Kategorie-Archiv: Oper

Eine matte Masche

Neues vom Ende einer problematischen Ära: Simone Young dirigiert in Hamburg die Uraufführung von Beat Furrers Oper „la bianca notte“

Gustav Mahler blickt entschlossen zum Bahnhof Dammtorstraße, die Maisonne funkelt auf der Bronzetafel mit seinem Profil, draußen an der Staatsoper Hamburg. Knapp sechs Jahre lang dirigierte er hier am Stadttheater, dann bestieg er den Zug nach Wien und wurde Hofoperndirektor. Maßstäbe setzte er schon an der Elbe, und denen haben sich hier seither einige gewachsen gezeigt.

An vielen Abenden auch Simone Young. Als sie vor zehn Jahren antrat,  begrüßte man sie gleich als „Weltklassedirigentin“. Darunter ging es nicht, schließlich zählte das Haus zur Spitze der europäischen Musiktheater. Und es liegt nicht nur an ihr, wenn Hamburgs Kultursenatorin jetzt leider sagen kann, das Haus habe „Luft nach oben in der überregionalen Wahrnehmung.“

Nun packt auch Simone Young die Koffer, und für die letzte Produktion, die sie als Intendantin verantwortet und als Generalmusikdirektorin leitet, ist ihr die überregionale Wahrnehmung sicher. Da hat sie nämlich mehr riskiert als je zuvor und eine Oper in Auftrag gegeben, in der so etwas wie „Handlung“ nur beiläufig eine Rolle spielt, die den Texten eines weithin unbekannten Dichters folgt und sie keineswegs in strömendem Gesang erschließt. Nur der Komponist ist, könnte man meinen, eine sichere Nummer. Beat Furrer, Jahrgang 1955, vielfach preisgekrönt, hat zuletzt mit seinem Musiktheater Fama wahre Wunder gewirkt, hat aus Zeilen von Ovid und Schnitzler einen Klangraum von suggestiver Kraft geschaffen, den keiner vergisst, der ihn erlebte.

Es ist eine kluge Wahl, die auf Furrer fiel, und er selbst hat klug gewählt, als er sich für Dino Campana entschied, der mit einem Leben und seinen Texten den Stoff für die Oper la bianca notte – die helle nacht liefert. 1885 in Mailand geboren, arbeitete Campana als Messerschleifer, Stallbursche, Leierkastenspieler und in einem Dutzend weiterer Jobs am Rande der Gesellschaft, ehe er 1914 im Selbstverlag seine Orphischen Gesänge erscheinen ließ. Abgründige, existentiell dichte Prosa und Poesie, die auf Cesare Pavese vorausweist. Campana endete indessen im Irrenhaus, und auch die Protokolle seines Arztes hat Furrer ins Libretto eingebaut. Die Collage, latent chronologisch über eine große Liebe in den Wahnsinn führend, liest sich spannend, die Partitur wunderbar transparent. Was soll da schiefgehen?

Das konnte man sich auch bei Simone Youngs Amtsantritt vor zehn Jahren fragen. Mit Paul Hindemiths Mathis der Maler hatte die Australierin, zuvor künstlerische Leiterin der Oper Sidney, einen bedeutenden deutschen Brocken auf die Bühne gestemmt, an den sich nicht viele wagen. Die Regie dazu führte zwar nicht sehr weit, aber ein Zeichen war doch gesetzt, und alle Türen standen offen: Schon Rolf Liebermann hatte die Hamburger für wagemutiges Musiktheater gewonnen, und nach ihm hatten Ingo Metzmacher als GMD und Louwrens Langevoort als Intendant einen Meilenstein nach dem anderen gesetzt. Allein schon Konwitschnys Wozzeck-Inszenierung und die Uraufführung von Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzchen machten Geschichte.

Aber sie hinterließen einen Maßstab, dem heute auch ein Gustav Mahler allein nicht gewachsen gewesen wäre, der einst in Wien für alles zuständig war, so wie zuletzt Young in Hamburg. Auch der beste und neugierigste Dirigent kann nicht zugleich den Überblick behalten über die Landschaft der zeitgenössischen Regisseure. Young kannte die Namen nicht und die Diskurse, sie war nicht gut beraten und machte Fehler. Keith Warners effekthascherische Inszenierung der Frau ohne Schatten bescherte dem Haus einen Buhsturm in Rekordstärke, der peinliche Don Giovanni von Filmregisseurin Doris Dörrie markierte einen Tiefpunkt nicht nur in der Hamburger Operngeschichte. Da mochten viele Kritiker dann nicht einmal mehr die Stärken der Ring-Regie von Claus Guth wahrnehmen.

Wen aber hätte Simone Young nun für ein zukunftsträchtiges Finale bitten können, Beat Furrers La bianca notte auf die Bühne zu bringen? Seine Fama verdankte ihren Erfolg auch der wahrhaft kongenialen Regie von Christoph Marthaler, der in einem eigens errichteten Gehäuse in Donaueschingen extrem klangbezogen eine Atmosphäre schuf, Signale setzte, bei denen niemand einen Plot vermisste. So einen Partner hätten auch die 90 Minuten gebraucht, in denen Furrer versucht, uns mit fünf Solisten, einem Chor und einem ausgewachsenen, schwer schlagzeughaltigen Sinfonieorchester die Welt des Dino Campana zu erschließen, gar ihre Nähe zu uns. Stattdessen stolpert Regisseur Ramin Gray in einer Mischung aus Abstraktion und Wortbebilderung durchs Stück.

Wenn Protagonist Dino (der präsente und profunde Bariton Tómas Tómasson) von einer Nacht der Liebe singt, wandert im Hintergrund eine durchsichtige Pyramide mit einer durchsichtig bekleideten Frau darin entlang. Wenn Bassbariton Derek Welton, Dinos Freund, von den „Spiegeln der Unendlichkeit“ spricht, in denen „Bilder der Edeldamen“ erscheinen, kommen sieben junge Frauen, zeigen Bein und befestigen Spiegelelemente am Boden. Eine große Marmorkugel trennt beim Duett den Dichter Dino und seine Geliebte Sibilla (klar und leuchtend: Sopranistin Golda Schultz), ehe die Kugel, an Magritte erinnernd, nach oben schwebt. Es bleiben edle Dekos, völlig unverbindlich, zwischen denen nicht das geringste Interesse für die Menschen wach wird.

Dabei werden die Schwächen der Partitur immer deutlicher. Anfangs interessiert einen noch die Sensibilität und Sorgfalt, mit der Furrer seine Patterns, seine Bewegungsmuster entwickelt. Präzise Schraffuren, blockartig aufs Orchester verteilt, dazu große Linien, die nach unten und oben auseinanderstreben. Doch irgendwann kommt der Punkt, an dem man diese Struktur als Masche wahrnimmt, weil sich dahinter nichts öffnet, weil Furrer, der doch so wunderbar  klingende Körper in den Raum stellen kann, selbst den sinnlichsten, abgründigsten Zeilen seines Dichters die Tiefe eher nimmt als gibt. Die Sänger bewegen sich vom Sprechen über psalmodierende Klagen und angestaute Töne wie bei Sciarrino bis zu romantischem Melos – aber bewegend ist das nicht.

Und das ist tragisch, das wünscht man Simone Young nicht, die doch mit diesem Auftrag auch etwas gut machen wollte. Nicht, dass sie die zeitgenössische Musik bis dahin ausgeklammert hätte . Es gab – abgesehen von Novitäten jenseits des großen Hauses – eine Uraufführung von Brett Dean, es gab Aribert Reimanns grandiosen Lear, wenn auch holzschnittartig inszeniert, es gab Wiederbelebungen wie die von York Höllers Meister und Margarita und eine ambitionierte Reihe, die sich neuen Klängen genreübergreifend näherte. Aber diese Produktionen ergaben noch keinen konzeptionellen Weg in einem Spielplan, der eher bunt als eigensinnig war und ein wichtiges Kapital verspielte, nämlich die Offenheit des liberalen Hamburger Publikums.

Das ist nun da, wenn auch nicht gerade vollzählig erschienen, und kann mit Furrers Partitur nicht einmal die größte Stärke der Dirigentin erleben. Simone Young hat ein überragendes Talent in der Erkundung von Klängen. Besonders bei Wagner hat sie oft eine Autarkie der Töne freigelegt, in der delikate Mixturen blühen, das Adrenalin kocht und dennoch alles viel sprechender bleibt, als wenn sie Mozart dirigiert. Bei Furrer gibt es viel zu koordinieren, aber wenig zu erkunden, da breitet sich nichts aus. Bis auf jene 87 Takte der vorletzten von 17 Szenen, in der die wunderbare Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner als La Chimera sich über Harmonien verströmt, die, nach soviel spröder Struktur, wie ein später Mahler in der Endlosschleife klingen.

