Von wem ist eigentlich Satie?

Der eigensinnige Normanne und vermeintliche Vater der Minimal Music wird 150 – ein guter Anlass, ihn vor seinen Bewunderern zu retten

Satie

Komponistenbeleidigung ist kein Straftatbestand. Man muss von einem Künstler behaupten dürfen, er sei “musikalisch ein kompletter Analphabet, der durch seine Verbindung mit Debussy eine unverhoffte Gelegenheit fand, sich in die Kulissen der Geschichte zu schleichen”. Das hatte 1962 der Komponist Jean Barraqué geschrieben in einem Buch zum hundertsten Geburtstag von Claude Debussy – und damit Erik Satie abserviert, der gerade erst von John Cage als großer Befreier wiederentdeckt worden war. 1972 wurde Barraqué verklagt. Er hatte weder mit Saties Großneffen gerechnet noch mit der französischen Rechtsprechung zur “Verleumdung toter Verwandter”.

Tatsächlich verlor Barraqué den Prozess gegen den empörten Neffen, musste 3000 Franc Strafe zahlen, starb kurz danach mit 45 Jahren, in späteren Auflagen seines Buches fehlt die inkriminierte Passage. Indessen war er mit seiner Kritik an Erik Satie weder der Erste noch der Letzte. Pierre Boulez etwa, der schon 1952 beißend spottete und zu den “Erfindungen” Saties dessen Schüler ebenso zählte wie den Verzicht auf Taktstriche, bekannte sich noch 2009 zu seiner “Aversion gegen Dilettanten” und sagte über die zahlreichen Satie-Revivals: “Man kann das tausend Mal versuchen – und es wird tausend Mal nicht funktionieren. Für diese Leute gibt es keine Zukunft.”

Doch 150 Jahre nach seiner Geburt am 17. Mai 1866 wird Satie mindestens so heftig gefeiert wie die Epochengestalt Boulez. Er ist populär genug für 160 lieferbare Einspielungen, für Festivals und Musikmarathons und eine weitere Verlängerung der Publikationsliste, die derzeit rund 130 Bücher und Studien umfasst. Unter den Komponisten nach 1900 ist Satie der ewige Geheimtipp, der Popstar der Musikwissenschaft und der Musikszene zugleich. Er verträgt sich mit Jazz und Rock, mit Satire und Strawinsky, mit Postmoderne und Pazifismus. Mit feinem Lächeln scheint er die posthume Bürde zu tragen, Pionier von rund 80 Prozent der musikalischen Innovationen der Moderne gewesen sein zu sollen.

Man hat inzwischen fast ein schlechtes Gewissen, wenn man sich ein bisschen langweilt mit, zum Beispiel, seinen Klavierpetitessen um 1913, die mit Titeln wie Trink deine Schokolade nicht mit den Fingern oder Appetitverderbender Choral geradezu darum bitten, nicht zu schwer genommen zu werden, nicht auf Substanz belauscht, nicht nach hundert Jahren eingespeist in die “Kulissen der Geschichte”. Vielleicht wäre es besser, es lastete nicht auf jeder dieser verspielten Noten die Zukunft der Minimal Music, der Performatitivät und der Multimedialität, die Rettung der französischen Musik (Cocteau), die Befreiung von Beethoven (Cage), die Vorahnung von Kubismus, Dada und Surrealismus.

Paradoxerweise ist ein schlechtes Gewissen angesichts grandioser Maßstäbe genau das, wogegen Erik Satie anschrieb. Sein Vater hegte allzu große Pläne. Dieser Schiffsmakler aus Honfleur hatte das Metier gewechselt, versuchte sich in Paris als Musikverleger und druckte das erste Stück seines 19-jährigen Sohns großspurig als op. 62. Den 13-Jährigen hatte er aufs Konservatorium geschickt, wo Eric (er korrigierte dann zu “Erik”, stolz auf die normannische Herkunft) als Pianist ebenso auf der Strecke blieb wie später im Tonsatzunterricht. Dafür rächte er sich mit den Vexations (Quälereien), der Klavierkarikatur einer Tonsatzübung, 840 Mal hintereinander zu spielen.

1897 führt Satie das Leben eines Bohémiens und schlägt sich als Pianist im Nachtkabarett Le chat noir durch. Dort sagt man ihm nach, er habe “schlecht gespielt, aber hervorragend getrunken”. Für diese Jobs schreibt er dutzendweise Chansons und Walzer, deren Tonfall auch viele seiner anderen Stücke durchzieht und, so Grete Wehmeyer in ihrer Monografie, “einen der persönlichsten und modernsten Züge seines Œuvres” prägt. Von diesem Œuvre wüssten wir freilich nichts ohne die Genies und Geistesgrößen, denen der normannische Zausel in Paris über den Weg läuft und sympathisch ist.

Claude Debussy etwa, der bereits L’après-midi d’un faune komponiert hat, als er zwei der pianistischen Gymnopédies seines Freundes instrumentiert – oder, besser gesagt, als Rohmaterial für grandios farbschillernde Orchesterbilder verwendet, deren Konzerterfolg bei Satie Wut auf den Kollegen auslöst. Ihm selbst macht sein mangelndes Handwerk nämlich schwerer zu schaffen, als sein Schlachtruf “Vivent les Amateurs!” vermuten lässt. Noch 1908, mit 39 Jahren, beginnt er Kontrapunkt zu studieren, obwohl ihm Debussy davon abrät: Ein Komponist “krempelt seinen Stil in dem Alter nicht mehr um”. Vielleicht will er ihm Frust ersparen, vielleicht schätzt er ihn gerade als animierenden Amateur.

Satie ist 50, als Jean Cocteau ihn kennenlernt, 27-jähriger Pariser Literat, mit allen Wassern gewaschen. Cocteau findet Gefallen an den Drei Stücken in Birnenform, die Satie in einem Salon mit einem Freund vierhändig am Klavier vorträgt – eine schon 1903 verfasste Mischung aus Schlagern, Chansons, Meditation und Tradition, vom Komponisten kommentiert mit dem undurchschaubaren Hinweis: “In diesem Werk drücke ich mein angebrachtes und natürliches Erstaunen aus.” Dieses Erstaunen hat bei ihm oft etwas von einem Kinderblick auf die Welt. Seine Töne, immer auch Fundstücke, sind frei von Absichten und Visionen. Es ist Platz zwischen ihnen, für jeden – vielleicht liebt man Satie auch dafür. Cocteau jedenfalls, immer für Schräges zu haben, will daraus ein Ballett machen. Am Ende entsteht etwas ganz Neues, und zwar für Sergej Diaghilews Ballets Russes im Théâtre du Châtelet.

Avantgardistische Feinde der Nation

Parade, so heißt dieses “Ballet réaliste” mit Artisten, Zauberern und monströsen Managern, ist ein Paradebeispiel für die Entstehung eines Hypes. Hört man die 20 Orchesterminuten zu Cocteaus Libretto, an denen Satie ein Jahr lang bastelte, blockhafte Montagen aus Ragtime und Rumtata, Fuge und Tanzmusik, nebst Schreibmaschinenklappern und Pistolenknall, dann kündet das im Vergleich zu Pfitzners Palestrina aus demselben Uraufführungsjahr 1917 vom enormen Modernitätsvorsprung der französischen Metropole, und lustig ist es obendrein. Andererseits kann man das Stück nicht einfach mal neben Strawinskys Sacre von 1913 stellen, nur weil Parade im selben Theater ebenso viel Skandal machte.

Da kamen Prominenz und Politik zusammen. Cocteau war bereits ein Name, Bühnenbildner Picasso erst recht, Dirigent Ernest Ansermet und Choreograf Massine auch, die Ballets Russes waren Kult. Zugleich sahen Frankreichs Chauvinisten mitten im Krieg “in den avantgardistischen Künstlern von Montmartre Feinde der Nation” (Wehmeyer). Und obwohl Satie von Cocteau genötigt worden war, nach Futuristenart Geräusche einzubauen, die er nicht mochte, kam die Musik dem Kritiker von Le Courrier musical gar nicht modern vor, sondern “eher senil und antiquiert als verwegen und innovativ”. Dem Geheul der Nationalisten folgten Verrisse, aber auch Elogen.

In einer folgenreichen Kampfschrift hatte Cocteau den skurrilen Outsider überdies zum Retter der französischen Klarheit ausgerufen – im Gegensatz zu Debussy, der längst “vom deutschen Hinterhalt in die russische Falle” gelaufen sei. Satie wiederum befand hellsichtig über seinen “Entdecker”, Cocteau wisse “sehr wohl, dass Bühnenbild und Kostüme von Picasso sind, dass die Musik von Satie ist, aber er ist sich nicht sicher, ob Picasso und Satie von ihm sind”. Vielleicht hätte der Komponist Ähnliches von seinen weiteren Entdeckern gesagt, von Virgil Thompson und John Cage, der Satie 1948 als Überwinder Beethovens feierte und 1965 die Klavier-Quälereien mit einer 19-stündigen Uraufführung würdigte.

Vielleicht läse er staunend die akribischen Analysen, in deren jüngster etwa gewürdigt wird, wie der Komponist “Signifikanz” herstelle in Parade, nämlich “über Pendelmotive, Sekundschritte oder Figurationen in Achteln”, und dabei auch noch “dem Rezipienten die Scheinwelt innerhalb der eigenen Lebenswelt überdeutlich vor Augen führt”. Wenn Satie das gewusst hätte! Schon seine Bewunderer zu späten Lebzeiten warnte er davor, “Schule” zu machen, zugleich war er verbittert, als George Auric und Francis Poulenc sich von ihm abwandten. Trotz all seiner Pariser Sympathisanten und einiger Aufträge war Satie bettelarm, als er am 1. Juli 1925, mit 59 Jahren, einer Leberzirrhose erlag.

Man sieht es dem zierlichen Herrn nicht an, der im Jahr zuvor mit dem bulligen Dadaisten Francis Picabia über den Dächern von Paris herumhüpft, um eine alte Kanone herum, wie immer korrekt versehen mit Bowler und Regenschirm, in René Clairs Film Entr’acte, einer Großstadtcollage. Ihre kinderleichte, repetitive, dezidiert nebensächliche Musik ist Saties letzte Partitur. Wenn man dazu sieht, wie er, das Geschoss für die Kanone beschnuppernd, mit feinem Lächeln unter weitem Himmel steht, ist man wie einst John Cage befreit vom “ästhetischen Papperlapapp”, von allen Kulissen der Geschichte. Und möchte gleich mit ihm ins Café, um endlich mal nicht über Musik zu reden.

“The Sound of Erik Satie”: Klaviermusik, Orchestermusik mit u. a. Aldo Cicciolini, Alexandre Tharaud, Orchestre de Paris (3 CDs, Erato)
“Satie”: Arrangements für Klavier, Cembalo, Wurlitzer, Hammondorgel, Elektronik, Glockenspiel. Tamar Halperin (Neue Meister)
Erik Satie, “Socrate”: Fassung für Stimme und Klavier, Barbara Hannigan, Reinbert de Leeuw (Winter & Winter)

Dieser Text erschien am 12. Mai 2016 in der ZEIT und bei ZEIT online und ist urheberrechtlich geschützt.