Kategorie-Archiv: Oper

Gegen die Walmüdigkeit

Kinderoper mit Meerwert: Mischa Tangians „Moby Dick“ in Hannover

Im November 1820 wurde das Walfangschiff Essex durch Rammstöße eines Pottwals versenkt. Nur drei Männer überlebten. Der Steuermann schrieb ein Buch darüber, sein Sohn gab es 1841einem jungen Mann, der seinerseits gerade auf einem Walfänger angeheuert hatte und dort Entsetzliches erlebte: Herman Melville. Der Rest ist nicht nur Literaturgeschichte: „Moby Dick“, 1851 erschienen, wurde bislang achtmal verfilmt, vielfach vertont, als Hörspiel, Instrumentalstück, als Oper zuletzt vor sechs Jahren in Dallas. In Hannover ist der Stoff jetzt zur Kammeroper für Kinder ab zehn Jahren geworden – denn denen traut man mittlerweile viel mehr zu als noch vor fünfzehn Jahren.
moby dickSchiffsjunge Pip, Kapitän Ahab: Szene mit Ylva Stenberg und Frank Schneiders

Im rappelvollen Ballhof geht es nicht um den Wal als Modetier, von Kindern seiner Größe wegen geliebt, von Erwachsenen als Symbol bedrohter Natur. Das spielt zwar mit hinein ins Libretto der 80 Minuten, die Mischa Tangian komponierte, aber der lässt seine acht Darsteller und zehn Instrumentalisten (dirigiert von Mark Rohde) auch von Grausamkeit, Freundschaft, Blut, Naturgewalt erzählen, vom Eingesperrtsein und vom Ausgeliefertsein, von der Obsession des Kapitän Ahab, der schon vor dem ersten Ton im schwarzen Mantel über das Schiff hinkt. Wobei Bühnenbildnerin Christine Hielscher keine Konkurrenz zum Kino riskiert. Ihre „Pequod“ ist eine Abstraktion, ein lichtes weißes Gerüst als Anmutung eines Schiffsteils.

Weniger ist Meer. Mit so simplen Mitteln arbeiten Kinder ja selbst ganz gern – sofern sie nicht beizeiten vor der Glotze geparkt werden. Sie verstehen auch, dass die graue Plane, die einmal aus dem Bühnenboden in die Höhe gezogen wird, ein harpunierter Wal ist. Schließlich hat Ismael, der junge Matrose, die Jagd selbst geschildert, sprechend und als Ich-Erzähler, zugleich mittendrin und auf Seiten der Betrachter. Schauspieler Lukas Benjamin Engel nutzt intensiv und nuanciert den Raum, den ihm Partitur und Regie geben. Beide sind hier so dicht miteinander verzahnt, wie man es in Uraufführungen „großer“ Oper eher selten erlebt. Es wirkt, als hätten sich die junge Regisseurin Friederike Karig und der 28jährige Komponist diesen „Moby Dick“ zusammen ausgedacht.

Wenn anfangs ein Seemannslied angestimmt wird, singen das sieben Männer nebeneinander frontal in den Saal, doch gleich danach folgt die Auflösung in Geräuschhaftes, Verunsicherung, die sich in der Szene ebenso spiegelt wie wie viele andere Stilebenen. Mal ist das Spiel eindeutig, mal abstrahierend – das Rudern als knappe choreographische Skizze -, mal ein Kontrast: Zu dürrem Banjoklang erlebt man aggressiv sinnliche Handgreiflichkeiten. Starr stehen die Männer, wenn in liegenden Klängen die Unmenschlichkeit des Meeres spürbar wird, zu Ahabs Verzweiflung hört man schmelzende Streicher und Bläser. Und wenn´s stürmt, hört und sieht man das so klar wie in einer Barockoper.

Tangian verleugnet weder das Rüstzeug der Avantgarde, das ihm sein Lehrer Manfred Trojahn mitgab, noch scheut er Rockbeat und Melodram. Man merkt, dass das boomende Genre der Kinder- und Jugendoper die K(r)ämpfe hinter sich hat, ohne beim Anything goes landen zu müssen. Denn es geht eben nicht alles, das Publikum muss es ja kapieren. Immer klappt das auch an diesem Abend nicht, und grundsätzlich sollten Besucher unter fünfzehn die Geschichte vorher in groben Zügen kennen. Doch meist bleibt sie klar, und dabei wird auch Subtiles deutlich, etwa eine latente Ähnlichkeit zwischen Ahab und dem Wal. In diesem zähen Riesen scheint hier einer auch sich selbst töten zu wollen – und Frank Schneiders´ Miene spiegelt diesen Kampf.

Ihm kommt man überraschend nah in dieser Produktion, nicht weniger dem fatalistisch warmherzigen Harpunier Queequeg von Martin Busen oder dem vielgeschundenen Schiffsjungen Pip, den Sopranistin Ylva Stenberg nicht als bloße Hosenrolle anlegen muss – hier darf es auch um Ambivalenz gehen. Zuviel für Kinder? Nicht, solange immer rechtzeitig das nächste klare Signal auftaucht, ob es ein Fetzen Segel oder ein gefährlicher E-Bass ist. Die besten Sachen für Kinder sind sowieso nie nur simpel. Wer wissen will, warum Kinderopern zunehmend auch erwachsene Fans haben, findet in „Moby Dick“ eine Antwort. Aber am lautesten haben am Ende doch die Kinder getrampelt.

Dieser Text erschien in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 26.9.2016 und ist urheberrechtlich geschützt. Foto: Jakob Schnetz

Das weiße Kätzchen Kindheit

Alexander von Zemlinskys frühe, kaum gespielte Oper „Der Traumgörge“ wird in Hannover als freudianische Parabel erzählt. Der grandiosen Partitur tut das gut

Gedämpfte Streicher, flimmerndes Flageolett, leere Oktaven. Das Stück beginnt in erstaunlicher Nähe zur Ersten Sinfonie von Gustav Mahler. Aber nur deswegen hätte der die Oper seines Kollegen kaum zur Uraufführung an der Hofoper angenommen – jenes jüngeren Mannes immerhin, mit dem Mahlers Frau Alma ein paar Jahre zuvor eine Affäre hatte. Mahler verlangte ein paar Änderungen und setzte die Premiere für den 1. Oktober 1907 an. Drei Wochen nach Probenbeginn schmiss er allerdinfs seinen Posten hin, schon lange entnervt von Differenzen mit dem Wiener Hof und einer antisemitischen Pressekampagne.

Das war das vorläufige Todesurteil für den Traumgörge, die abgründige Märchenoper des Alexander Zemlinsky, 1871 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren und dort etabliert. Mahlers Nachfolger Felix Weingartner knickte vor der antisemitischen Hetze ein und setzte die Uraufführung ab. Erst 1980, vier Jahrzehnte nach dem Tod des verarmten Komponisten, der aus Hitlers Wien nach New York geflohen war, wurde die Oper in Nürnberg uraufgeführt, drei Häuser folgten nach – in drei Jahrzehnten. Ist Der Traumgörge doch nicht so gut, wie Mahler fand? Ist der Musikdramatiker Zemlinsky mit Eine Florentinische Tragödie und Der Zwerg nicht ohnehin gut erschlossen?

Hannovers Oper hat es jetzt ein weiteres Mal versucht. Und falls es diesmal gelingen sollte, dem seltsamen Träumer Görge einen dauerhafteren Platz im Bewusstsein zu sichern, dann liegt das auch am Unbewussten. Regisseur Johannes von Matuschka und sein Team realisieren das dreiaktige Märchenwerk nämlich so freudianisch, wie es von Zemlinsky und seinem Librettisten angelegt wurde. Aber nicht, indem sie das Personal rund um Sigmunds berühmte Couch in der Berggasse platzieren oder per Video Kastrationsängste im Publikum schüren (wie das zuletzt im heiß umstrittenen hannoverschen Freischütz geschah).

Sie nehmen einen Text beim Wort, der so jugendstilig verstiegen wie anspielungsreich ist und in jeder Zusammenfassung zwangsläufig idiotisch wirken muss: Träumer und Büchernarr Görge läuft seiner Braut Grete davon, weil ihm im Wald eine Prinzessin erschienen ist: „Lebendig müssen die Märchen werden!“ Später finden wir ihn verwahrlost an der Seite einer Gertraud, die als Hexe verschrien ist, schützt sie vor einem Mob, dessen Rädelsführer er beinah selbst geworden wäre, führt sie, die wahre Märchenfrau, heim in das Dorf seiner Jugend und genießt dort ein Glück „wie Kirchenfrieden tief und kühl“.

Kirchenfrieden? Das klingt nach Grabstätte. Etliche Passagen gibt es, die so doppelbödig sind – gerade im Geflecht dieser unglaublich reichen, raffiniert wuchernden und magisch die Stimmen tragenden Musik voller verzögerter Auflösungen, einem inneren Monolog gleich für großes Orchester, elf Solisten und Chor. Auch wenn Mark Rohde am Pult noch nicht jedes Detail zum Funkeln bringt, der Sog lässt niemals nach, die Musik zieht uns in einen großen Raum der Seele. In dem scheint Görge – von Tenor Robert Künzli nicht geschmeidig, aber dringlich gesungen – auf einem Rollbett den ersten Akt halb zu träumen, anfangs von Fabelwesen beäugt, dann von düsteren Dörflern.traumgörge
Robert Künzli ais Ttraumgörge, Kelly God als Gertraud. Foto: Jörg Landsberg

Die Kostüme von Amit Epstein sind eine (alp)traumhafte Auswahl aus Fin de Siècle und Bauernkrieg, Heimatschutzfront und Chiffon, die nüchternen Wände von David Hohmann stellen Klarheit her für die Erzählung in der Erzählung, deren Schlüssel die weiße Katze ist, ein aus der ersten Szene entwickelter Regieeinfall, ein stummes Kind im Tierkostüm: Der glückliche Görge früher Tage, die in wunderbaren Klängen aufscheinen. Der spätere Görge scheint stets nach seiner Mutter suchen – in den Märchen, die sie erzählte, in Gertraud (Kelly God), die ihm „wie einem verirrten Kinde“ Trost gibt.

Viel deutlicher als solche Worte – Librettist Leo Feld hat offensichtlich auch Freud gelesen – möchten auch die Regiesignale nicht werden. Der Mutterkomplex wird einem nicht aufgedrängt, die Musik nicht szenisch versimpelt. Schauspielregisseur Matuschka, 1974 geboren, nähert sich seiner ersten Oper mit Respekt, mitunter unbeholfen in der individuellen Personenführung, aber griffig in den Karikaturen latenter Brutalität des Kollektivs, die ins Progrom umschlägt. Der zweite Akt, in dem das geschieht, hat eine andere musikalische Sprache, noch immer durchzogen von feinsten Verästelungen, aber härter, gedrängter.

Da hat Stefan Adam als durchtriebener Pöbeltreiber, der Verständnis für den sensiblen Outsider heuchelt, einen starken Auftritt. Sozusagen im Zeitraffer zeigt die Partitur, wie sich aus Neid, Angst, Feindbildern eine tödliche Gruppenwucht entwickelt. Szenisch ist das nicht gerade originell gelöst, eher simpel, mit symbolstarker Choreographie und ein paar Feuertrögen. Aber das Phänomen ist ja auch so zeitlos wie aktuell. Man erkennt es wieder, ganz ohne Videos.  Zemlinsky kennt in seiner Musik die Banalität des Bösen und ihre Glut schon lange vor seiner Flucht aus Wien: Wer sie unterschätzt, verliert das Leben.

Das gilt auch für Gertraud. Im Libretto wird sie gerettet, doch was Zemlinsky komponiert, kann sie nicht überlebt haben. So ist in Hannover das idyllische Nachspiel im Heimatdorf nur der verzweifelte Traum eines Einsamen, neben dem eine Tote singt. Im Sommer Schnee, und das weiße Kätzchen Kindheit kuschelt sich ins Bett. Selbst an diesen letzten Traum kommt Görge nicht mehr heran: Das Bett wird umstellt von Tätern oder deren Schatten. Und die Musik dünnt aus, verfliegt, bis nur noch die Celli und Kontrabässe ein d im fünffachen piano spielen, das einen noch nach 110 Jahren frösteln lässt.

Dieser Text erschien am 21. April 2016 in der ZEIT und bei ZEIT online und ist urheberrechtlich geschützt.

Raketenstart an der Resterampe

Uraufführung in Linz: Moritz Eggerts SF-Oper „Terra Nova“ kommt über Klischees nicht hinaus

Schlittenglocken achteln emsig, Geigen fispeln, aus den Boxen pfeift die Toneinspielung „Schneesturm“, gegen den auf der Bühne drei Astronauten antapsen durch den Trockeneisnebel. „Dunkel und Kälte, Hitze und Dürre, kaum dass ich mein Herz noch spüre“, singt einer von ihnen. Wo sind wir hier gelandet? „Schneefeld im Testsimulator“, steht auf Seite 85 von 427 großen Partiturseiten. Die Männer üben für den Flug zu einem bewohnbaren Planeten der elften Galaxie. Aber, schwierigere Frage, wie kommt es zu dieser klammen Mischung von Holperversen, Klangklischees und fliegendem Klassenzimmer?

Man stellt sich solche Fragen zunehmend oft bei einer der aufwendigsten Uraufführungen dieser Saison. Vierzehn Sänger, zwei Chöre, großes Orchester, 21 Perkussionsteile plus Drumset und Pauken, Keyboard und E-Geräte hat der Komponist Moritz Eggert im prachtvollen Neubau des Landestheaters Linz versammelt, um eine zweieinhalbstündige Weltuntergangsoper auf die Beine zu stellen, „Terra Nova“, zusammen mit Dirigent Dennis Russell Davies und Regisseur Carlus Padrissa. Die letzte große Oper zur Apokalypse war György Ligetis „Le Grand Macabre“, übrigens im selben Jahr 1978 wie der Science-Fiction-Film „Die Körperfresser kommen“. In Linz ist der Film näher.

Mikroben aus Meteoriten verwandeln die Menschen in weiße, emotionsfreie Gestalten, liefern aber auch die neue Energie für ein Raumschiff, mit dem die Erdlinge einen Schwesterplaneten erreichen wollen. Denn die Erde, totalitär beherrscht, ist unbewohnbar geworden. Die Librettisten Franzobel und Rainer Mennicken, scheidender Intendant des Hauses, verbinden Kritik am Verfall von Umwelt und Demokratie mit Fragen an den Fortschritt. Das führt dann zu so geschmeidigen Sätzen wie „Das Verhältnis von Natur und Zivilisation braucht keine Steuerung mehr“ und Scherzen wie „Houston, wir haben kein Problem“.terra nova foto

Bemannte Raumfahrt im Musiktheater des frühen 21. Jahrhunderts: Szene aus “Terra Nova”. Foto:Ursula Kaufmann

Moritz Eggert hat auch schon die Nutzungsbedingungen von Google vertont, ein Fußballoratorium und eine Kinderoper geschrieben, Schmachtfetzen für Inga Humpe und Orchestermusik für Münchens Philharmoniker, sein „Hämmerklavier“ ist eine Kultnummer. Der 51-jährige Komponist, Pianist und Performer mischt auch als Blogger gern die eher verschwiegene Zunft der Tonsetzer auf und liegt gut im Wind mit seinem poppigen Kurs zwischen E und U, bemoosten Lagern, die im deutschsprachigen Raum noch immer gepflegt werden. Doch jetzt, da es groß und gefährlich werden soll, hört man nur noch Versatzstücke von der Resterampe.

Es gibt Stilzitate von „Zarathustra“ bis Minimal Music, rauchigen Swing und röhrenden Sandalenfilm. Eine Marilyn singt wie einst die Monroe, eine Astronomin mit dem vielsagenden Namen Pandura formt Linien wie aus Pfitzners Palestrina. Anders als ein Fusionist wie Peter Eötvös hat Eggert dabei keine Sprache hinter den Sprachen, anders als Steve Reich kein konzentriertes Idiom, in dem er sich mit seinem Thema verbindlich auseinandersetzen könnte. Seine Partitur gibt möglichst vielen Affen Zucker und könnte genauso gut den Turmbau zu Babel, Hänsel und Gretel und einen Samstag im Supermarkt zu einer popcornleichten Collage verbinden. Oder sogar noch besser.

Hier aber, wo es richtig moralisch wird, kommen die Klischees nicht über sich hinaus, auch wenn Eggert sie leichthändiger verbindet als Regisseur Carlus Padrissa. Da hebt und dreht sich die Bühne zu Massenaufmärschen, es gibt einen wummernden Raketenstart und zuckende Ballette der „Moonwalkers“, Systemkritiker, die wie grenzdebile Aborigines daherkommen. Die finale emotionale Entkernung der Menschen – ganz in weiß und gleichgeschaltet schreiten sie einher – ist begleitet von triumphalistischem Getöse, das man als ironischen Kommentar hören könnte. Wenn man dann noch wollte.

Übrigens hält Moritz Eggert das Komponieren „für die Nachwelt“ zu Recht für ein überholtes Geniekonzept. Sein Maßstab ist die Mitwelt, und es gibt so vieles, was sie dringend bräuchte. Diese Oper gehört leider nicht dazu.

Dieser Text erschien am 2. Juni 2016 minimal kürzer in der ZEIT (zusammen mit Mirko Webers Besprechung von “Koma” (Haas) unter der Überschrift “Oper ist, wo das Leben schweigt”) und ist urheberrechtlich geschützt.