„Ich weiß nicht, ob zwischen Felsen dein blasses Gesicht mir erschien“, heißt es da, und es ist, als erscheine da Mahlers blasses Gesicht, von Anstrengungen zerkerbt. Der, am ehesten, könnte ermessen, was Simone Young hier versucht hat, welche Arbeit in zehn Jahren steckt, nach denen ihre Nachfolger keineswegs von vorn anfangen müssen, der Intendant Georges Delnon und der GMD Kent Nagano. Dass die Zukunft des Hauses unter ihrer Leitung „Luft nach oben“ hat, heißt ja nicht, dass es keine Basis gäbe. Das Orchester ist in exzellenter Verfassung, und der Chor ist zu Besserem geschaffen, als in Krankenpflegertracht das Futuristische Manifest, das auch vorkommt, in Fragmente zu zerlegen. Was ja kein Fehler wäre, wenn zu diesem Zeitpunkt schon ein Sinn entstanden wäre.

Nach den quälend langen neunzig Minuten der hellen nacht weiß man deutlicher denn je, worauf es beim Musiktheater ankommt. Es muss nicht immer „erzählen“, aber es muss uns berühren. Und es muss den Schwächsten Würde geben und sie nicht, wie Regisseur Ramin Gray das am Ende mit dem wahnsinnigen Dichter tut, in ihrer Schwäche vorführen. Der darf, den Kopf voller Klebestreifen, dann noch das Licht ausknipsen. Ein matt ironischer Schluss, auf den kein Buh folgt, sondern freundlicher, kurzer Applaus.

Dieser Text erschien am 13. Mai 2015 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt

Schön auf dem Klangteppich bleiben

Wo Graphic Novel und Postpostmoderne zusammenfinden: Christian Thielemann und Philipp Stölzl versuchen sich in Salzburg an den beiden Kurzopern “Cavalleria rusticana” und “I Pagliacci”

Sie gingen hart ran an die Realität, diese Komponisten. Alltagstypen und Außenseiter holten sie nach vorn, die ohne happy end auf der Strecke blieben: zuerst eine Zigarettenarbeiterin, die man heute als Carmen verehrt, dann all die Leute, die zeitnah am echten Leben litten leiden. Man spricht immer noch von verismo, aber nichts altert so schnell wie die Realität, gerade in der Oper. Das Liebesleben italienischer Provinzler um 1890 war schon zwanzig Jahre später ein dankbares Genrebild, und so ging es bald im Doppelpack auf Erfolgskurs in Sachen Eifersucht (von Insidern knapp Cav/Pag genannt): Cavalleria rusticana von Pietro Mascagni und I Pagliacci von Ruggiero Leoncavallo.

Ehebruch geht immer, und wenn es gut klingt, um so besser: Das ist das Erfolgsgeheimnis dieser Kurzopern, und nicht irgendeine gesellschaftliche Brisanz, mit der man das Publikum der Salzburger Osterfestspiele wohl nur nerven würde. Up to date möchte man hier trotzdem sein, und da ist ein cinematographisch versierter Endvierziger wie Philipp Stölzl genau der richtige Regisseur. Er hüllt die Cavalleria ins Schwarzweiß frühen Kintopps ein und macht die große Bühne des Festspielhauses zum Split Screen. Auf zwei Etagen finden sich sechs Fächer verteilt, darin man Kirche, Kneipe, Kämmerlein sieht oder auch mal in Großaufnahme Lola am Dachfenster bei der Zigarette danach, alles sehr hüsch.

An optischen Querverweisen fehlt es nicht. Die halb plastische, halb gemalte Ausstattung der Fächer verbindet Graphic Novel mit Expressionismus und die Postpostmoderne mit Klamotten von 1900, und durch die Zitatenvirtuosität wird der Plot noch einfacher, als er es ist. Lolas Mann Alfio (grandios: Ambrogio Maestri) ist hier ein so brutaler Halbmafioso, dass er es verdient hat, gehörnt zu werden, und außerdem sieht Jonas Kaufmann als Turridu auch viel zu gut aus, als dass ihm nicht die schärfste Braut (Annalisa Stroppa) zustünde. Seiner stimmlichen Entfaltung kommen die Aktionskästchen nicht so entgegen wie der sitzengelassenen Santuzza: Liudmilla Monastyrska ist wirklich bewegend.

