Kategorie-Archiv: Oper

Kunstblut über Klangstrudeln

Aribert Reimanns grandioser „Lear“ wird in Salzburg vor allem von den Wiener Philharmonikern auf aktuellen Stand gebracht

salzburger-festspiele---aribert-reimanns-lear-ein-imposanter-erfolg-41-72373356Weg mit den Feinheiten: Gerald Finley als Aribert Reimanns Lear / Foto: Thomas Aurin

Immer wieder kommen Männer von der Security, reißen unsanft einen Festspielgast vom Platz – und führen ihn oder sie zur Exekution. Es kann jeden treffen. Auf der Bühne, versteht sich. „Es fließt viel Blut“, hat der Herzog von Cornwall gesagt, während er verblutete, und das nimmt Simon Stone in seiner Inszenierung der Oper Lear von Aribert Reimann wörtlich. Es spritzt, strömt, fließt, kleckert, man mag gar nicht mehr hinsehen in der Salzburger Felsenreitschule. Aber nicht, weil einem das zu nahe ginge in einer Gegenwart, in der man sich tatsächlich mit jedem Tag verletzlicher und bedrohter fühlt. Nein, vielmehr schieben sich die Kunstblutbilder vor eine Musik, die weitaus fordernder ist, weil sie tief hineinführt in die Mechanik der Gewalt, in die Konsequenzen von Eitelkeit, Neid und Machtgeilheit.

Diese zweieinhalb Stunden Lear hat Aribert Reimann vor vierzig Jahren komponiert, seitdem ist die Oper von den Bühnen nicht wegzudenken. 27 Produktionen gab es bis jetzt seit der Uraufführung 1978 in München. Einen Stoff nach Shakespeare, der selbst einem Giuseppe Verdi über den Kopf gewachsen war, traute sich Reimann zunächst nicht zu, und fast ging er selbst darin unter. „Nachts befand ich mich immer noch in diesem Klangstrudel, die Figuren und Akkorde weiteten sich ins Überdimensionale, wurden zu abstrakten Formen, von denen ich schrecklich gequält, bedroht, umfangen, erdrückt wurde“, erinnert er sich an die Komposition einer Szene. Und notiert am Ende: „Hätte es nicht länger ertragen können.“

Vier Jahrzehnte später sitzt in Salzburg der mittlerweile 81 Jahre alte Komponist gut gelaunt im Parkett, und fast befürchtet man, aus dem Durchbruchswerk von einst könnte ein Klassiker der Moderne geworden sein, aus den bedrohlichen Klangblöcken funkelnde Quader, aus den gespannten Intervallen der Sänger eingängige Tonfolgen. Schließlich haben die Musiker und Hörer von heute andere Erfahrungen. Außerdem sitzen da die Wiener Philharmoniker, bei denen man eher an seidige Schönheit denkt als an schroffe Kanten. Doch sie haben 2010 die Uraufführung von Reimanns Medea zum Triumph gemacht, und sie nehmen es auch im Lear mit jeder Note genau.

Franz Welser-Möst dirigiert mit stringentem Elan ein Riesenensemble. 24 Bläser, 48 Streicher, zwei Harfen und eine Schlagzeugsektion, die 42 Geräte von der Rührtrommel bis zur Bronzeplatte umfasst und daher auf den Balkon rechts vom Orchestergraben ausgelagert wurde. Volle Dröhnung – und volle Differenzierung. So schlagkräftig und so sensibel wie vielleicht nie zuvor erschließen uns die Musiker die Innenwelt der zuerst tragischen, dann immer brutaleren Geschichte vom alten König Lear, der sein Reich auf zwei intrigante Töchter verteilt, die dritte aber, die ihn wirklich liebt, verstößt, dann selbst irre wird, während sich die Opfer häufen und die Klänge wachsen. Es gibt da schneidende Geigenlinien in hoher Lage, die Grausamkeit als gleichsam entkoppeltes Phänomen hören lassen, eigenständig geworden.

In Stratosphären jenseits aller Moral wird da der Klang der Geige radikal neu definiert. Ohne Verfremdung, nur durch die Linie und ihren Platz in der Struktur wird die Violine grausam. Die Partitur ist voll von solchen neuen Blicken auf die alten Instrumente. Gerade weil die Musiker mit dem Material nicht mehr kämpfen müssen, wird klarer denn je, wie innovativ Reimann war in einer Zeit, als die traditionsskeptischen Avantgardisten ihn als bürgerlichen Erzähler belächelten. Viele ihrer Experimente sind neben Lear verblasst. Neu zu entdecken ist in Salzburg aber auch die Reimannsche Poesie: Wenn die Flöten sich tröstend zur Tiefe hin auffächern, wenn ein Streicher-Unisono Wärme spendet, dann erlebt man eben doch eine seidige Schönheit, wie sie so kein anderes Orchester zustande brächte – Atempausen der Sehnsucht auf dem Weg ins Desaster.

