Treibhausblumen, früh gepflückt

Sieger und Vernichtete beim “Concours Reine Elisabeth”, dem wichtigsten Geigenwettbewerb der Welt

Um 21 Uhr ahnt Oleg Kaskiv, dass es mitten in Europa noch rituelle Menschenopfer gibt. Und dass er eines von ihnen werden könnte. Seine linke Hand ist fest geworden. Das kann jedem mal passieren, ist aber ungünstig, wenn man gerade den fingerbrecherischen Solopart der Symphonie Espagnole von Edouard Lalo spielt. Erst recht, wenn die belgische Königin zuhört und weitere 2000 Anwesende, ganz abgesehen von den Tausenden, die an Radios und Fernsehgeräten den immer noch wichtigsten Geigenwettbewerb der Welt verfolgen, den Concours musical international Reine Elisabeth de Belgique

wenn man einer von 12 Finalisten ist und hinter einem das Nationalorchester brodelt.

Man kann in so einem Moment nicht sagen: “Sorry, meine Hand will im Moment nicht, wir machen in zehn Minuten weiter”, wie bei einer Plattenaufnahme.

Dafür hat Kaskiv nicht seit dem sechsten Lebensjahr bei den Eltern, auf Spezialschulen, schließlich bei Meistern das Geigen erlernt. Es muss also gehen.

Der 23-jährige Ukrainer hat die Noten tausendmal geübt. Und nicht nur die von Lalo, sondern auch drei Paganini-Capricen, Solosonaten von Bach und Bloch und Ysaÿe, Virtuoses von Szymanowsky, Sarasate und Bartók, ein Violinkonzert von Bruch, eins von Mozart, eine Sonate von Mendelssohn und zwei frisch komponierte Pflichtstücke, von denen das Schwierigere erst eine Woche vorm Finale überreicht wurde. So viel wird verlangt beim Concours Reine Elisabeth.

Und das alles ist gut gegangen. Wer es bis hier geschafft hat, in die letzte Runde nach vier Wochen Dauerstress, kann sicher sein, dass der Rest des Geigerlebens nicht mehr anstrengender wird, und ist quasi weltraumtauglich.

Doch für manche wird es genau jetzt zu viel, nicht nur der Muskeln wegen. Sie spüren plötzlich einen Druck, den sie bis dahin ignorieren konnten.

Bizarre Lanzenstechereien

Kaskivs Verhängnis an diesem Abend reicht eigentlich zurück bis in die Antike, als der Satyr Marsyas, ein Flötist, den Leierspieler Apollo zum musikalischen Wettstreit forderte. Der Sieger sollte mit dem Verlierer nach Belieben verfahren dürfen. Beide waren ebenbürtig – aber Apollo gewann. Dann hängte er den Verlierer an eine Pinie und zog ihm die Haut ab. Damals diente die Musik auch der Rivalenvernichtung. Von allen Künsten ist sie dem Unterbewussten am nächsten, und etwas von der alten Gewalttätigkeit, der Wahl der Waffen und von Circus maximus glüht noch in jedem Interpretenwettbewerb.

Entscheidend ist nicht, ob die Nachwelt den Lorbeer bestätigt oder belächelt.

Entscheidend ist die Manege.

Unter dem Lächeln der Königin Fabiola oben auf dem Balkon drängt sich ein Publikum wie einst zu Ritterspielen. Gehobenes Bürgertum, steinalter und steinreicher Adel, Greisinnen in pastellfarben wehendem Chiffon mit Raubvogelköpfen unter hoher Frisur, junge Göttinen in Haute Couture, Herren im Maßanzug, dazwischen Agenten, Geigenbauer, Kritiker, Besessene. Eine Reihe verschwiegener Gestalten bleibt auf Distanz. Stets betreten sie als Letzte vor der Königin unter Applaus den Saal. Das sind die Killer. So hat der Geiger Isaac Stern, selbst oft einer von ihnen, die Jurymitglieder in Brüssel genannt. Es sind alles nette, ältere Prominente, aber sie fällen nun mal die Urteile. 67 von 79 Kandidaten haben sie bereits fortgeschickt. Traf es die Richtigen? Es wäre peinlich, ein Genie zu übersehen, so etwas hat anderswo schon zu Skandalen geführt. Außerdem hat der Reine Elisabeth 50 Jahre nach seiner Gründung einen Ruf zu verteidigen gegen rund 40 weitere Wettbewerbe für Geiger, die zum Teil doppelt so hoch dotiert sind: In Hannover und Indianapolis werden dem Sieger 50 000 Mark überreicht. Und obwohl in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Wettbewerbe ausgeschrieben wurden, wirken sie zunehmend wie ein Anachronismus. Auf welchen ästhetischen Kanon beruft sich eine Jury in so pluralistisch entgrenzten Zeiten? Werden hier nicht eher darwinistische Gelüste ausgelebt als musikalische Wonnen ausgekostet? Junge Talente verformt? Letzteres befürchtete schon 1904 der Geiger Eugène Ysaÿe.

