Der überforderte Utopist

In Essen und Paris wird Wagners „Lohengrin“ als Antiheld sympathisch – und Jonas Kaufmann rekonvalesziert in verhaltenen Farben

Langer Mantel, Krempenhut, offenes Hemd, geflochtenes Schnürchen um den Hals. Cool ist der Typ, nicht angepasst, aber auch schüchtern. Und dann ist da dieser Junge, vielleicht sechs Jahre alt, zerbrechlich, die Haare bunt gestreift, die Augen umschattet. Er könnte sein sehr kleiner Bruder oder das Kind der ganz großen Liebe oder dem Outcast einfach zugelaufen sein. Man könnte sich die beiden auch an einer Imbissbude in Essen oder in der Pariser Metro vorstellen, in einer ganz anderen Geschichte. In Wagners Lohengrin von 1850 sind sie jedenfalls entschieden im falschen Film. Und darum genau richtig.

Denn diese Heldenoper ist als solche ja schon lange nicht mehr aufführbar. „Mit Gott für deutschen Reiches Ehr´“, das nationalistische Getöse, dem sich in schimmernder Wehr ein Übermensch aus ferner Gralsburg zugesellt, „in einem Nachen, von einem Schwan gezogen“ – das alles wird seit Jahrzehnten relativiert, ironisiert, dekonstruiert, weil man auf die grandiose Partitur nicht verzichten mag, eigentlich aber auch nicht auf das Märchen vom Mann der Träume, der die verstoßene Elsa rettet. Auch zwei aktuelle Produktionen brechen die Sage – aber so, dass der Held selbst wieder interessant wird.

Und zwar als Antiheld, als überforderte, gebrochene Persönlichkeit. Den Freak im Mantel hat sich die Regisseurin Tatjana Gürbaca für das Essener Aalto Theater ausgedacht, wo der Gralsbote ganz beiläufig aus dem Schatten in eine abstrakte Gegenwart tappt. Und für die Pariser Opéra hat an der Bastille Claus Guth seine Mailänder Inszenierung von 2012 überarbeitet. Hier liegt Lohengrin zuerst gekrümmt und barfuß auf dem Boden. Seine ersten Töne werden in der Premiere auch deswegen mit besonderer Spannung erwartet, weil es die ersten sind, die der Tenor Jonas Kaufmann nach längerer Stimmbanderkrankung singt.

Er erscheint wie hingebeamt in einen Kasernenhof des 19. Jahrhunderts, ein Gottesnarr, der nicht gleich weiß, wo er ist. Das gibt Kaufmann eine Lizenz zur Verhaltenheit, die er auch braucht. Mehr denn je fällt das etwas Kehlige seines Timbres auf, lange klingt er neben der schmelzreich strahlenden, fantastisch fokussierten Elsa von Martina Serafin und dem süffisant kraftvollen Telramund von Tomasz Konieczny wie hinter einer Wand. Seine Stimme entwickelt sich an diesem Abend parallel zur Rolle. Bis zum Ende des zweiten Akts lässt Guth diesen Lohengrin wie traumatisiert herumhuschen, danach geht es ihm besser.

Was ihn so verstört, muss man nicht gleich verstehen, schon gar nicht in der Oper, wo die Musik so vieles Ungesagte birgt. Doch die Regie sollte Menschen entstehen lassen, mit ihrer je eigenen Gravitation und Unberechenbarkeit. Die hat sich aus Guths Meisterschaft der Personenzeichnung aber offenkundig fortgeschlichen. Man erlebt Scherenschnittcharaktere, die aufeinander nur selten unmittelbar reagieren, und viele Zeichen, besonders signifikant das wuchtige Klavier im Kasernenhof, an dem fast alle Hauptdarsteller mal sitzen und an dem im Rückblick Ortrud, wie eine böse Clara Schumann ausstaffiert, der kleinen Elsa Unterricht mit Zeigestock gibt – eine von allzu vielen Randnotizen.

Guth hat tief nachgedacht über die Verortung von Lohengrin im 19. Jahrhundert, im Bildungsbürgertum, in der Welt von Militarismus und Industrialisierung, wie sie Christian Schmidts eisenbesäulte Galerien zeigen und in der poesiereiche Utopisten wie Lohengrin und Elsa verloren sind. Doch das begreift man eher, als dass man es erlebt. Die Konzeption, um Walter Benjamins Diktum mal umzudrehen, wird streckenweise zur Totenmaske des Werks. Richtig zum Leben kommt vor dem dritten Akt nur die unauslotbar bitterböse Ortrud von Evelyn Herlitzius, der man sogar das starke Vibrato nachsieht.

Der vielbeschäftigte Chor ist in Paris eher nur Teil der Kulisse. In Essen wird er unheimlich lebendig, zusammengedrängt auf weißer Treppe (Marc Weeger). Wenn da die Männer Elsas Kleid befummeln, erlebt man diese Typen fast als biologisches Phänomen, zugleich realistisch und abstrakt. Und wenn Elsas Widersacherin Ortrud ( stimmlich wie darstellerisch stark: Katrin Kapplusch) mit Hosenanzug und Föhnfrisur à la Hilary, Zweifel an der Integrität des noch ungeouteten Gralsboten schürt, dann sieht man der Masse die Dominoeffekte an, die in frühen Hexenjagden nicht anders liefen als in den „social networks“.

Gürbaca lässt in der Bewegungssprache ihres Chores viele Ebenen zu. Das ist weit entfernt vom opernchörigen „Jetzt sind wir alle lustig und jetzt laufen wir alle nach links“. Es bleibt auch Raum für poetische Momente. Staunende Menschen reichen über ihre Köpfe hinweg das bunthaarige Rätselkind hinab, Lohengrins Begleiter, einen blutjungen Darsteller von magischer Präsenz. Das ist der Schwan, Elsas verzauberter kleiner Bruder, dessen Verschwinden die komplexe Geschichte ja erst in Gang setzt. Man muss die hier nicht schon kennen, um berührt zu sein. Und man ist nie sicher, wie es weitergeht.

Ein Outsider wie Lohengrin ist in der Masse immer in Gefahr. Vielleicht passt sich der schüchterne Freak, von Daniel Johansson in der vierten Vorstellung zuerst harsch und dann zunehmend geschmeidig gesungen, auch darum an, lässt sich nach seinem – hier kampflosen – Sieg über Telramund lächelnd zum Befehlshaber machen und verheiraten. Doch auch ein Verklemmter steckt in ihm, den eine erotisch verspielte Elsa (Jessica Muirhead mit müheloser Höhe) in der taghellen Hochzeitsnacht so verlegen macht, dass ihm die verbotene, alles zerstörende Frage nach seiner Herkunft wohl nicht nur ungelegen kommt.

Während die Zweisamkeit in Essen ungemütlich ist, wird sie in Paris zur Zauberszene. Natur ist hineingewachsen in den Hof, Wasser plätschert zwischen Schilfbündeln und Bäumen, unendlich scheu und zart kommen Lohengrin, nun wie geheilt, und Elsa sich nahe. Jedes Wort ist wahr, wenn nach ihrer Frage Jonas Kaufmann singt: „Nun ist all unser Glück dahin.“ Pianofarben der Trauer, wie man sie selten hört. Das Zerbrechen des Vertrauens klingt fast tiefer als die Liebe selbst, und das Orchester unter der Leitung von Philippe Jordan, sonst oft etwas pauschal, findet hier und bei der Gralserzählung zu größter Sensibilität.

Die Essener Philharmoniker mit Tomáš Netopil am Pult lassen schon vorher aufhorchen. Mitunter, weil sie mit Getöse Gürbacas sensiblen Blick auf Masse und Macht übertönen, öfter aber, weil das Orchester mit Präzision und Sinnlichkeit schon selbst das Geschehen formt wie in den späteren Musikdramen. Dass man am Ende jedes Wort der Gralserzählung glaubt, ist in beiden Häusern verblüffend – denn Selbstgewißheit durften beide Gralsboten zuvor kaum zeigen. Aber zum einen sind die Solisten und Wagner hier ganz bei sich selbst. Zum anderen brauchen wir zwar keine Helden – aber Utopien.

Dieser Text erschien unter der Überschrift “Mit Fönfrisur” am 26. 1. 2017 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt.