Ein Spiel mit hohem Risiko

Die Mailänder Scala erhebt sich wundersam aus der Asche. Stéphane Lissners Neustart mit Daniel Harding, Luc Bondy und Mozarts Idomeneo

Von den Schultern der Reiter bis über die Pferdehintern wallen die schwarzen Umhänge, rot leuchten die Federbüsche über den Zweispitzen der Carabinieri, Blaulichter und Blitzlichter zucken in der Dämmerung. Die Oper hat begonnen. Die Oper vor der Oper. Wenn in Mailand das Teatro alla Scala seine Saison eröffnet, ist das ein Staatsakt, ein Ritual mit Demonstranten und Zaungästen, mit Polizei zu Pferd und zu Fuß, mit Prominenz und Paparazzi, die von einer vorfahrenden Limousine zur andern jagen. Zur Protestrockmusik derer, die es abscheulich finden: La cultura fa paura, steht auf einem Plakat, Die Kultur macht Angst. Man könnte das alles nicht gespenstischer, grotesker inszenieren.

Die Scala ist das Opernhaus, auch für die, die nie drin waren. Ein Mysterium, eine geschlossene Anstalt, ein von Nebeln umwallter Tempel. Ob da gerade gesungen wird oder gestreikt, inszeniert oder intrigiert, immer scheint sich hier Italien zum Konzentrat zu verdichten. Keiner weiß genau, was vorgeht, bis heute ist nicht ganz klar, wie im letzten Frühjahr der Rücktritt des Chefdirigenten Riccardo Muti und der Sturz zweier Intendanten kurz nacheinander zustande kamen. Und zwar, nachdem der Prachtbau von 1778 gerade für 61 Millionen Euro renoviert worden war. Rund um den schönsten Zuschauerraum der Welt lag die Scala künstlerisch in Trümmern, halb erstickt an Intrigen und jahrzehntelanger Stagnation.

Das besiegte Seeungeheuer erweist sich als Lappen aus Plastik

Wie also ist es möglich, was nun geschieht vor 2000 Gästen? Da steht statt eines reifen Maestros ein blutjunger Engländer vorm Orchester und lässt Mozart ohne Vibrato federn. Da inszeniert den Idomeneo ein Meister jener individuellen Personenregie, von der man an der Scala nie etwas wissen wollte, da singen unverbrauchte junge Solisten, bei denen man jedes Wort versteht, und statt antiker Säulen erhebt sich ein kubistischer Klotz neben Sandhügeln. Dass überhaupt der 29-jährige Daniel Harding, Dirigent, und der 57-jährige Luc Bondy, Regisseur, an der Scala eine Oper produzieren, die keineswegs zu den Rennern zählt, ist schon ein Wunder – erst recht aber eingedenk des Schlamassels, in dem das Haus zu versinken drohte.

Bis Stéphane Lissner kam. Lissner ist 52, Franzose, ein schlanker, fast zerbrechlicher Mann mit heiterem Gesicht. Er wurde berühmt als innovativer, instinktsicherer Chef des Pariser Théâtre du Châtelet und vor allem des Festivals von Aix-en-Provence, und er ist seit 227 Jahren der erste Nichtitaliener, der die Scala leitet. Italienisch spricht er nicht, seine Assistentinnen verständigen sich mit ihren Mailänder Kollegen auf Englisch.

Aber mit Lissner und der Belegschaft der Scala sei es, sagt er, wie mit zweien, die sich mögen. Gegen die Belegschaft kann man hier nicht arbeiten.

Die hatte sich beim Chaos im Frühjahr in Räten organisiert, demonstrierte gegen die Willkür der Sponsoren, stellte Bedingungen. Sie wollte Aufbruch.

Von denen, die als Intendanten infrage kamen, traute sich nur Lissner, und er sorgte erst mal für Klarheit. Als der Regierungschef Berlusconi erklärte, von den 1000 Mitarbeitern der Scala würden nur 400 gebraucht, erwiderte der designierte Intendant, es seien 745, und zwar unverzichtbare. Als erwogen wurde, den italienischen Kulturhaushalt um 164 Millionen zu kürzen (allein der Scala-Etat liegt bei 120 Millionen, aus privaten wie öffentlichen Mitteln und Einnahmen), muss Lissner besonders deutlich geworden sein. Noch war mein Vertrag nicht unterzeichnet, sagt er. Jetzt ist nur noch von 64 Millionen Kürzung die Rede. Es wird noch weniger werden. Und gestern hat uns die Provinzregierung zum ersten Mal einen Zuschuss versprochen – fünf Millionen

Wollen jetzt alle den Aufbruch? Und wenn ja, wie heftig? Musikalisch ist die Premiere ein Spiel mit hohem Risiko. Man traut seinen Ohren nicht, so luftig, fast trocken spielt das auf romantische Schwerlast geeichte Orchester Mozarts frühes Meisterwerk, diese letzte, geniale Verdichtung der Opera seria. Der historischen Aufführungspraxis folgen die Musiker nicht kosmetisch, sondern grundsätzlich. In der Ouvertüre wirkt der Klang noch schüchtern, Mittelstimmen gehen unter. Und später wünscht man sich manchmal mehr Tiefe und Glut. Aber selten hat man Mozarts Klangfarbenexperimente so fein gehört.

Seltener noch wird so sensibel und doch aktiv begleitet – besonders schwierig, wo vier Charaktere sich überkreuzen. Da ist der Kreterkönig Idomeneo. Er hat dem Neptun unfreiwillig seinen Sohn als Opfer versprochen und stürbe lieber selbst. Da ist der Sohn, der den Opfertod im Kampf gegen ein Meeresmonster suchen will, aber Ilia liebt, die Trojanerprinzessin. Sie hat Angst um ihn. Und da ist Elettra, die nur noch Rache will, weil der Königssohn sie verschmäht. Sie alle führt Mozart in einem Quartett zusammen, und es wird mit diesem Orchester ein Ereignis von herzbewegender Intensität, so transparent, dass man zwischen den Tönen ins Weite gucken kann, bis zum Horizont. Der allerdings ist ziemlich kitschig geraten: große pastellne Meerestableaus wandern langsam hin und her.

Diesem Bühnenbild von Erich Wonder entspricht Regisseur Luc Bondy eher als den Erwartungen einer originellen Interpretation. Auch wenn er die Liebe der Königskinder anrührend inszeniert, machen ihn das Übersinnliche, Symbolistische, auch klassizistisch Erstarrte des Librettos merklich ratlos.

Die Kostümierung verweist auf die 1930er Jahre, die Opfer Neptuns werden in Plastiksäcken an den Strand gelegt wie nach einem Tsunami. Das besiegte Seeungeheuer erweist sich als dreißig Quadratmeter großer Lappen, rosafarben und zuckend – eine Requisite wie aus einem billigen Science-Fiction-Film, so eklig wie harmlos.

Die wahre Oper nach der Oper ist das Dinner der 600 erwählten Gäste

Bondys Zurückhaltung könnte durchaus im Sinne des listigen Lissner sein.

Schritt für Schritt will er die Konservativen ins Neuland locken. In dieser Saison gibt es den beschaulichen Onegin der 1994er Glyndebourne-Produktion und Mozarts Figaro in einer angestaubten Strehler-Regie, aber auch Robert Carsens kluge Antwerpener Inszenierung von Janáceks Katja Kabanova, neu kreiert werden Purcells Dido and Aeneas (mit Hogwood am Pult und dem Regisseur Wayne McGregor), eine Uraufführung des Italieners Azio Corghi und ein Don Giovanni in Peter Mussbachs Psychoanalyse. Später will Lissner es auf sechs Novitäten pro Spielzeit bringen. Und einen musikalischen Leiter finden.

Manche munkeln, er wolle Riccardo Chailly den Leipzigern entführen, aber Lissner meint, er brauche zwei Jahre, um mit dem Orchester den Richtigen zu finden. Für den Start jedenfalls ist Harding ideal, ein kluger Feuerkopf, bei dem die Stimmen von Steve Davislim (Idomeneo), Monica Bacelli (Idamante) und Camilla Tilling (Ilia) aufblühen, vor allem aber die Elettra von Emma Bell enormen Ausdruck entfaltet. Zu ihr ist auch Luc Bondy am meisten eingefallen. Mit halb getriebenen, halb gefesselten Bewegungen wird sie zum Raubtier der Leidenschaft, in Eifersucht gefangen – eben die große, verletzte Frau, ohne die keine Oper auskommt, seit es Oper gibt.

Die Scala ist selbst so ein Wesen. Emma Bell wird gefeiert wie niemand sonst an diesem Abend, während Bondy ein paar Buhs einstecken muss: Vermissen die Mailänder wirklich ihren Schnörkelkram? Nach dem letzten Vorhang ist jedenfalls alles wie gehabt, die Oper nach der Oper beginnt. Eine Schlange glänzender Limousinen kriecht von der Scala zum Palazzo Reale, wo 600 Erwählte sich zum traditionellen Eröffnungsdinner treffen. Rasch vergessen ist das Gewitter, mit dem Luc Bondy dem Idomeneo das Happy End hat verhageln wollen. Die wirklich gefährlichen Gewitter entstehen in der Scala jenseits der Kulissen. Wenn der neue Chef als Blitzableiter taugt, wird es ihm an Energie nicht mangeln.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 15.12.2005