Das weiße Kätzchen Kindheit

Alexander von Zemlinskys frühe, kaum gespielte Oper „Der Traumgörge“ wird in Hannover als freudianische Parabel erzählt. Der grandiosen Partitur tut das gut

Gedämpfte Streicher, flimmerndes Flageolett, leere Oktaven. Das Stück beginnt in erstaunlicher Nähe zur Ersten Sinfonie von Gustav Mahler. Aber nur deswegen hätte der die Oper seines Kollegen kaum zur Uraufführung an der Hofoper angenommen – jenes jüngeren Mannes immerhin, mit dem Mahlers Frau Alma ein paar Jahre zuvor eine Affäre hatte. Mahler verlangte ein paar Änderungen und setzte die Premiere für den 1. Oktober 1907 an. Drei Wochen nach Probenbeginn schmiss er allerdinfs seinen Posten hin, schon lange entnervt von Differenzen mit dem Wiener Hof und einer antisemitischen Pressekampagne.

Das war das vorläufige Todesurteil für den Traumgörge, die abgründige Märchenoper des Alexander Zemlinsky, 1871 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren und dort etabliert. Mahlers Nachfolger Felix Weingartner knickte vor der antisemitischen Hetze ein und setzte die Uraufführung ab. Erst 1980, vier Jahrzehnte nach dem Tod des verarmten Komponisten, der aus Hitlers Wien nach New York geflohen war, wurde die Oper in Nürnberg uraufgeführt, drei Häuser folgten nach – in drei Jahrzehnten. Ist Der Traumgörge doch nicht so gut, wie Mahler fand? Ist der Musikdramatiker Zemlinsky mit Eine Florentinische Tragödie und Der Zwerg nicht ohnehin gut erschlossen?

Hannovers Oper hat es jetzt ein weiteres Mal versucht. Und falls es diesmal gelingen sollte, dem seltsamen Träumer Görge einen dauerhafteren Platz im Bewusstsein zu sichern, dann liegt das auch am Unbewussten. Regisseur Johannes von Matuschka und sein Team realisieren das dreiaktige Märchenwerk nämlich so freudianisch, wie es von Zemlinsky und seinem Librettisten angelegt wurde. Aber nicht, indem sie das Personal rund um Sigmunds berühmte Couch in der Berggasse platzieren oder per Video Kastrationsängste im Publikum schüren (wie das zuletzt im heiß umstrittenen hannoverschen Freischütz geschah).

Sie nehmen einen Text beim Wort, der so jugendstilig verstiegen wie anspielungsreich ist und in jeder Zusammenfassung zwangsläufig idiotisch wirken muss: Träumer und Büchernarr Görge läuft seiner Braut Grete davon, weil ihm im Wald eine Prinzessin erschienen ist: „Lebendig müssen die Märchen werden!“ Später finden wir ihn verwahrlost an der Seite einer Gertraud, die als Hexe verschrien ist, schützt sie vor einem Mob, dessen Rädelsführer er beinah selbst geworden wäre, führt sie, die wahre Märchenfrau, heim in das Dorf seiner Jugend und genießt dort ein Glück „wie Kirchenfrieden tief und kühl“.

Kirchenfrieden? Das klingt nach Grabstätte. Etliche Passagen gibt es, die so doppelbödig sind – gerade im Geflecht dieser unglaublich reichen, raffiniert wuchernden und magisch die Stimmen tragenden Musik voller verzögerter Auflösungen, einem inneren Monolog gleich für großes Orchester, elf Solisten und Chor. Auch wenn Mark Rohde am Pult noch nicht jedes Detail zum Funkeln bringt, der Sog lässt niemals nach, die Musik zieht uns in einen großen Raum der Seele. In dem scheint Görge – von Tenor Robert Künzli nicht geschmeidig, aber dringlich gesungen – auf einem Rollbett den ersten Akt halb zu träumen, anfangs von Fabelwesen beäugt, dann von düsteren Dörflern.traumgörge
Robert Künzli ais Ttraumgörge, Kelly God als Gertraud. Foto: Jörg Landsberg

Die Kostüme von Amit Epstein sind eine (alp)traumhafte Auswahl aus Fin de Siècle und Bauernkrieg, Heimatschutzfront und Chiffon, die nüchternen Wände von David Hohmann stellen Klarheit her für die Erzählung in der Erzählung, deren Schlüssel die weiße Katze ist, ein aus der ersten Szene entwickelter Regieeinfall, ein stummes Kind im Tierkostüm: Der glückliche Görge früher Tage, die in wunderbaren Klängen aufscheinen. Der spätere Görge scheint stets nach seiner Mutter suchen – in den Märchen, die sie erzählte, in Gertraud (Kelly God), die ihm „wie einem verirrten Kinde“ Trost gibt.

Viel deutlicher als solche Worte – Librettist Leo Feld hat offensichtlich auch Freud gelesen – möchten auch die Regiesignale nicht werden. Der Mutterkomplex wird einem nicht aufgedrängt, die Musik nicht szenisch versimpelt. Schauspielregisseur Matuschka, 1974 geboren, nähert sich seiner ersten Oper mit Respekt, mitunter unbeholfen in der individuellen Personenführung, aber griffig in den Karikaturen latenter Brutalität des Kollektivs, die ins Progrom umschlägt. Der zweite Akt, in dem das geschieht, hat eine andere musikalische Sprache, noch immer durchzogen von feinsten Verästelungen, aber härter, gedrängter.

Da hat Stefan Adam als durchtriebener Pöbeltreiber, der Verständnis für den sensiblen Outsider heuchelt, einen starken Auftritt. Sozusagen im Zeitraffer zeigt die Partitur, wie sich aus Neid, Angst, Feindbildern eine tödliche Gruppenwucht entwickelt. Szenisch ist das nicht gerade originell gelöst, eher simpel, mit symbolstarker Choreographie und ein paar Feuertrögen. Aber das Phänomen ist ja auch so zeitlos wie aktuell. Man erkennt es wieder, ganz ohne Videos.  Zemlinsky kennt in seiner Musik die Banalität des Bösen und ihre Glut schon lange vor seiner Flucht aus Wien: Wer sie unterschätzt, verliert das Leben.

Das gilt auch für Gertraud. Im Libretto wird sie gerettet, doch was Zemlinsky komponiert, kann sie nicht überlebt haben. So ist in Hannover das idyllische Nachspiel im Heimatdorf nur der verzweifelte Traum eines Einsamen, neben dem eine Tote singt. Im Sommer Schnee, und das weiße Kätzchen Kindheit kuschelt sich ins Bett. Selbst an diesen letzten Traum kommt Görge nicht mehr heran: Das Bett wird umstellt von Tätern oder deren Schatten. Und die Musik dünnt aus, verfliegt, bis nur noch die Celli und Kontrabässe ein d im fünffachen piano spielen, das einen noch nach 110 Jahren frösteln lässt.

Dieser Text erschien am 21. April 2016 in der ZEIT und bei ZEIT online und ist urheberrechtlich geschützt.