Die Vorbereitung junger Musiker auf Wettbewerbe, schrieb er, “unterdrückt ihr künstlerisches Interesse und führt zu bizarren Lanzenstechereien. Wie Treibhausblumen werden sie unter Glas gehegt und zu früh gepflückt.” Was diesen Geschöpfen später bleibe, sei ein seltsames Aroma, “unreif und unnatürlich”.

Dennoch half er 20 Jahre später der belgischen Königin Elisabeth bei der Vorbereitung eines Wettbewerbs, den er nicht mehr erlebte, aber mit seinem Namen ehrte. Der Ysaÿe in Brüssel, Vorläufer des Reine Elisabeth, fand 1937 statt. Nicht geigerische Lehrmeinungen sollten den Ausschlag geben, sondern das, was die Kandidaten persönlich zu bieten hatten. Die andere Legende ist Elisabeth selbst, die belgische Königin, die noch bis 1965 das besondere Air der zwanziger Jahre in Belgien verkörperte, eine märchenhafte, mädchenhafte Gestalt unter weißem Hut, selbst Violine spielend. Sie machte nach dem Krieg ihren Ysaÿe zum Concours Reine Elisabeth, zu dem im Wechsel Geiger und Pianisten kamen. Unter ihnen waren in der ersten Dekaden so viele geniale Sowjets, dass die Amerikaner zwar den Mond betreten konnten, in Brüssel aber keinen Fuß mehr auf das Siegerpodest bekamen. Von 1978 bis 1987 schickte Moskau dann keine Musiker mehr nach Westen – zu viele Preisträger waren gleich dort geblieben.

Unterm Strich verläuft das Gefälle weniger zwischen West und Ost als zwischen Geige und Klavier. Immer wieder haben die Tastenhengste den Bogenfechtern die Schau gestohlen. Fleisher, Ashkenazy, Afanassiew, Ax, Leonskaja, Uchida – solche Namen finden sich da unter den Klavierfinalisten. Ihren Rang und Ruhm erreichen bei den Geigern eigentlich nur Leonid Kogan, Vadim Repin, Gidon Kremer, der 1967 Dritter wurde, und David Oistrach, der noch als Legende über Brüssel schimmert. Sein Sohn Igor, Mitglied der Jury, 70 Jahre alt und alles andere als ein Killertyp, hält Wettbewerbe nach wie vor “für die vernünftigste Art, Talent zu entdecken”. Obwohl die PR-Strategen der Klassikindustrie sich schon lange nicht mehr für die Siegerlisten der großen Wettbewerbe interessieren und sich ihre eigenen Startypen und Wunderkind-Models erschaffen. Und Ausnahmetalente wie Anne-Sophie Mutter, Christian Tetzlaff oder Joshua Bell haben Karriere gemacht, ohne sich internationalen Turnieren zu stellen.

Mozart wie aus der Waschanlage

In Brüssel gehen den sechs vierstündigen Finalkonzerten eine rund 80-stündige Erstauswahl voraus und 36 Stunden Halbfinale. Das führt den Gast, noch fern von Glamour, in die behäbige Welt des Konservatoriums, in die Grande Salle von 1876, wo im Publikum die Musikenthusiasten und die älteren Bildungsbürger dominieren, in deren Wohnungen die Kandidaten leben, und wo schrullige Künstler auf dem Skizzenblock die Silhouetten der Geiger festzuhalten versuchen. Hier durchschwitzt und begleitet das Königlich Wallonische Kammerorchester in sechs Tagen 24 Halbfinalisten bei Mozart. Das hält auf die Dauer nicht mal Mozart aus. Er nutzt sich ab, während das Orchester seine Partituren wie auf einer Galeere durchrudert. Aber seine Schrecknisse für jeden Solisten bleiben ungebrochen: Mozart kann man nicht beherrschen. Üben genügt da nicht. Er verlangt eher Dialogpartner als Darsteller, und man hört, auf welch anderes Verständnis die meisten Geiger von ihren Lehrern getrimmt werden: Vor allem muss die Technik sitzen, dann wird noch großer Ton gemacht.

Mit dickem Vibrato, ohne Rücksicht auf Struktur und Orchester. Mozarts Soloparts klingen da oft, als kämen sie aus der Autowaschanlage, glänzend und geistlos.

Alle Noten zu spielen reicht nicht

Die Juroren reagieren darauf ganz unterschiedlich. Augustin Dumay, der wunderbare Mozartspieler, sitzt reglos und steil aufgerichtet. Franco Gulli, 64jähriger Gründer der Virtuosi di Roma, unterzieht Schläfen, Nasenwurzel und Stirn einer gründlichen Massage. Ruggiero Ricci, 82 Jahre alt, guckt grimmig wie immer, Igor Oistrach stützt sich eisern auf den Tisch. Warum nur lassen die 13 Richter eine der wenigen gewitzteren Mozartspielerinnen an einer winzigen Gedächtnislücke scheitern, während Kampfsportler durchkommen? Dazu möchte sich der Juryvorsitzende Arie van Lysebeth nur andeutungsweise äußern: “Einige von den Juroren können sich nicht mit neuen Entwicklungen abfinden.

