Kategorie-Archiv: Oper

Monologe und Gemetzel

Tiefe Klänge, flach bebildert: Harrison Birtwistles neue Oper „The Minotaur“ wurde in London uraufgeführt

„Nuuaaaaargh!“ So brüllt der Minotaurus, ehe er seine Opfer penetriert, und die rufen dann „Aiiiieeee! Io…moi…moi…“ Das ist in diesem Fall kein Comic, sondern ein Libretto. Kann daraus gute Oper werden? Da der Komponist Harrison Birtwistle ist, einer der Großen der britischen Musik, möchte man durchaus hören und sehen, was daraus wurde, aus „The Minotaur“. Die alten Inseln lassen uns ohnehin nicht los, die blutbenetzten Felsen im Mittelmeer, aus denen Europa entstand. Menschlich, allzumenschlich ging es zu zwischen Göttern und Monstern. Antike ist modern, das wissen die Opernkomponisten schon lange, und wenn im frühen 21. Jahrhundert einer die Ariadne komponiert, 400 Jahre nach Monteverdi, verdächtigt ihn keiner der Gegenwartsflucht.

Schon gar nicht Harrison Birtwistle, 1934 geboren. Obwohl kompromißlos mainstreamfern, ist der Siemenspreisträger kaum umstritten als dritter „Orpheus Britannicus“ nach Purcell und Britten. Wenn das Londoner Royal Opera House schon mal eine Uraufführung risikiert, ist Birtwistle erste Wahl und von mehr als insularem Interesse. Von ihm möchte man wissen, was heute eine Ariadne vorm Labyrinth des Minotaurus singen kann. Immer wieder hat Birtwistle Mythen erforscht: In „The second Mrs. Kong“ wird King Kong zum Orpheus, in „The Last Supper“ erscheint Jesus 2000 Jahre nach seiner Kreuzigung erneut zum Abendmahl. Auf Epochensprünge verzichtet der Komponist in seinem elften Musiktheaterwerk: „The Minotaur“ bleibt im antiken Rahmen.

Librettist David Harsent liefert dabei eine ziemlich hilflose Mischung aus Monologen, Minimaldialogen und Metzeleien ab. Dem trivialen Kampfschrei des stierköpfigen Menschenschänders stehen zwar auch poetische Einsichten der Labyrinthbehüterin Ariadne gegenüber, aber so unterkomplex wie hier liest sich Antike selten. Der Komponist wollte den Text so, schon immer hat er sich weniger für Erzählung und Psychologie interessiert als für Zustände und Rituale. Doch seine Musik führt nicht zur Geborgenheit im Einfachen. Birtwistles Partituren werden von den Dirigenten gefürchtet, sie sind voller Überlagerungen und Verästelungen – das aber auf eine Weise, die unheimlichen Sog entfaltet.

Man erlebt ihn hier sofort. Vom schweren Pulsieren tiefer Blechbläser hebt sich der Klang bis zum Einsatz der Ariadne, Sopran, und mit ihren ersten Tönen, einer mehr kantigen als lyrischen Linie, hat sie Profil, hält als Gestalt dem ungeheuren Potential dieser Geschichte stand. Hier lebt eine vor der Behausung ihres Halbbruders, der ins Labyrinth gesperrten Mißgestalt, die rituell mit Opfern bei Laune gehalten wird. Bis Theseus kommt, obskur mit Minotaurus verwandt, um ihn zu töten – wobei Ariadne sich in Theseus verliebt. „The Minotaur“ ist auch die Vorgeschichte zur häufiger veroperten Situation jener Ariadne, die von Theseus auf der nächsten Insel sitzengelassen wird.

Und was da mitschwingt, kann man bei Birtwistle hören in Klängen der Dunkelheit und Weite. Die kaum entwirrbare Polyphonie von Schande und Begehren, Ritual und Befreiung wird in einem Zwischenspiel des Orchesters gespiegelt: Da ist alles Überlagerung und doch ganz durchhörbar. Eine Schicht bilden Geigenpizzicati, eine weitere besteht aus Trompetenstaccati, dazu gibt es eine gebundene Fünftonfolge tiefer Holzbläser. Ganz oben verzahnen sich Liegetöne von Flöten, Oboen, Klarinette, und unterm Tremolonebel von Bratschen und Celli fallen ab und zu Baßtöne wie Klötze in den Keller. Man nimmt das gar nicht als Konstruktion wahr, man wird hineingezogen.