Sonst aber eigentlich nichts. Wo der Scherenschnitt jegliche Psychologie ersetzt, bleiben die Emotionen ebenso im Kästchen wie jeder Gegenwartsbezug (der sich in „Cav/Pag“ durchaus herstellen lässt, wie Calixto Bieito in Hannover bewiesen hat). Die Dresdner Staatskapelle kommt derweil kaum aus dem Klangteppich heraus, den ihr Chef Christian Thielemann im Graben entrollt. Dass Achtel federn könnten wie eine Matraze, dass Synkopen die Wut des Gehörnten antreiben können, das hat man schon im unverklemmten Dresden des 18. Jahrhunderts besser gewusst. Viel näher als Mascagnis Partitur ist den Musikern die Sprache Leoncavallos, näher an Wagner, artifizieller auch, subtiler. Da wird Thielemann spannend und verbindlich.

Und Jonas Kaufmann, eben noch als Turrido abgestochen, ist nun Canio, der selbst ein sündiges Paar schlachtet. Neben seinem dringlichen, dunkel timbrierten Tenor beeindruckt Kaufmanns darstellerische Intensität. Diesem Bajazzo, der auf einer Jahrmarktsbühne einen Gehörnten spielen muss und selbst einer ist, glaubt man die Not. Auch alle anderen sind glänzend besetzt; vom kristallklar singenden Harlekin (Tansel Akzeybek) bis zur freiheitssuchenden Ehebrecherin (Maria Agresta) beantworten sie ein paar Fragen, die der Regisseur den Figuren gar nicht erst stellt. Stölzl steckt nun fest in seinem Split Screen, und statt der schwarz-weißen Graphic Novel kommt das knallbunte Ausstattungstheater der 1960er zum Vorschein.

Die Absicht hinter dekorativ fröhlichen Chorauftritten und einem Gestenvokabular aus der Mottenkiste lässt sich nicht ergründen, vielleicht gibt es einfach keine. Gerade dieser Regisseur, vertraut mit hybrider Multimedialität, hätte I Pagliacci daraufhin abklopfen können, was sie uns über die Verschmelzung individueller und virtueller Emotionen zu sagen haben. Nur weil die Gegenwart übermorgen schon wieder Patina hat, braucht man nicht an ihr vorbeizugehen. Man muss nicht gleich ein facebook-Drama basteln, aber doch fragen: Was geht uns das an, von Sex und Liebe einmal abgesehen? Auch dafür, dass diese Frage an diesem Abend nicht gestellt wurde, hat sich das Festspielpublikum begeistert bedankt.

Der Text erschien am 1.4.2015 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt

Logik kann tödlich sein

Frank Hilbrich inszeniert Detlev Glanerts Oper „Caligula“ in Hannover

Wenn Helicon traurig ist, eifersüchtig oder verzweifelt, dann ritzt er sich. Geht langsam, gesenkten Hauptes einher und traktiert mit Scherben seine Arme. Seinen Rücken überziehen Striemen. Ein einsamer, schöner Junge, ein Sklave, so oder so, völlig ergeben seinem Herrn. Ein Countertenor zudem, dessen Partie ungeheure Spannungen nachzeichnet. Denn der größte Wunsch seines Herrn ist so unerfüllbar wie dessen blutiges Ende unabwendbar. Kleinere Aufträge dagegen erledigt Helicon mit Inbrunst, er hilft beim Demütigen, Schänden, Hinrichten, er ist konsequenter Vollstrecker kaiserlicher Inhumanität.

Was Owen Willetts mit fokussierter Stimme und geballter Intensität aus dieser Sklavenrolle macht in Detlev Glanerts Oper „Caligula“, wie er und Regisseur Frank Hilbrich hier eine so verzweifelte wie starke Persönlichkeit entdecken, das allein wirft schon ein Licht auf das Potential dieser Oper, der zehnten des Berliner Komponisten, die 2006 in Frankfurt uraufgeführt und seither in Köln, London und Buenos Aires nachgespielt wurde. Nun hat der hannoversche Intendant Michael Klügl sie an sein Haus geholt und damit auch ein Sujet, das in Zeiten der Morde für eine „reine Lehre“ neue Aktualität bekommen könnte.

