Kaputte Paare, die erwachen

Claus Guth inszeniert, Harnoncourt dirigiert Mozarts “Figaro” in Salzburg als herbstzeitlose Partnersuche

Der Herr in Reihe 9, Parkett, Ticket für 600 Euro, liest seiner Begleiterin den Namen mit einer gewissen Ratlosigkeit vor. ” Lorenzo da Ponte” Muss man den kennen? Aber man ist ja wegen Mozart hier. Mozart und Anna Netrebko und Harnoncourt. Und Gottschalk. Der hat seinen Auftritt in der Pause. Er wird lachen und winken. Eine Dame im ersten Rang regt sich auf, dass die Netrebko nur zwei Arien ganz für sich hat. Wie kann man sie so unterbeschäftigen? Der Hinweis, dass Mozart selbst für diesen Fehler verantwortlich ist, besänftigt sie kaum.

Immerhin zahlt man auch im Rang noch mindestens 100 Euro für die prominenteste von 22 Premieren sämtlicher Mozartopern. Für einen Parkettplatz soll eine Japanerin 10000 Euro geboten haben. Vergebens.

Noch ehe der erste Ton von Le nozze di Figaro in Salzburg erklang, hatte sich die Brandung des Mozartjahres zu einem Tsunami aus TV-Rummel, Glitzeria und Marketing erhoben, der alles zu verschlingen drohte. Die Stadtväter waren ohnehin längst durchgedreht und hatten Designerasphalt mit Goldpartikeln auf der Festspielpiste verlegen lassen. Das Zeug hielt der Hitze nicht stand und bekam Bremsspuren, bei deren notdürftiger Entfernung auch der Goldglanz wich, bis die Hofstallgasse “gaggerlgelb” aussah. Auf anschauliche Weise ging da der Hype nach hinten los. Würde wenigstens die Akustik den Test bestehen, im neu gestalteten Festspielhaus? Und würde in all der Hysterie das Musiktheater noch atmen können?

Der Graf hat eine Macke, die seine Angestellte Susanna fasziniert

Als Nikolaus Harnoncourt den hochgefahrenen Orchestergraben betrat, blickte er, mit schwarzem Schlabberhemd bekleidet, kurz freundlich ins Publikum, als begänne bloß eine Generalprobe. Und mit den ersten Tönen verschwand der Druck im Saal wie ein Spuk. Harnoncourt dirigiert die Ouvertüre eigentlich schrecklich langsam. Seinen Gründen dafür es ist nun mal in der Partitur kein “alla breve” notiert lassen sich andere entgegensetzen. Nicht aber der sanften Intensität, der Transparenz, dem untergründigen Fließen, das die Wiener Philharmoniker hier hören ließen in vollkommen klarer und dabei nicht zu harter Akustik. Die Musik schien weniger ein Ziel zu haben, als etwas sichtbar zu machen, einen Raum, ein sanft leuchtendes Universum, fröhlich und elegisch zugleich.

Innerhalb des hörbaren Zeitmaßes schienen sich andere Tempi zu bilden, mal Stromschnellen, mal stille Stellen, an denen Töne zu betrachten waren wie Blätter an einem Baum. Man war fast überrascht, als irgendwann auch der Vorhang hochging und ein Ambiente enthüllte, das Harnoncourts Gelassenheit entwachsen zu sein schien. Sanftes Licht fällt ins große, gilbend weiße Treppenhaus eines Herrenhauses.

Christian Schmidt hat es entworfen. Keine Möbel. Durchs schmale Fenster links sieht man Herbstlaub an einer Mauer. Eine Treppe führt zu unsichtbaren Etagen. Drei Paare stehen hier und da wie im Dornröschenschlaf. Nüchtern und poetisch zugleich ist das Bild einer der raren Anfänge, bei denen man ahnt, daraus kann viel werden. Aber ist es nicht schon zu viel, dass nun ein Engel durchs Fenster steigt?

Ein Jüngling im Matrosenkostüm mit kleinen weißen Flügeln, ein Cupido weckt die Paare.

Doch ehe das kitscht, ist der Engel entwichen, und im Hause Almaviva geht es scharf zur Sache. Während Susanna ihrem Figaro noch erklärt, was der Graf vorhat, zerrt der sie schon in sein Zimmer. Die Befürchtung, hier werde nicht Anna Netrebko als Susanna, sondern Susanna als Netrebko auftreten, zerstreut sich schnell. Ihre starke Präsenz geht in der Rolle auf, ihre Stimme im Ensemble. Ein energisch schlanker, leicht dunkler Sopran, eher sich anpassend als herausfunkelnd. Fast hat diese Zofe in ihrem Selbstbewusstsein etwas Abwartendes. Regisseur Claus Guth lässt offen, zu wem es sie wirklich zieht. Ihr Verhältnis zum Grafen ist aggressiv und verstört auf beiden Seiten. Der Macho hat eine Macke, die seine Angestellte fasziniert.

Bo Skovhus eckige Körpersprache und leicht steiniges Timbre passen perfekt zu einem gespaltenen Typen im schicken Anzug. Ein Hüne, der sich zu groß ist, der sich nach jedem Kuss, den er Susanna abnötigt, entsetzt den Mund abwischt, der seine Gräfin nicht mehr begehrt, aber so eifersüchtig ist, dass die Eifersucht in Gier umschlagen kann oder in enorme Komik, wenn er mit einer gewaltigen Axt über der Schulter einmarschiert. Während Susanna das Komplott zu seiner Demütigung vorantreibt, wächst ihre Nähe zu ihm, und während die Hochzeit naht, wächst ihre Ferne zu Figaro. Später, im Brautkleid, strahlt sie fühlbar Kälte aus gegenüber dem munteren, neurosefreien Bräutigam.