Unbegrenzte Räume lässt Birtwistle entstehen – und mit ihm der vorzügliche Antonio Pappano am Pult. Kein größerer Gegensatz ist denkbar als der zu einer anderen neuen Oper zu einem eng verwandten Thema. Hans Werner Henzes licht besetzte „Phädra“ reflektiert das Historischwerden des Mythos, neben ihrer mozartmäßigen Konzentration hat Birtwistle fast etwas Brucknerhaftes. Eine gewisse Naivität setzt der Umgang mit Harsants Libretto ja auch voraus. Henze würde einem Mann, der ihm ein „Nuuaaaaargh!“  zur Vertonung vorlegt, nicht mal mehr einen Espresso anbieten. Birtwistle lässt sich davon zu Rhythmen inspirieren, die gleichsam den „Sacre“ auf den neuesten Stand bringen.

Soweit, so stark. Was „The Minotaur“ als Oper, als dramatisches Ganzes scheitern lässt, ist die Kluft zwischen der eigentlichen Hauptfigur, Ariadne, und dem weitgehend unterbelichteten Restpersonal. Theseus hat zwar einiges zu sagen, und kurz vor seinem Tod lernt auch der Minotaurus sprechen,  aber allzu dominant sind die rituellen Gemetzel unter Anfeuerungsrufen einer anonymen Masse: Das Labyrinth als Arena. Hier setzt Regisseur Stephen Langridge das Kunstblut gleich kanisterweise ein. Anstatt auszuloten, was in dieser Musik steckt, welche Konflikte sie aus der Tiefe holt, liefert er beflissenes Kunstgewerbe mit Sand, Vollmond und tropfenden Eingeweiden.

John Tomlinson muss als Minotaurus mit Hörnern und Brusttoupet sogar mit den Hufen scharren. Christine Rice, die eine hinreißende Ariadne singt, hat alle Mühe, ihr Interesse an Theseus glaubwürdig zu machen, denn Bariton Johan Reuter, ebenfalls überragend gut besetzt, steht wie ein Heldendenkmal in der Gegend herum. Am Ende verschwindet die Geschichte der beiden hinter dem langen Sterben des Minotaurus, als hätte sie nichts damit zu tun. Vielleicht will Birtwistle es so, aber seine Musik weiß es besser. Ihre Labyrinthe sind errichtet, jetzt warten sie auf den Theseus, der sich inszenierend hineinwagt.

Dieser Text erschien am 24.4.2008 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt

 

Priesterin im Schlachthaus

Barrie Kosky bringt Glucks „Iphigenie auf Tauris“ an der Komischen Oper Berlin in unsere brutale Gegenwart

Wer antiken Stoffen auf den Grund geht, landet selten in lieblichen Hainen. Iphigenie zum Beispiel. Edle Einfalt, stille Größe fanden die Klassiker in ihr, der Priesterin wider Willen, die auf Tauris das Opfermesser führt. Sie tut das gezwungenermaßen, aber sie tut es seit fünfzehn Jahren. Entsetzlicher begann noch kein Opernabend als dieser, wo ein Mann gefesselt wie Schlachtvieh kopfüber am Seil pendelt, bis Iphigenie ihn verbluten lässt. Erschreckender begann aber bis 1779 auch keine Oper als „Iphigenie auf Tauris“: Christoph Willibald Gluck schuf statt einer Ouvertüre einen Sturm der Natur und der Seele. Er reißt uns damit direkt in ein Stück, in dem das Morden längst begonnen hat.

Doch muss man das so zeigen, dass wir zunächst kaum die Musik wahrnehmen, konfrontiert mit Bildern, die wir aus unseren Tagen kennen? Aus verwackelten Videos, aus Internet, TV und Zeitung? Hinrichtungen in Fundamentalistencamps, das Grauen von Abu Graigh oder Guantanamo, Massaker im ehemaligen Jugoslawien, feixende Sölder über ihren Opfern: Nun kommt es in der Komischen Oper auf jene unentrinnbare Weise näher, die nur in der Oper möglich ist – denn Musik kann jede Abwehr unterwandern. Anders als in Calixto Bieitos „Entführung“ am selben Haus vor drei Jahren wird die Musik diesmal aber nicht missbraucht. Entscheidende Freiheit bleibt ihr und uns, weil Regisseur Barrie Kosky mehr als einfach nur Brutalität vorführt.

