Zen und die Kunst, Wagner zu lieben

»Tristan und Isolde« als prominent besetzte Peinlichkeit an der Pariser Opéra Bastille

Mitten im eher proletarischen 12. Arrondissement geht es diesmal zu wie in Bayreuth. Im Verkehrslärm vor der Opéra Bastille stehen Wagnerianer und halten ihre Schilder hoch: . Anders als auf dem Grünen Hügel tragen die Kartensucher hier aber auch Jeans, Paris ist demokratischer. Und etwas preiswerter. Selbst an der Kasse warten vor der zweiten Vorstellung von noch gut hundert Menschen auf ein Wunder. Die Produktion ist ausverkauft bis zum letzten Abend, und schon vorm ersten wurde sie als Gipfeltreffen beraunt – inszeniert von Regiegenie Peter Sellars und bebildert von Videopapst Bill Viola, dirigiert von Esa-Pekka Salonen, gesungen von Waltraud Meier und Ben Heppner – eine schöne Mischung aus Glamour und Unberechenbarkeit, überwölbt von der Verheißung, man werde hier die Spiritualität neu entdecken. Durch Liebe zum Leiden, zum Tod, zur Erlösung …

So etwas möchte man sich gern zeigen lassen von einem Regisseur, der Don Giovanni zum Fixer machte, Così fan tutte ins Café verlegte, in Opern stets das »wirkliche Leben« suchte und dabei eher durch Präzision als durch Bekennertum auffiel. Und dass der 47-Jährige in letzter Zeit zum Buddhismus neigt, muss bei Richard Wagner ja nicht schaden. Auch einem Künstler wie Bill Viola, der das riesige Gasometer von Oberhausen zur Videokathedrale projizierter Wasserkünste machte, traut man belebende Impulse für die(se) Oper zu. Die liefern dann Salonen und das Orchestre de l’Opéra National de Paris mit einem Vorspiel, wie man es so weit gespannt und spannend selten hörte. Die ersten Takte heben sich wie eine Insel aus dem Schweigen, von einer ungeheuren Pause gefolgt und dann von Stürmen, die nicht aus der Seele, sondern gleichsam objektiv aus der Natur zu kommen scheinen. Unheimlich.

Da ahnt man, wohin es gehen könnte. Manchmal sind Ahnungen das Schönste. Hier weichen sie bald der Eindeutigkeit. Vorhang auf für ein gewaltiges Projektionsrechteck. Darauf wogt das Meer, Brandung umschäumt Fels. Nicht nur, weil Tristan und Isolde ja auf einem Schiff unterwegs sind, sondern weil das Wasser von Bill Viola als Element der rituellen Reinigung gezeigt wird. Das steht im Programmheft, man versteht es aber auch, weil in dem Video nach den Wellenspielen ein Mann und eine Frau, mittelalterlich gewandet, sich langsam und feierlich entkleiden, jeweils von einer Aura umstrahlt und von priesterähnlichen Senioren assistiert, welche dann die Nackten aus großen Amphoren mit Wasser begießen. Dass die Musik derweil vom Erwachen ungeheuerlicher Liebesglut erzählt, wäre mit der Bilderbotschaft vielleicht vereinbar, käme die nicht als so schauerlich klammer Sakralkitsch daher.

Violas Video macht nicht nur inhaltlich alles platt, sondern auch durch die pure Dominanz der großformatigen Filmsequenzen. Im Halbdunkel unterhalb der Leinwand können Tristan, Isolde und ihre beiden Diener nicht viel Theater oder gar Liebe machen. Statisch geht es da zu rund um einen schwarzen Quader, mit einem stereotypen Gestenvokabular, das weder ins Rituelle stilisiert noch ins Persönliche differenziert wird, die Mimik ist im Dämmerlicht nur mühsam zu erkennen. Als »Zen-Haltung« bezeichnet Peter Sellars die Ratlosigkeit, mit der er unter Bill Violas flacher Bilderflut seinen Job aufgibt. Weil er keinem in eine Identität hineinhilft, wirken die großen Liebenden mitunter unfreiwillig wie ein genervtes Ehepaar, das gerade noch den Streit vermeidet. Waltraud Meier wie Ben Heppner brauchen ungewöhnlich lange, um wenigstens als Sängerpersönlichkeiten frei zu werden und ihre Hörer zu fesseln.

Das gelingt im zweiten Akt vor allem Brangäne und König Marke – Ivonne Naef mit traumschönem, fokussiertem, warmem Mezzo, Franz-Josef Selig mit reichem, beweglichem Bass, so getroffen und so anrührend, dass Tristan sich zu Recht schämt, ihm die Braut genommen zu haben. Auf der Projektionsfläche sieht man derweil weniger Wasser und mehr Feuer und gelegentlich ein knutschendes junges Paar wie aus einem Siebziger-Jahre-Aufklärungsfilm. Dass »das einzige Heil im Schmerz der Trennung liegt« (Viola), erschließt sich dabei nicht. Umso schmerzlicher ist die Trennung, die zwischen Bühne und Musik stattfindet. Denn Letztere ist an Differenzierungskraft der Videokunst weit voraus. Die bleibt hier verklemmt im Rahmen, anstatt ihn zu sprengen. Vielleicht ist Bill Viola ja aus lauter Respekt vor Richard Wagner in eine Schreckstarre verfallen, die von seinen Ideen nur bewegte Plakate übrig lässt.

Man mag wirklich nicht mehr hinsehen, wenn im dritten Akt über dem toten Tristan sein Videodouble sich als Astralleib durch blubbernde blaue Wasser erhebt, dem Licht entgegen. Zu dieser Mischung aus Duschgelwerbung und Missionsarbeit würden Weichspülklänge aus dem Synthi besser passen. Aber Waltraud Meier, die da sowieso nicht hingucken muss, ist inzwischen ganz bei sich und singt den Liebestod zum Weinen schön. Und Salonen, souverän und konzentriert, entdeckt in der Partitur Berliozsche Farben und Janá‡eksche Realitäten und eine Musik, die sich von ihrem Komponisten emanzipiert hat, die nicht mehr überwältigen und narkotisieren muss, sondern einfach da ist, Weite erzeugend in all ihrer Vielfalt und Notwendigkeit. Auf ein gelungenes Gipfeltreffen von Musik und Szene indessen wartet man so vergeblich wie zuvor die Kartensucher auf ein Wunder. Nur länger. Gut fünf Stunden währt der Abend. Und nach der zweiten Pause bleiben viele Plätze frei.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 21.04.2005