Nie wurde Figaro so sehr zum Würstchen degradiert wie hier

Der ist mit Ildebrando dArcangelo stimmlich bestens besetzt, markant, flexibel aber nie wurde Figaro im psychologischen Gefecht und Geflecht so sehr zum Würstchen degradiert wie hier. Susanna hat die richtige Liebe noch gar nicht gefunden. Sie sucht, ohne es zu wissen, und ist nur an Erfahrung dem Pagen Cherubino überlegen, der pubertär erwachend alle Frauen liebt. Er trägt, man ahnte es, den nämlichen Matrosenanzug wie der Cherub, er ist dessen irdisches Double im Zeichen der Hingabe. Sein Non so più wird von Harnoncourt noch schneller dirigiert als vor zwölf Jahren in Amsterdam, wegen “alla breve”. Es ist schade um die Achtelwellen der Streicher, aber Christine Schäfer ist hinreißend.

Ihr weich flammender Cherubino würde Susannas spöttische Distanz wohl auch brechen, ohne dass der Engel und jähes Dämmerlicht mithelfen und trotzdem wirkt das nicht gedoppelt. Auch nicht, als zöge dieser Geflügelte, der magisch stille Uli Kirsch, alle Schicksalsfäden. Das versucht er zwar immer mal wieder, mitunter sogar mit Gewalt, aber eher ist er ein Emissär des Publikums, ein aktiver Zuschauer, der das Geschehen überblickt, der Wünsche an die Gestalten hat. Als allegorische Figur verweist er auf die archaischen Muster in dieser Oper: Menschen als Ausdruck der Mächte, die sie umtreiben. Sie bleiben hier zwar autark. Der stärkste Moment des Abends ist aber der, in dem drei sich selbst vergessen und einander hingeben in vollkommener Freiheit.

Und tatsächlich geschieht in der Verkleidungsszene zwischen Gräfin, Susanna, Cherubino und dem Orchester etwas, was oft nur ohne Publikum, in der Unbefangenheit von Proben gelingt und dann nie wieder. Wie beide Frauen und der Knabe dem Eros verfallen, den Harnoncourt unendlich nuancenreich aus der Partitur blühen lässt, wie umgekehrt das Continuo ihnen folgt in flexibelster Gestaltung der Rezitative, während sie einander erforschen diese Intimität ist in Musik geboren und geborgen. Sie weiß nichts vom Publikum, von den Kameras, von Harald Schmidt, der oben auf dem Dach die Live-Übertragung kommentiert.

Wer sah, wie die junge und doch um ihre Jugend schon Trauer tragende Gräfin (anrührend: Dorothea Röschmann) fröstelnd vor Verlassenheit in der Ecke stand, versteht ihre Befreiung zur Nähe ebenso wie die der Susanna, die sonst nur von besitzergreifenden Männern umgeben ist, bis hin zum zynisch kalten Musiklehrer Basilio (Patrick Henkens). Diese Männer ahnen in Cherubino mit Recht ihren größten, weil hingebungsvollsten Rivalen. Die Militär-Arie wird zur brutalen Demütigung des Knaben. Graf und Figaro vollziehen sie gemeinsam und werden dabei selbst zu Soldatentieren. Ihre verkantete Sexualität mündet in Gewalt. Aber das ist eben nur eine Wahrheit über diese Männer.

Eine andere ist die strindberghaft verzweifelte Verbindung zwischen Graf und Gräfin, beide schier zerfetzend just da, wo sie bei anschwellendem Marsch zur Hochzeit ihrer Untergebenen schreiten. Die Radikalität dieser Inszenierung liegt in der Klarheit, in der kaputte und mögliche Beziehungen deutlich werden. Weder der revolutionäre Kontext der Entstehungszeit interessiert den Regisseur noch die Anwendbarkeit dieser Oper auf dezidiert gegenwärtige Daseinsformen. In der Herbstzeitlosigkeit des schmucklosen Herrenhauses geht es um Männer und Frauen, das ist Gegenwart genug.

Gefährdet ist die Produktion durch einen leisen Mangel an Unberechenbarkeit, eine Patina des Gelingens. Davor schützt Mozart selbst, doch der Regisseur scheint am Ende Angst vor der eigenen Stringenz zu bekommen. Sein vierter Akt scheitert vollständig. Die Statik der Arien, die Mozart als Staustufen vorm grandiosen Finale einzieht, hat Guth mit isolierten, bemühten Rampenauftritten vor einer Türenwand so verstärkt, dass es zur Schubumkehr kommt. Und während die Wand hochfährt, stürzt der Abend in Konfusion. Überall Magie und Spiegelungen – in wildem Aktionismus ist Mozarts und da Pontes Verwechslungsspiel nicht mehr zu verstehen. Anna Netrebko findet für ihre Rosen-Arie keinen Ort und klingt unpoetisch, fast hart. Dass Harnoncourt im Finale alle Zuspitzung verweigert, macht die Sache auch nicht besser.

Doch davon werden die ersten drei Akte nicht schlechter. Die bleiben.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 03.08.2006