Wer die verzweifelte, geschlechtslos in amorphe Männerklamotten gehüllte Iphigenie erlebt hat, die überragend intensive Geraldine McGreevy, der kann ermessen, was es heißt, wenn so eine sich und andere doch noch als Menschen entdeckt, das Messer sinken lässt, dem Druck widersteht, der in dieser Inszenierung stets präsent bleibt. Denn immer sitzt da irgendwo ein Söldner und lässt die Zigarette glimmen, die auch gern mal auf dem Rücken der Gefangenen ausgedrückt wird. In diesem Fall sind es Orest und Pylades, die als Strandgut des Trojanischen Krieges ans Ufer von Tauris gerieten, einer Insel, deren Diktator Thoas jeden Fremden töten lässt – im Einvernehmen mit der Göttin Diana. Deren Priesterin ist Iphigenie, und Orest ist ihr Bruder. Sie erkennt ihn nicht, sie fühlt nur, dass sie ihn nicht töten kann.

Orest hat aber selbst soviel Blut vergossen, dass er sterben will, und gibt sich nicht zu erkennen. Das Libretto von Nicolas-François Guillard, hier in neuer, guter, deutscher Fassung zu hören (und fast durchweg zu verstehen!) zeigt Menschen, deren Gegenwart nur der wunde Rest einer kaputten Vergangenheit ist. Der Trojanische Krieg als Urkatastrophe zeugt sich fort in allen Biographien, er hat das Töten zum ersten Mittel gemacht. Orests Mutter hat seinen Vater getötet, daraufhin der Sohn die Mutter… Die Furien der Erinnerung, die ihn jagen, bleiben an diesem Abend allerdings bloße Behauptung, trotz der berührenden Idee, sie als alte, nackte Menschen zu zeigen, die inmitten der Gewalt durch ihre unantastbare Verletzlichkeit etwas Tröstliches haben. Doch dass Kosky sie bedrohlich grimassieren lässt, nimmt ihnen die Tiefe.

Und Orest selbst, so mitreißend Kevin Greenlaw ihn singt, mit flammendem Bariton, bleibt trotz innerer wie äußerer Qualen ein vitaler Typ. Statt seinen Charakter zu erkunden, greift der Regisseur auf Handgemenge zurück und lässt uns Orest auch da nicht nahekommen, wo Gluck seine Zerrissenheit auf genial intime Weise in Töne bringt. Dagegen berührt Pylades, dem Peter Lodahl mit fantastisch geschmeidigem und sensiblem Tenor auch die Liebe gibt, die dieser Getreue für Orest empfindet. Wobei Kosky die innigste Arie dieses Mannes an der Rampe verschenkt. Es ist mitunter, als sei der Regisseur selbst von der Konsequenz gelähmt, mit der er die Gewalt des Sujets in unserer Gegenwart installiert hat – und die doch nur mit sensibelsten Charakterporträts in Balance gehalten werden kann, mit Momenten wirklicher Stille.

Darum bleibt dies ein Abend der Iphigenie. Wenn sie, gleichsam hospitalisiert sich wiegend, allein vor der Opferwand steht, wenn sie, zum Opfer gezwungen, zögernd, zitternd, zärtlich das Messer in die Nähe dessen bringt, den sie liebt, ohne zu wissen, wer er ist – dann ist man ihr so nahe, wie man der Szene fern sein möchte, der Verrohung, dem Blut. Dazwischen kann man, so anstrengend das ist, als Zuschauer irgendwo auch für sich selbst einen Platz finden. Dies legitimiert bei allen Vorbehalten die Drastik. Dabei hilft auch die Qualität der Chöre und des Orchesters. Allerdings ließe sich der klangliche und dramatische Mehrwert dieser Partitur über das Deutliche und Stimmige hinaus noch subtiler verwirklichen, als Dirigent Paul Goodwin das tut. Da kommt, vielleicht auch unterm Druck der Bilder, das Eigenleben der Musik noch zu kurz.

Die letzte Szene indessen ist ein Absturz in die Hilflosigkeit. Die rettende Stimme der Göttin bleibt hier barocker Deus ex machina. Sie ertönt aus der rätselvollen Felswand, die Klaus Grünberg entwarf. Dieser Fels, ein gewaltiges, gerahmtes Stück Natur, ist bis dahin stiller Gegenpol zum Metzeln und Morden. Erhöbe sich stattdessen eine gekachelte Schlachthauswand, aus den empörten Zwschenrufen nach der ersten Szene hätte am Ende ein Orkan werden können. Doch an der schrundigen Felswand hat die Menschlichkeit, die sich an diesem Abend entwickelt, nicht ihre Grenze, sondern eine Projektionsfläche. Man sitzt am Ende nicht erschlagen da, sondern hellwach. Und das deutlichste Buh im Jubel gilt dem Diktator Thoas – der war schlecht in Form. Trotzdem gönnt man ihm den Tadel nicht. Man möchte jetzt einfach keinen mehr verletzt sehen.

Der Text erschien geringfügig gekürzt im Tagesspiegel vom 24.4.2007 und ist urheberrechtlich geschützt

Nymphomane Kommandeuse

Jacques Offenbachs Operette »Die Großherzogin von Gerolstein« wird in Paris zum allzu sorglosen Soldatenkabarett

Plötzlich geht eine Welle durchs Publikum, sacht, aber deutlich. Zuerst drehen sich nur ein paar Köpfe nach rechts, dann immer mehr, auf den Mienen ein erkennendes Lächeln, hier und da auch amüsiert und distanziert, aber eindeutig neugierig. Ein ehemaliger Justizminister ist im ersten Rang erkannt worden, ein Freund Chiracs, dezent zeigt man sich, wo genau er sitzt. Und Jack Lang soll auch zugegen sein. Und ein Politiker aus Lyon, der seit dem Skandal mit seinem Schwiegersohn eigentlich nichts mehr zu sagen hat, der »nur noch Theater macht«, wie man als zugereister Besucher en passant erfährt. Theater! Schwer zu sagen, auf welcher Seite des Orchestergrabens im Pariser Châtelet mehr Theater gespielt wird. Daumier und Maupassant würden ihr Paris mühelos wiedererkennen, sehr viel hat sich nicht geändert in den letzten 150 Jahren.

Man spürt da eine Kontinuität, die es in Deutschland nie gegeben hat, eine so unveränderliche wie undurchdringliche Essenz bürgerlichen Daseins, in der sich Glanz und Geist, Hierarchie und Ironie vermischen. Aus ihr schuf einst Jacques Offenbach die Kunst der Operette, die in dieser Stadt der Monumente alles vom Sockel holte, was sich dort spreizte, und die doch keinem wehtat. Anders als der Glanz des Opernkaisers Meyerbeer ist das Glitzern des Operettenkönigs Offenbach hier nie verblasst, selbst ein weniger bekanntes Stück wie Die Großherzogin von Gerolstein hat derzeit ein volles Haus. Es spielt in einem deutschen Fantasieländchen, meint das Frankreich Napoleons des Dritten und ist eine groteske Militärparodie, die 1867, im Jahr der Weltausstellung, ungeheuren Erfolg hatte. Ihrem Star Hortense Schneider lag man zu Füßen, so wie Paris jetzt ihrer Nachfolgerin huldigt: Felicity Lott gilt als Ereignis.

Die englische Sopranistin, Jahrgang 1947, einst als Pamina und Marschallin gefeiert, wurde für Offenbach schon vor zwei Jahren im Châtelet als Idealbesetzung einer herbstlich schattierten Femme fatale entdeckt – und auch da schon in historischer Aufführungspraxis begleitet von Les Musiciens du Louvre. Der Regisseur Laurent Pelly enthüllte in der Schönen Helena hinterm bürgerlichen Schlafzimmer ein griechisches Ausgrabungsgelände, ließ Stewardessen von Olympic Airways durch die Antike stöckeln und zeigte, dass die Doppelbödigkeit Offenbachs und seiner Librettisten den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts spielend gewachsen ist. Diese Qualität der leichten Muse haben im letzten Jahrzehnt Regisseure von Wernicke bis Marthaler entdeckt, auch das Tanztheater wurde inspiriert, und der Dichter Robert Gernhardt fügte Offenbachiana zu einer halbszenischen Musiquette Poétique.

Nur die Großherzogin von Gerolstein hat bislang keiner überzeugend in den Griff gekriegt. Wohl gar zu lustig ist hier das Soldatenleben rund um eine Dame zwischen Salonhoheit und Säbelweib, die Armeen und Amouren durcheinander bringt, die ihren Günstling Fritz vom Soldaten zum General befördert – und wieder fallen lässt, weil er ihren nymphomanen Avancen nicht nachgeben mag und seiner Wanda treu bleibt… Lustig? Zur munteren Ouvertüre zeigt Laurent Pelly ein Leichenfeld. Tote Soldaten in Feldgrau, Schützengräben – das sieht nach Erstem Weltkrieg aus, nach ungemütlichem Kontrast. Doch ist es nur ein Manöver. Die toten Krieger stehen auf, heitere Mädchen eilen herbei, und schon beginnt mit Tanz und Chorgesang das allerschönste Soldatenkabarett. Virtuos, grell, komisch.

Das Kriegsambiente wird zur Militäridylle eines zeitlosen 19. Jahrhunderts, wo alle Späßchen von damals zünden dürfen, als hätte es seit 1870 keine größeren Zwischenfälle mehr in Europa gegeben. Nun ist es ja nicht so, dass man als geschichtszerknirschter Deutscher immerfort nach pazifistischen Appellen verlangte, um guten Gewissens Uniformierte auf der Bühne zu verkraften – aber die Sorglosigkeit macht doch ratlos. Da rotieren die Beine der Soldaten und Mädels, da raunzt ein Bilderbuchgeneral, da wird getrippelt und gesprungen und gespaßt, dass ein Gelächter nach dem andern durchs Offizierskasino, Pardon: durchs Publikum geht. Die Leute kichern schon, wenn die Großherzogin nach einem Schnaps verlangt.

Ja, die Großherzogin. Vielleicht liegt es an ihr, dass diese so pointenreiche wie besinnungslose Inszenierung irgendwie durchkommt. Neben Felicity Lott bleiben alle anderen Mitwirkenden nur Umrisse. Hysterisch und durchtrieben, brutal und kokett genießt und missbraucht die Grande Duchesse ihre Macht. Wenn sie in Pelzmantel und Reitstiefeln vor dem riesigen Schlachtengemälde posiert, das ihr überallhin nachgetragen wird, wenn sie mit raffiniertesten Farbwechseln der Stimme aus einer Karikatur eine Persönlichkeit macht, ahnt man, was mit ihr möglich gewesen wäre. Einen weiblichen Dr. Seltsam könnte man aus dieser zarten und zähen Kommandeuse machen, in unheimliche Nähe könnte man uns diese Militärparodie rücken – so etwa, wie Ruth Berghaus in der Fledermaus den Prinzen Orlowsky mit ferngesteuerten Panzern spielen ließ.

Den federleichten Wahnsinn, den Lott anschärft und den Pelly verjuxt, hat der Dirigent Marc Minkowski auch in der Partitur gefunden. Funkelnd und rasselnd springt ein Märschlein nach dem andern aus dem Orchester, formieren sich mitreißende Chöre und unzählige Themen, die auf Anhieb einleuchten, die ihren Rhythmus mit solcher Natürlichkeit den Sätzen nachbilden wie im Foyer des Theaters der Programmheftverkäufer, der seine Ware in eleganten Triolen anpreist. Es ist, als würde die Musik, mit Worten gefüttert, sich selbst hervorbringen. Wie eine Maschine, die nicht mehr zu stoppen ist, darin dem Militär nicht unähnlich. Die Musiker sind mit Eifer bei der Sache, die Blasinstrumente tönen militärgemäß authentischer als die Streicher.

Während aber im Graben die wundersame Offenbach-Maschine pleuelt wie eine 1867er Weltausstellungsattraktion, führt auf der Bühne der Klamauk der Knallchargen in fast drei Stunden zu einem Leerlauf, der selbst die grandiose Felicity Lott zu angestrengter outrage nötigt – und den Besucher aus Deutschland zu einer weiteren Einsicht in französische Kontinuitäten. Der militärische Komplex, der hier als zeitloses Soldatenkabarett bejubelt wird, hat in Frankreich niemals so tief den zivilen Konsens brechen können wie in Deutschland. Kein Trauma, wenig Skepsis. Insofern verdankt sich die Schwäche der Produktion vielleicht der Stärke des bürgerlichen Selbstbewusstseins: Nur nichts so eng sehen! Anschließend gehen die gebildeten Stände gegenüber ins Bistro Sarah Bernhard und bestellen Rotwein. Mit Pommes.

Der Text erschien am 14.10.2004 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt