Priesterin im Schlachthaus

Barrie Kosky bringt Glucks „Iphigenie auf Tauris“ an der Komischen Oper Berlin in unsere brutale Gegenwart

Wer antiken Stoffen auf den Grund geht, landet selten in lieblichen Hainen. Iphigenie zum Beispiel. Edle Einfalt, stille Größe fanden die Klassiker in ihr, der Priesterin wider Willen, die auf Tauris das Opfermesser führt. Sie tut das gezwungenermaßen, aber sie tut es seit fünfzehn Jahren. Entsetzlicher begann noch kein Opernabend als dieser, wo ein Mann gefesselt wie Schlachtvieh kopfüber am Seil pendelt, bis Iphigenie ihn verbluten lässt. Erschreckender begann aber bis 1779 auch keine Oper als „Iphigenie auf Tauris“: Christoph Willibald Gluck schuf statt einer Ouvertüre einen Sturm der Natur und der Seele. Er reißt uns damit direkt in ein Stück, in dem das Morden längst begonnen hat.

Doch muss man das so zeigen, dass wir zunächst kaum die Musik wahrnehmen, konfrontiert mit Bildern, die wir aus unseren Tagen kennen? Aus verwackelten Videos, aus Internet, TV und Zeitung? Hinrichtungen in Fundamentalistencamps, das Grauen von Abu Graigh oder Guantanamo, Massaker im ehemaligen Jugoslawien, feixende Sölder über ihren Opfern: Nun kommt es in der Komischen Oper auf jene unentrinnbare Weise näher, die nur in der Oper möglich ist – denn Musik kann jede Abwehr unterwandern. Anders als in Calixto Bieitos „Entführung“ am selben Haus vor drei Jahren wird die Musik diesmal aber nicht missbraucht. Entscheidende Freiheit bleibt ihr und uns, weil Regisseur Barrie Kosky mehr als einfach nur Brutalität vorführt.

Wer die verzweifelte, geschlechtslos in amorphe Männerklamotten gehüllte Iphigenie erlebt hat, die überragend intensive Geraldine McGreevy, der kann ermessen, was es heißt, wenn so eine sich und andere doch noch als Menschen entdeckt, das Messer sinken lässt, dem Druck widersteht, der in dieser Inszenierung stets präsent bleibt. Denn immer sitzt da irgendwo ein Söldner und lässt die Zigarette glimmen, die auch gern mal auf dem Rücken der Gefangenen ausgedrückt wird. In diesem Fall sind es Orest und Pylades, die als Strandgut des Trojanischen Krieges ans Ufer von Tauris gerieten, einer Insel, deren Diktator Thoas jeden Fremden töten lässt – im Einvernehmen mit der Göttin Diana. Deren Priesterin ist Iphigenie, und Orest ist ihr Bruder. Sie erkennt ihn nicht, sie fühlt nur, dass sie ihn nicht töten kann.

Orest hat aber selbst soviel Blut vergossen, dass er sterben will, und gibt sich nicht zu erkennen. Das Libretto von Nicolas-François Guillard, hier in neuer, guter, deutscher Fassung zu hören (und fast durchweg zu verstehen!) zeigt Menschen, deren Gegenwart nur der wunde Rest einer kaputten Vergangenheit ist. Der Trojanische Krieg als Urkatastrophe zeugt sich fort in allen Biographien, er hat das Töten zum ersten Mittel gemacht. Orests Mutter hat seinen Vater getötet, daraufhin der Sohn die Mutter… Die Furien der Erinnerung, die ihn jagen, bleiben an diesem Abend allerdings bloße Behauptung, trotz der berührenden Idee, sie als alte, nackte Menschen zu zeigen, die inmitten der Gewalt durch ihre unantastbare Verletzlichkeit etwas Tröstliches haben. Doch dass Kosky sie bedrohlich grimassieren lässt, nimmt ihnen die Tiefe.

Und Orest selbst, so mitreißend Kevin Greenlaw ihn singt, mit flammendem Bariton, bleibt trotz innerer wie äußerer Qualen ein vitaler Typ. Statt seinen Charakter zu erkunden, greift der Regisseur auf Handgemenge zurück und lässt uns Orest auch da nicht nahekommen, wo Gluck seine Zerrissenheit auf genial intime Weise in Töne bringt. Dagegen berührt Pylades, dem Peter Lodahl mit fantastisch geschmeidigem und sensiblem Tenor auch die Liebe gibt, die dieser Getreue für Orest empfindet. Wobei Kosky die innigste Arie dieses Mannes an der Rampe verschenkt. Es ist mitunter, als sei der Regisseur selbst von der Konsequenz gelähmt, mit der er die Gewalt des Sujets in unserer Gegenwart installiert hat – und die doch nur mit sensibelsten Charakterporträts in Balance gehalten werden kann, mit Momenten wirklicher Stille.

Darum bleibt dies ein Abend der Iphigenie. Wenn sie, gleichsam hospitalisiert sich wiegend, allein vor der Opferwand steht, wenn sie, zum Opfer gezwungen, zögernd, zitternd, zärtlich das Messer in die Nähe dessen bringt, den sie liebt, ohne zu wissen, wer er ist – dann ist man ihr so nahe, wie man der Szene fern sein möchte, der Verrohung, dem Blut. Dazwischen kann man, so anstrengend das ist, als Zuschauer irgendwo auch für sich selbst einen Platz finden. Dies legitimiert bei allen Vorbehalten die Drastik. Dabei hilft auch die Qualität der Chöre und des Orchesters. Allerdings ließe sich der klangliche und dramatische Mehrwert dieser Partitur über das Deutliche und Stimmige hinaus noch subtiler verwirklichen, als Dirigent Paul Goodwin das tut. Da kommt, vielleicht auch unterm Druck der Bilder, das Eigenleben der Musik noch zu kurz.

Die letzte Szene indessen ist ein Absturz in die Hilflosigkeit. Die rettende Stimme der Göttin bleibt hier barocker Deus ex machina. Sie ertönt aus der rätselvollen Felswand, die Klaus Grünberg entwarf. Dieser Fels, ein gewaltiges, gerahmtes Stück Natur, ist bis dahin stiller Gegenpol zum Metzeln und Morden. Erhöbe sich stattdessen eine gekachelte Schlachthauswand, aus den empörten Zwschenrufen nach der ersten Szene hätte am Ende ein Orkan werden können. Doch an der schrundigen Felswand hat die Menschlichkeit, die sich an diesem Abend entwickelt, nicht ihre Grenze, sondern eine Projektionsfläche. Man sitzt am Ende nicht erschlagen da, sondern hellwach. Und das deutlichste Buh im Jubel gilt dem Diktator Thoas – der war schlecht in Form. Trotzdem gönnt man ihm den Tadel nicht. Man möchte jetzt einfach keinen mehr verletzt sehen.

Der Text erschien geringfügig gekürzt im Tagesspiegel vom 24.4.2007 und ist urheberrechtlich geschützt