Ihre Schule ist eine idée fixe.”

Er träumt davon, dass in Brüssel auch die Entwicklungen der Alte-Musik-Szene Wirkung zeigen. Doch die Erfolge der historisch kundigen Interpreten und Tatsachen wie die, dass noch Joseph Joachim Werke seines Freundes Brahms ohne Vibrato eingespielt hat – all das geht an den Talentschmieden von New York bis Tokyo vorbei. Sie erziehen Kämpfer. “Was glauben Sie”, sagt Oistrach, “warum sich keiner das Beethovenkonzert für das Finale aussucht? Weil es sich nicht zum Kämpfen eignet. Es ist zu friedlich. Immer wenn es jemand versucht, wird es ein Fiasko.” Aber vorm Fiasko ist man auch auf einem Schlachtross der Konzertliteratur nicht gefeit. Wie im Finale zu erleben ist, abends im schönen Palais des Beaux-Arts.

Dort hat Oleg Kaskiv den zweiten Satz Lalo hinter sich. Es klang nicht wie “scherzando”. Er ist blass, und drei weitere Sätze stehen ihm bevor. Das Orchester setzt wuchtige Ausrufezeichen. Erneut wischt er die linke Hand am auberginefarbenen Seidenhemd trocken. Er muss im Intermezzo herrische Gesten und andalusisch sprudelnde Triolenläufe hinlegen. Er spielt auch alle Noten, aber mehr nicht. Der Orchesterschlussakkord schlägt ein wie ein Messer neben einem Gefesselten. Im Andante kann sich der Geiger erholen. Und nachdenken.

Nach diesem Satz lässt er die Geige sinken, flüstert dem Dirigenten etwas zu und geht von der Bühne. Offiziell wird es später heißen, er habe seinen defekten Bogen austauschen müssen. Der Dirigent Gilbert Varga eilt ihm nach.

Gemurmel. In den Logen der Fernsehkommentatoren kommt Unruhe auf. Wie soll man dem Publikum der Live-Übertragung erklären, was hier geschieht? Da kommt Oleg Kaskiv zurück, um sich dem letzten Satz zu stellen. Der könnte statt Rondo allegro ebenso gut Salto mortale heißen. Hier gibt es Passagen, die technisch dem Sprung aus einem rasenden Achterbahnwagen in den andern ähneln, wobei noch Luft für kleine, triumphierende Gesänge bleiben sollte. Man muss vom Geigen nichts verstehen, um von diesem Wahnwitz gebannt zu sein. Alles ist Manege, das Orchester brüllt wie eine Horde von Löwen. Auf solche finalen Situationen reagieren die Kandidaten ganz unterschiedlich. Es gibt die Augen-zu-und-durch-Methode, die beim begleitenden Orchester nicht sehr beliebt ist, und die Ich-bin-sowieso-ein-Star-Methode. Es gibt auch Spieler wie Kaskiv, die vielleicht zu genau wahrnehmen, was hier vorgeht.

Und es gibt Wesen wie nicht ganz von dieser Welt. Da betritt ein Mädchen den Saal, schreitet wie über Wellen und spielt Tschaikowskij so reflektiert und raffiniert, so analytisch und eindringlich, dass alle wilden Tiere in dieser Manege zahm werden, das Orchester, die Zuhörer, die Killer. Anstatt sich mit Kraft ins Virtuose zu stürzen, führt sie Dialoge mit der Klarinette, nimmt sich Zeit für sonst übersehene Details, schwebt zwischen Versenkung und, kaum zu fassen, einer fernen Ironie mitten in der Perfektion. Sie heißt Baiba Skride, ist 20 Jahre alt, kommt aus Lettland und gewinnt den ersten Preis.

Bei ihrem Auftritt, am selben Abend nach Kaskiv, vergisst man fast, dass dieses Arenaspektakel vor allem von den Opfern lebt, von all denen, die auf der Strecke bleiben. Dass so ein Wettbewerb zwar nach außen hin ein Forum für Talente ist, aber in Wahrheit sich selbst genügt und den Höhenflug umso lieber feiert, je tiefer der Abgrund darunter ist.

Wie tief der sein kann, hat Oleg Kaskin erlebt, als er den Faden verlor.

Immer wilder mussten seine Finger durch Lalos Finale jagen, immer mühseliger ist es gegangen. Plötzlich hängt der Bogen in der Luft, der Geiger späht in die Partitur des Dirigenten, sucht endlose Sekunden lang die Stelle, sucht mit dem Bogen, was der Kopf vergaß, die millionenteure Geige gibt Pfeifgeräusche von sich. Da erklingt eine glasklare Oktavkette. Er ist wieder drin. Aber man merkt, während die Finger weiterhasten, wie die gewaltige, unsichtbare Wunde blutet. Während das Orchester Fanfaren spielt, liegt der junge Ritter, den sie feiern, neben der Bahn und stammelt letzte Worte. Alles halb so wild, werden sie später zu Oleg Kaskiv sagen, du lebst doch noch.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 07.06.2001