Für die Fallhöhe der Geschichte und die Überbreite der Arkadenbühne eignet sich das Startbild der Salzburger Inszenierung bestens: Ein Feld blühender Spätsommerblumen, das nach und nach zerrupft wird. Vor dieser floralen Metapher ließe sich erkunden, wie Individuen jene Konflikte entfesseln, in denen sie dann bloßgestellt, deformiert, umgebracht werden. Doch welche Individuen? Wir lernen hier fast niemanden kennen, obwohl die Besetzung grandios ist. Gerald Finleys Lear beginnt gut gelaunt im weißen Sakko und muss dann Wut und Verzweiflung so unvermittelt und outriert mimen, dass selbst sein geschmeidiger Bariton leidet. Seine Tochter Cordelia ist von vornherein einfach nur die Gute (wobei die Sopranistin Anna Prohaska überragend singt), und Goneril und Regan bleiben Karikaturen grundböser Schwestern, obwohl Evelyn Herlitzius und Gun-Brit Barkmin viel mehr zu bieten gehabt hätten – und Reimann sowieso.

Auch die übrigen acht Protagonisten werden so grob skizziert – in Erinnerung bleibt dennoch Kai Wessels zauberischer Edgar, dessen Altusrolle als fast unberührbarer Gegenentwurf zur Tektonik der Macht komponiert ist. An Reimanns Differenzierungen rauschen hier krasse, platte Bilder vorbei. Der Filmemacher und Schauspielregisseur Simon Stone scheint zu glauben, es werde im Musiktheater höchste Zeit für spritzende Bierdosen, nackte Frauen, Hektoliter von Kunstblut und ein Publikum auf der Bühne, das so aussieht wie das davor. Lieb gemeint, aber das hatten wir alles schon! Die Blumenwiese wird zur Pause abgeräumt, danach geht es ins Schlachthaus und schließlich in die Psychiatrie. Am Ende pulst und funkelt im Orchester ein extraterrestrischer Klang, aus 48 Streicherstimmen und zwei Harfen entstehend. Stone hat gemerkt, dass es irgendwie transzendent wird. Also lässt er die tote Cordelia zu einer Art Marienerscheinung am Bett des sterbenden Lear werden und Trockeneisnebel wallen. Ach je. Aber es werden ja noch viele Lear-Inszenierungen folgen.

Dieser Text erschien mit der Überschrift “Wenn Streicher Wärme spenden” und minimal kürzer in der ZEIT vom 24. August 2017 und ist urheberrechtlich geschützt.

Der überforderte Utopist

In Essen und Paris wird Wagners „Lohengrin“ als Antiheld sympathisch – und Jonas Kaufmann rekonvalesziert in verhaltenen Farben

Langer Mantel, Krempenhut, offenes Hemd, geflochtenes Schnürchen um den Hals. Cool ist der Typ, nicht angepasst, aber auch schüchtern. Und dann ist da dieser Junge, vielleicht sechs Jahre alt, zerbrechlich, die Haare bunt gestreift, die Augen umschattet. Er könnte sein sehr kleiner Bruder oder das Kind der ganz großen Liebe oder dem Outcast einfach zugelaufen sein. Man könnte sich die beiden auch an einer Imbissbude in Essen oder in der Pariser Metro vorstellen, in einer ganz anderen Geschichte. In Wagners Lohengrin von 1850 sind sie jedenfalls entschieden im falschen Film. Und darum genau richtig.

Denn diese Heldenoper ist als solche ja schon lange nicht mehr aufführbar. „Mit Gott für deutschen Reiches Ehr´“, das nationalistische Getöse, dem sich in schimmernder Wehr ein Übermensch aus ferner Gralsburg zugesellt, „in einem Nachen, von einem Schwan gezogen“ – das alles wird seit Jahrzehnten relativiert, ironisiert, dekonstruiert, weil man auf die grandiose Partitur nicht verzichten mag, eigentlich aber auch nicht auf das Märchen vom Mann der Träume, der die verstoßene Elsa rettet. Auch zwei aktuelle Produktionen brechen die Sage – aber so, dass der Held selbst wieder interessant wird.

Und zwar als Antiheld, als überforderte, gebrochene Persönlichkeit. Den Freak im Mantel hat sich die Regisseurin Tatjana Gürbaca für das Essener Aalto Theater ausgedacht, wo der Gralsbote ganz beiläufig aus dem Schatten in eine abstrakte Gegenwart tappt. Und für die Pariser Opéra hat an der Bastille Claus Guth seine Mailänder Inszenierung von 2012 überarbeitet. Hier liegt Lohengrin zuerst gekrümmt und barfuß auf dem Boden. Seine ersten Töne werden in der Premiere auch deswegen mit besonderer Spannung erwartet, weil es die ersten sind, die der Tenor Jonas Kaufmann nach längerer Stimmbanderkrankung singt.

Er erscheint wie hingebeamt in einen Kasernenhof des 19. Jahrhunderts, ein Gottesnarr, der nicht gleich weiß, wo er ist. Das gibt Kaufmann eine Lizenz zur Verhaltenheit, die er auch braucht. Mehr denn je fällt das etwas Kehlige seines Timbres auf, lange klingt er neben der schmelzreich strahlenden, fantastisch fokussierten Elsa von Martina Serafin und dem süffisant kraftvollen Telramund von Tomasz Konieczny wie hinter einer Wand. Seine Stimme entwickelt sich an diesem Abend parallel zur Rolle. Bis zum Ende des zweiten Akts lässt Guth diesen Lohengrin wie traumatisiert herumhuschen, danach geht es ihm besser.

Was ihn so verstört, muss man nicht gleich verstehen, schon gar nicht in der Oper, wo die Musik so vieles Ungesagte birgt. Doch die Regie sollte Menschen entstehen lassen, mit ihrer je eigenen Gravitation und Unberechenbarkeit. Die hat sich aus Guths Meisterschaft der Personenzeichnung aber offenkundig fortgeschlichen. Man erlebt Scherenschnittcharaktere, die aufeinander nur selten unmittelbar reagieren, und viele Zeichen, besonders signifikant das wuchtige Klavier im Kasernenhof, an dem fast alle Hauptdarsteller mal sitzen und an dem im Rückblick Ortrud, wie eine böse Clara Schumann ausstaffiert, der kleinen Elsa Unterricht mit Zeigestock gibt – eine von allzu vielen Randnotizen.

Guth hat tief nachgedacht über die Verortung von Lohengrin im 19. Jahrhundert, im Bildungsbürgertum, in der Welt von Militarismus und Industrialisierung, wie sie Christian Schmidts eisenbesäulte Galerien zeigen und in der poesiereiche Utopisten wie Lohengrin und Elsa verloren sind. Doch das begreift man eher, als dass man es erlebt. Die Konzeption, um Walter Benjamins Diktum mal umzudrehen, wird streckenweise zur Totenmaske des Werks. Richtig zum Leben kommt vor dem dritten Akt nur die unauslotbar bitterböse Ortrud von Evelyn Herlitzius, der man sogar das starke Vibrato nachsieht.

Der vielbeschäftigte Chor ist in Paris eher nur Teil der Kulisse. In Essen wird er unheimlich lebendig, zusammengedrängt auf weißer Treppe (Marc Weeger). Wenn da die Männer Elsas Kleid befummeln, erlebt man diese Typen fast als biologisches Phänomen, zugleich realistisch und abstrakt. Und wenn Elsas Widersacherin Ortrud ( stimmlich wie darstellerisch stark: Katrin Kapplusch) mit Hosenanzug und Föhnfrisur à la Hilary, Zweifel an der Integrität des noch ungeouteten Gralsboten schürt, dann sieht man der Masse die Dominoeffekte an, die in frühen Hexenjagden nicht anders liefen als in den „social networks“.

Gürbaca lässt in der Bewegungssprache ihres Chores viele Ebenen zu. Das ist weit entfernt vom opernchörigen „Jetzt sind wir alle lustig und jetzt laufen wir alle nach links“. Es bleibt auch Raum für poetische Momente. Staunende Menschen reichen über ihre Köpfe hinweg das bunthaarige Rätselkind hinab, Lohengrins Begleiter, einen blutjungen Darsteller von magischer Präsenz. Das ist der Schwan, Elsas verzauberter kleiner Bruder, dessen Verschwinden die komplexe Geschichte ja erst in Gang setzt. Man muss die hier nicht schon kennen, um berührt zu sein. Und man ist nie sicher, wie es weitergeht.

Ein Outsider wie Lohengrin ist in der Masse immer in Gefahr. Vielleicht passt sich der schüchterne Freak, von Daniel Johansson in der vierten Vorstellung zuerst harsch und dann zunehmend geschmeidig gesungen, auch darum an, lässt sich nach seinem – hier kampflosen – Sieg über Telramund lächelnd zum Befehlshaber machen und verheiraten. Doch auch ein Verklemmter steckt in ihm, den eine erotisch verspielte Elsa (Jessica Muirhead mit müheloser Höhe) in der taghellen Hochzeitsnacht so verlegen macht, dass ihm die verbotene, alles zerstörende Frage nach seiner Herkunft wohl nicht nur ungelegen kommt.

Während die Zweisamkeit in Essen ungemütlich ist, wird sie in Paris zur Zauberszene. Natur ist hineingewachsen in den Hof, Wasser plätschert zwischen Schilfbündeln und Bäumen, unendlich scheu und zart kommen Lohengrin, nun wie geheilt, und Elsa sich nahe. Jedes Wort ist wahr, wenn nach ihrer Frage Jonas Kaufmann singt: „Nun ist all unser Glück dahin.“ Pianofarben der Trauer, wie man sie selten hört. Das Zerbrechen des Vertrauens klingt fast tiefer als die Liebe selbst, und das Orchester unter der Leitung von Philippe Jordan, sonst oft etwas pauschal, findet hier und bei der Gralserzählung zu größter Sensibilität.

Die Essener Philharmoniker mit Tomáš Netopil am Pult lassen schon vorher aufhorchen. Mitunter, weil sie mit Getöse Gürbacas sensiblen Blick auf Masse und Macht übertönen, öfter aber, weil das Orchester mit Präzision und Sinnlichkeit schon selbst das Geschehen formt wie in den späteren Musikdramen. Dass man am Ende jedes Wort der Gralserzählung glaubt, ist in beiden Häusern verblüffend – denn Selbstgewißheit durften beide Gralsboten zuvor kaum zeigen. Aber zum einen sind die Solisten und Wagner hier ganz bei sich selbst. Zum anderen brauchen wir zwar keine Helden – aber Utopien.

Dieser Text erschien unter der Überschrift “Mit Fönfrisur” am 26. 1. 2017 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt.

 

Geschlitzt, geballert, geblutet

Tilman Knabe schickt “Tosca” am Theater Lübeck in den Häuserkampf, Ryusuke Numajiri liefert dazu den Puccini-Soundtrack

tosca lübeck
Eine posthume Entmannung ist für gebildete Hanseaten zumindest auf der Bühne offenbar verkraftbar. “Aber einfach nur so“, die Dame im Theaterlokal macht eine elegante Bewegung, “das hätte gereicht.” Musste die Trophäe auch noch beim Gruppenselfie präsentiert werden, für das eine Frauenkampftruppe im Büro des Polizeichefs posiert? Diesmal hat Tosca den bösen Scarpia nicht selbst erstochen. Gerade noch rechtzeitig haben MP-Mädels sein kahles 60er-Jahre-Büro geentert, wo die Marchesa Attavanti mit ihrem Madonnenlächeln routiniert das Messer walten lässt. Aber waren sie und ihre Kämpferinnen nicht schon im ersten Akt von Scarpia ermordet worden? Wer fantasiert hier was?

Man verliert gelegentlich den Überblick in der Gewaltstatistik der neuem Lübecker „Tosca“, so viel wird geschlitzt und geritzt, geballert, getreten und geblutet. Für Schonungslosigkeit ist Regisseur Tilman Knabe bekannt, man könnte argwöhnen, dass ihm das Blut schon zum Markenzeichen geronnen ist. Aber ihn treibt von jeher die Brutalität der Welt so um, dass er sie im Musiktheater vergegenwärtigen will. Und was in „Tosca“ passiert, war ja schon zur Uraufführung 1900 in Rom von solcher Drastik und Aktualität, dass mit einem Bombenattentat gedroht wurde: Man verstand die Oper als Kommentar von links, mochte sie noch so präzise auf den 17. Juni 1800 bezogen sein.

Längst sind seither Cavaradossis Schreie unter der Folter ins Repertoire gewandert. Knabe will sie dort herausholen in eine Gegenwart, in der unvermindert gefoltert wird. Und er will den Kontext beleuchten, den Puccinis Librettisten gegenüber dem Drama von Victorien Sardou verknappten: Hinter dem Polizeichef steht Königin Maria Carolina, und ihre Widersacherin ist jene Marchesa Attavanti, die sich bei Puccini nur noch als Madonnenporträt und abwesende Fluchthelferin spiegelt. In Lübeck wird sie zur stummen Chefin von Rebellinnen nach Art der westkurdischen YPG. Die machen sich vor den ersten Tönen in einer Kirchenruine fit, wo Cavaradossi an einem Fresco pinselt.

