspektive. Doch das gemeinsame Motiv des Festsitzens lässt aufhorchen, wenn sich zeitgleich zwei ebenfalls grundverschiedene Komponisten an diese Stoffe setzen und je 75-minütige Opern daraus machen, Konzentrate mit wenigen Instrumenten und Stimmen. In Wuppertal wurde der Einakter La Porta della legge von Salvatore Sciarrino uraufgeführt, in Schwetzingen die Proserpina von Wolfgang Rihm. Weiter voneinander entfernt können zwei Komponisten derselben Liga kaum sein als der italienische Silbenstecher »Jahrgang 1947« und der fünf Jahre jüngere Klangvulkan aus Deutschland – das Spektrum zeitgenössischer Musik war nie so weit gespannt wie heute.

Der fatale Respekt vor der Macht lähmt die gesamte Gesellschaft

Im Gegensatz zu den traurigen Helden der neuen Opern stagniert das Spektrum nicht. Salvatore Sciarrino kann man schwerlich als Masche ankreiden, was er konsequent mit jedem Werk fürs Musiktheater weiter und neu entwickelt, jenen fraktalen Stil, in dem die Worte unter enormem Druck gestaut und zerbröckelt werden, gefesselt von instrumentalen Gespinsten. Vom Flüstern und dem Gift der Eifersucht in Luci mie traditrici über die Ausweglosigkeit der Macht in Macbeth bis jetzt, im Stammeln des Mannes Vor dem Gesetz, geht es um Deformationen der Seele, die in den Worten verborgen sind. Sciarrino komponiert das Sprechen dahinter, eine Röntgensprache, die uns den Mann vom Lande ganz durchschauen lässt, wenn er abgerissen, knapp an Atem, sagt: »Nichts. Er kann es mir nicht gestatten.«

Er, das ist der Türhüter vorm Rechteck in der Wand, die Jürgen Lier für die Wuppertaler Bühne gestaltet hat wie auch den bürokratengrauen Anzug des Hüters. Der spricht »normal«, in unzerfetzten Sätzen, weniger Subjekt als Prinzip, er war schon immer da und wird immer da sein. Michael Tews sitzt da mit dem schweren Lächeln eines Leguans, ein urzeitliches Scheinlächeln, eine Maske, vor der man erschrickt, wenn sie sich gar zum Lachen öffnet und man ein knappes Posaunenfauchen hört. Doch ist dieser Beamte auch konziliant, stellt seinen Stuhl zur Verfügung, denn Jahre vergehen hier in Minuten, der Bittsteller altert, am Ende wird er sterben und gerade noch erfahren: »Das Tor war nur für dich bestimmt!« Da ist die kleine Tür längst bühnengroß geworden.

Der Regisseur Johannes Weigand, designierter Intendant der Oper Wuppertal, lässt Szene, Gestik, Mimik präzise aus der Partitur heraus entstehen. Der Bariton Ekkehard Abele, im Schlotteranzug der Armen, windet sich flehend, resignierend, bis in die Fingerspitzen spiegelt die Körpersprache die Lähmung seines Willens, seiner Worte. Unablässig und leise tremoliert ein dünnes Donnerblech, wie ein unsichtbarer eiserner Vorhang, doch ist die Situation nicht ausweglos, die sich aus kleinsten Figuren selbst zu komponieren scheint. Sind da nicht Geräusche wie allerfernste Stimmen, gibt es nicht Wutattacken, in Akkorden geballt, ist da nicht die feuchtsatte Tiefe der Kontrabassklarinette, die Trauer in drei Bratschentönen? Leben? Ja, aber er hört es nicht, und auch der nächste Bittsteller wird es nicht hören.

Im fatalen Respekt vor undurchsichtiger Macht sieht Sciarrino die Lähmung der ganzen Gesellschaft. Er hat das darum, Librettist der eigenen Oper, als Wiederholung geschrieben: Noch mal das Ganze, die Worte ein wenig anders, die Töne in gleicher Struktur und neuer Instrumentierung, diesmal ist der Mann Countertenor (Gerson Sales), während die weite Öffnung sich zur Tür verengt. So könnte, so wird das ewig weitergehen, zeigt Sciarrino resigniert, doch in seinem zur Form erhobenen Pessimismus stellt sich Klarheit ein. In seinen Tönen durchschauen wir die Lähmung. Im Stauen und Stottern der Bittsteller, in ihrem flachen Ambitus, ihrem Repetieren, in dieser reduzierten Sprache der Defizite entdecken wir Schönheit und Möglichkeiten, so, wie das durchsichtig unzerreißbare Gespinst der Instrumente dauernd neue feine Farben hervortreibt – auch dank des unter Hilary Griffith exzellent agierenden Orchesters. In dieser vielleicht strengsten aller Sciarrino-Partituren blüht uns eine subtile Vielfalt entgegen, die wie ihre szenische Umsetzung so frei ist von allem Luxus und aller Behauptung, in jeder Nuance so dringlich, dass einem der Geist offen wird für Realität. Das harte, geschundene Wuppertal draußen ist danach keine Ernüchterung, eher eine Herausforderung.

Schnitt: von der Problemstadt ins Spargelparadies, Schwetzinger Festspiele, Schlosstheater mit einem Park, dessen Schönheit betört, einer Rokokoidylle, die ihrerseits eine Herausforderung ist für die Regisseure, die hier alljährlich eine zeitgenössische Oper inszenieren. Kann man neben Brünnlein und Beeten Bilder finden für die Konflikte, die Beengung, die Entfremdung, um die es in so vielen neuen Opern unserer Jahre geht? Es gelang hier schon oft.

Auch Wolfgang Rihms Proserpina vereint kammerorchestral ein paar Streicher mit ebenfalls prominent eingesetzter Viola, Bläser, auch tiefe, und Schlagzeug. Doch von Anfang an fluten hier raumgreifend die Klänge, von Stößen durchsetzt, von knurrenden Crescendi aufgeheizt, und tragen den Gesang der Solistin, die in mitunter schier Straussschem Duktus von Glanz und Elend singt, sich in allen Lagen, ob hoch, ob tief, ob selig oder entsetzt, verströmen darf, das schiere Gegenteil der abgeklemmten Vokalgesten bei Sciarrino und nicht weniger anspruchsvoll: Dieses Monodram verlangt von der Sopranistin Extreme an Technik, Gestaltungskraft und Bühnenpräsenz. Auf ihre Gefangenschaft reagiert diese Figur mit vokaler Befreiung. Anders gesagt: Wäre da nicht der Text, man würde eher Lust als Verlust in der Musik hören. Doch Wolfgang Rihm hat als Komponist auch einen völlig anderen Weg genommen als der auf Monteverdis Spuren am Wort arbeitende Sciarrino. Er begann zwar mit konventionellen Libretti, hat dann aber Texte in Klangeruptionen zerschmolzen wie in Tutuguri, hat ihren musikalischen Gehalt freigelegt jenseits allen Sprechens, Textfetzen als Material zusammengestellt oder gar nur, wortlos und ortlos, als Assoziationsbasis verwendet, auf der er Klänge meißelt, malt und übermalt. Seit einigen Jahren entdeckt Rihm die Geschlossenheit der Dichtung neu, besonders die großen verzweifelten Frauengestalten, Kleists Penthesilea, Botho Strauss’ Frau im Gehege. Seither durchwebt kantabel expressiver Gesang sein Klangfluten, das sich in größeren Besetzungen zur Spätromantik verdickt.

Ein Gynäkologenstuhl verbreitet dekorativen Schrecken

In Proserpina weht dieser Tendenz frischer Wind entgegen. Obwohl man immer mal tonale Zentren ahnt in Vorhaltsbildungen oder Terzenidyllen, bleiben doch eine Schroffheit, Unberechenbarkeit, Wendigkeit und etwas seltsam Rohes inmitten weit schwingender Bögen. Da ist Rihm den Sprachfarben Goethes überraschend nah, dem Archaischen, Frühen, Gärenden, wo »dumpfe Gewitter tosend sich erzeugen«. Die Gefangenschaft der Göttertochter ist eher ein Rahmen, der die Ausdruckswucht fokussiert. Mit dieser Wucht muss die Regie klarkommen, der Wolfgang Rihm auch die Frage überlässt, was dies bedeuten könnte. Warum ist Proserpina hier, warum entkommt sie nicht? Wofür steht der Biss in den Granatapfel, der ihr (in Goethes Version) für immer den Ausweg verschließt? Gefällt ihr die Ehehölle doch irgendwie?

Den Regisseur Hans Neuenfels interessiert das nur in Maßen. Mit drei stummen Männern umgibt er die Sängerin, einer davon ist der schöne Pluto, dem Proserpina halb willig, halb widerwillig die Brust küsst und der sich, während sie sich nach Granatapfelgenuss hinter einen weißen Vorhang zurückzieht, um rhythmisch zu seufzen, verzückt an die Lenden greift. Der klamme Symbolsex passt ins neoklassische Ambiente von Gisbert Jäkel – ein klinisch reines Säulenrondell, in dem ein düsterer Gynäkologenstuhl dekorativen Schrecken verbreitet. Mal wird die Heldin ein wenig gefesselt, mal reckt sie verklärt die Hände nach oben, von wo sich dann erschröcklich eine gewaltige schlafende Fledermaus herabsenkt. Zum tragenden Thema wird nichts in diesem hilflosen Arrangement, weder die Ambivalenz der Heldin noch die Ausweglosigkeit, weder ihre Lebenslust noch ihre Verzweiflung. Was den Abend trägt, ist die grandiose Präsenz, Kunst und Selbstverausgabung der Sopranistin Mojca Erdmann, sekundiert von achtzehn unsichtbaren Damen des SWR-Vokalensembles.

Warum unsichtbar? Was könnte man mit so einem Chor auf der Bühne anstellen! Doch Neuenfels fehlt diesmal die Neugier, die ihn beim Angriff aufs bewährte Repertoire so oft beflügelte. Manchmal, das lehrt der Abend, kommen wir gerade deswegen nicht weiter, weil ein Hindernis fehlt. Und Rihms Musik, vom SWR-Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter Jonathan Stockhammer wunderbar gespielt, lässt viel offen: eine Tür, vor der kein Hüter sitzt.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 07.05.2009