Albert Camus, nach dessen Drama „Caligula“ Hans-Ulrich Treichel das Libretto schrieb, entwarf 1938, zur Zeit Hitlers und Stalins, keinen wahnsinnigen Kaiser, sondern einen, den die Logik seiner Gedanken über Leichen gehen lässt. „Wenn Geld Bedeutung hat, dann hat der Mensch keine“, damit begründet Caligula die Ermordung und Enterbung von Bürgern zugunsten der Staatsfinanzen. Wobei er selbst das Wichtigste nicht mehr zu verlieren hat: Mit dem Tod seiner Schwester und Geliebten Drusilla beginnt eine Spirale, in der Machtvollkommenheit vom Mittel zum Sinn des Handelns wird, in dem kein Leben mehr zählt.

Detlev Glanert hat sich dafür, wie er sagt, ins Gehirn Caligulas begeben, hat seinem Orchester die verbindende Mitte genommen, die Bratschen, und die sieben Personen um den Kaiser so komponieren wollen, wie der selbst sie wahrnimmt. Zum Glück haben sie sich verselbstständigt. Neben Helicon sind vor allem Caligulas Frau Caesonia, sein Geliebter Scipio und sein Widersacher Cherea viel zu differenzierte Charaktere, um nur Projektionen zu sein. Mit singulärem Gespür für Stimmen, für das „Singen“ im traditionsbewussten Sinn hat Glanert starke, unmittelbar präsente Individuen geschaffen.

Da gibt es Terzette, Zwiegesänge, Monologe, in denen Schrekersche Bodenlosigkeit und Strauss´scher Schmelz so berührend fortgeschrieben werden, dass man Fragen nach der Gegenwärtigkeit des Materialstands gern dem TÜV überlässt. So klug wie innig zeigt uns Khatuna Mikaberidze die liebend gedemütigte, wissend ausgelieferte Frau des Tyrannen, der sich im Zwiegespräch mit dem geliebten Dichter Scipio (Mareike Morr) als lyrisch subtiler Mensch erweist. Er ist nicht nur intelligent, dieser Mörder, sondern auch empfindsam. Keine irre Bestie. Gerade das macht ihn so gefährlich.

Doch gerade das Gefährliche hat Regisseur Frank Hilbrich in dem Maße aufgeweicht, wie er dem Sklaven Kontur verleiht. Bariton Ralf Lukas, der den Caligula mit größter Souveränität und Energie singt, ist szenisch eher eine Karikatur spätrömischer Dekadenz, jammernd und larmoyant, die tote Schwester als Kuschelpuppe an sich drückend, sich vor der Masse lächerlich zur unförmigen Venus aufbrezelnd. Und das Gefüge der Macht wäre in seiner Eisigkeit durch Reduktion genauer zu zeigen als durch Ströme von Kunstblut, hilfloses Chorgezappel, den Einsatz signalhafter Gesten und Requisiten.

Vielleicht hat sich Hilbrich von der Hitze, vom Brodeln, vom mitunter auch Dröhnenden der Musik mitreißen lassen, die dabei doch sehr differenziert gefügt ist – wie das von Karen Kamensek exzellent vorbereitete Niedersächsische Staatsorchester hören lässt. Das luguber instrumentierte Gespräch zwischen Caligula und seinem Widersacher Cherea (dem Bassisten Per Bach Nissen) könnte es mit Verdis Begegnung zwischen Großinquisitor und König im „Don Carlos“ aufnehmen – aber dafür müsste man eine Begegnung auf Augenhöhe herbeiführen. Hilbrich kann so etwas, aber er hat sich anders entschieden.

So bleibt im engen, strengen Raum, den Bühnenbildner Volker Thiele in albtraumhafte Höhe wachsen lässt, manches unerforscht, was sich in dieser Partitur verbirgt. Was einem indessen lange nachgeht, ist die Atmosphäre der Ausweglosigkeit, in der sich der Kaiser bis zuletzt an einem ganz kindlichen Wunsch festklammert: Man möge ihm den Mond vom Himmel holen. „Es ist keine leichte Aufgabe“, sagt Helicon. „Aber lösbar“, sagt Caligula.

Der Text erschien geringfügig kürzer am 19.1.15 im Tagesspiegel Berlin und ist urheberrechtlich geschützt. Szenenfoto von Thomas M. Jauk: Der Sklave (Owen Willetts, links) und sein Kaiser (Ralf Lukas).

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