Irgendwie warten sie aber doch, genau wie das Publikum, auf den Beginn der Oper. Deren erste Akkorde werden von MP-Garben zersiebt: Regierungstruppen rücken an. Dass man sich nun zugleich in der Partitur und im tagesaktuellen Häuserkampf befindet, wird zum anhaltenden Dilemma. Wenn die Bühne so realistisch ist wie die von Wilfried Buchholz, die Kämpfer aber erkennbar Menschen sind, die sonst keiner Fliege ein Haar krümmen, scheint das Musiktheater der Realität nachzulaufen. Zugleich lässt es die Musik hinter sich. So kraftvoll und homogen Lübecks Philharmonisches Orchester tönt, es liefert eher den Soundtrack als den Masterplan des Abends, zumal Generalmusikdirektor Ryusuke Numajiri eher kompakte als differenzierte Klänge anstrebt. Kaum, dass einen mal ein extremes pianissimo, eine klare Tempoänderung aufhorchen ließe.

Dennoch trägt die Partitur eine besondere Stärke der Inszenierung. Wenn Tosca ihrem Geliebten Cavaradossi begegnet und danach dem lüsternen Polizeichef, entwickelt Tilman Knabe eine psychologische Feinheit, in der das Musiktheater ganz zu sich kommt, weil an den gesungenen Linien entlang so viel über diese Menschen zu erfahren ist. Und weil sich die Solisten ganz geben, allen voran die strahlend und warm singende Erica Eloff. Sie ist hier keine flammende Diva, sondern eine labile, lebenshungrige, schöne Frau, die an Caravadossi Halt sucht, einem tapsigen, untersetzten Bohémien (Zurab Zurabishvili). Beides Menschen am Rand, durch Toscas irre Eifersucht eher verbunden als getrennt.

Man nähme dieser Tosca ihre Extreme auch ab, hätte der Regisseur sie nicht zusätzlich zur pillenschluckenden Borderlinerin gemacht. Wie die Erfahrung der Gewalt auf eine normal neurotische Zeitgenossin wirken würde, kann man so nicht erfahren. Wohl aber, wie subtil die Gewalt sich anschleichen kann. Denn Gerard Quinn macht – mit nicht großem, aber charakteristischem und fokussiertem Bariton – aus dem Scarpia einen gemütlich fein lächelnden sugar daddy in Uniform, der in Tosca das hilflose kleine Mädchen zu finden weiß. Dieses Mädchen selbst kommt als stumme Rolle auch noch vor, früh von Klerikern mißbraucht. Dass Scarpia selbst Schiss hat vor seiner Vorgesetzten, der coolen Königin, begriffe man auch, ohne dass sie ihn in seinem Büro zusammenschlagen lässt. Nachdenkenlassen ist Knabes Sache nicht, lieber setzt er immer noch eins drauf, und die Kastration der Männerleiche überrascht dann nicht wirklich: Das musste ja kommen!

So etwas passiert ja auch auf der Welt, und Schlimmeres. Gerade darum werden hier die Grenzen aktualisierender Drastik deutlich – mitunter wirkt der Ansatz schon selbst historisch. Die Individuen aber interessieren einen bis zum Schluss, und man hätte ihnen mehr Möglichkeiten zu leiseren, poetischeren Tönen gewünscht, klingenden Gegenentwürfen zur Gewalt in ihrer, unserer Welt. Zumal Zurab Zurabishvili, als Cavaradossi ein Schluri und Held wider Willen, muss über wenig moderatem Orchester seinen Tenor so verausgaben, dass er am Ende eng und hart klingt. Übrigens stirbt er nicht, und Tosca springt auch nicht vom Dach: Ihr Tod in Rom ist der wiedererstandene Scarpia. Ein Wahngebilde, das die Zuschauer unerlöst in die Nacht entlässt. Beziehungsweise ins Theaterlokal, wo die Hanseaten dann durchaus angeregt diskutieren…

Dieser Text erschien in der Opernwelt vom Januar 2017, S. 8/9, und ist urheberrechtlich geschützt, Besucht wurde die Vorstellung am 24. November 2016. Das Foto von Jochen Quast zeigt Erica Eloff (Tosca) und Gerard Quinn (Cavaradossi), eingekleidet von Gisa Kuhn.