Geschlitzt, geballert, geblutet

Tilman Knabe schickt “Tosca” am Theater Lübeck in den Häuserkampf, Ryusuke Numajiri liefert dazu den Puccini-Soundtrack

tosca lübeck
Eine posthume Entmannung ist für gebildete Hanseaten zumindest auf der Bühne offenbar verkraftbar. “Aber einfach nur so“, die Dame im Theaterlokal macht eine elegante Bewegung, “das hätte gereicht.” Musste die Trophäe auch noch beim Gruppenselfie präsentiert werden, für das eine Frauenkampftruppe im Büro des Polizeichefs posiert? Diesmal hat Tosca den bösen Scarpia nicht selbst erstochen. Gerade noch rechtzeitig haben MP-Mädels sein kahles 60er-Jahre-Büro geentert, wo die Marchesa Attavanti mit ihrem Madonnenlächeln routiniert das Messer walten lässt. Aber waren sie und ihre Kämpferinnen nicht schon im ersten Akt von Scarpia ermordet worden? Wer fantasiert hier was?

Man verliert gelegentlich den Überblick in der Gewaltstatistik der neuem Lübecker „Tosca“, so viel wird geschlitzt und geritzt, geballert, getreten und geblutet. Für Schonungslosigkeit ist Regisseur Tilman Knabe bekannt, man könnte argwöhnen, dass ihm das Blut schon zum Markenzeichen geronnen ist. Aber ihn treibt von jeher die Brutalität der Welt so um, dass er sie im Musiktheater vergegenwärtigen will. Und was in „Tosca“ passiert, war ja schon zur Uraufführung 1900 in Rom von solcher Drastik und Aktualität, dass mit einem Bombenattentat gedroht wurde: Man verstand die Oper als Kommentar von links, mochte sie noch so präzise auf den 17. Juni 1800 bezogen sein.

Längst sind seither Cavaradossis Schreie unter der Folter ins Repertoire gewandert. Knabe will sie dort herausholen in eine Gegenwart, in der unvermindert gefoltert wird. Und er will den Kontext beleuchten, den Puccinis Librettisten gegenüber dem Drama von Victorien Sardou verknappten: Hinter dem Polizeichef steht Königin Maria Carolina, und ihre Widersacherin ist jene Marchesa Attavanti, die sich bei Puccini nur noch als Madonnenporträt und abwesende Fluchthelferin spiegelt. In Lübeck wird sie zur stummen Chefin von Rebellinnen nach Art der westkurdischen YPG. Die machen sich vor den ersten Tönen in einer Kirchenruine fit, wo Cavaradossi an einem Fresco pinselt.

Irgendwie warten sie aber doch, genau wie das Publikum, auf den Beginn der Oper. Deren erste Akkorde werden von MP-Garben zersiebt: Regierungstruppen rücken an. Dass man sich nun zugleich in der Partitur und im tagesaktuellen Häuserkampf befindet, wird zum anhaltenden Dilemma. Wenn die Bühne so realistisch ist wie die von Wilfried Buchholz, die Kämpfer aber erkennbar Menschen sind, die sonst keiner Fliege ein Haar krümmen, scheint das Musiktheater der Realität nachzulaufen. Zugleich lässt es die Musik hinter sich. So kraftvoll und homogen Lübecks Philharmonisches Orchester tönt, es liefert eher den Soundtrack als den Masterplan des Abends, zumal Generalmusikdirektor Ryusuke Numajiri eher kompakte als differenzierte Klänge anstrebt. Kaum, dass einen mal ein extremes pianissimo, eine klare Tempoänderung aufhorchen ließe.

Dennoch trägt die Partitur eine besondere Stärke der Inszenierung. Wenn Tosca ihrem Geliebten Cavaradossi begegnet und danach dem lüsternen Polizeichef, entwickelt Tilman Knabe eine psychologische Feinheit, in der das Musiktheater ganz zu sich kommt, weil an den gesungenen Linien entlang so viel über diese Menschen zu erfahren ist. Und weil sich die Solisten ganz geben, allen voran die strahlend und warm singende Erica Eloff. Sie ist hier keine flammende Diva, sondern eine labile, lebenshungrige, schöne Frau, die an Caravadossi Halt sucht, einem tapsigen, untersetzten Bohémien (Zurab Zurabishvili). Beides Menschen am Rand, durch Toscas irre Eifersucht eher verbunden als getrennt.

Man nähme dieser Tosca ihre Extreme auch ab, hätte der Regisseur sie nicht zusätzlich zur pillenschluckenden Borderlinerin gemacht. Wie die Erfahrung der Gewalt auf eine normal neurotische Zeitgenossin wirken würde, kann man so nicht erfahren. Wohl aber, wie subtil die Gewalt sich anschleichen kann. Denn Gerard Quinn macht – mit nicht großem, aber charakteristischem und fokussiertem Bariton – aus dem Scarpia einen gemütlich fein lächelnden sugar daddy in Uniform, der in Tosca das hilflose kleine Mädchen zu finden weiß. Dieses Mädchen selbst kommt als stumme Rolle auch noch vor, früh von Klerikern mißbraucht. Dass Scarpia selbst Schiss hat vor seiner Vorgesetzten, der coolen Königin, begriffe man auch, ohne dass sie ihn in seinem Büro zusammenschlagen lässt. Nachdenkenlassen ist Knabes Sache nicht, lieber setzt er immer noch eins drauf, und die Kastration der Männerleiche überrascht dann nicht wirklich: Das musste ja kommen!

So etwas passiert ja auch auf der Welt, und Schlimmeres. Gerade darum werden hier die Grenzen aktualisierender Drastik deutlich – mitunter wirkt der Ansatz schon selbst historisch. Die Individuen aber interessieren einen bis zum Schluss, und man hätte ihnen mehr Möglichkeiten zu leiseren, poetischeren Tönen gewünscht, klingenden Gegenentwürfen zur Gewalt in ihrer, unserer Welt. Zumal Zurab Zurabishvili, als Cavaradossi ein Schluri und Held wider Willen, muss über wenig moderatem Orchester seinen Tenor so verausgaben, dass er am Ende eng und hart klingt. Übrigens stirbt er nicht, und Tosca springt auch nicht vom Dach: Ihr Tod in Rom ist der wiedererstandene Scarpia. Ein Wahngebilde, das die Zuschauer unerlöst in die Nacht entlässt. Beziehungsweise ins Theaterlokal, wo die Hanseaten dann durchaus angeregt diskutieren…

Dieser Text erschien in der Opernwelt vom Januar 2017, S. 8/9, und ist urheberrechtlich geschützt, Besucht wurde die Vorstellung am 24. November 2016. Das Foto von Jochen Quast zeigt Erica Eloff (Tosca) und Gerard Quinn (Cavaradossi), eingekleidet von Gisa Kuhn.