Frank Hilbrich inszeniert Detlev Glanerts Oper „Caligula“ in Hannover
Wenn Helicon traurig ist, eifersüchtig oder verzweifelt, dann ritzt er sich. Geht langsam, gesenkten Hauptes einher und traktiert mit Scherben seine Arme. Seinen Rücken überziehen Striemen. Ein einsamer, schöner Junge, ein Sklave, so oder so, völlig ergeben seinem Herrn. Ein Countertenor zudem, dessen Partie ungeheure Spannungen nachzeichnet. Denn der größte Wunsch seines Herrn ist so unerfüllbar wie dessen blutiges Ende unabwendbar. Kleinere Aufträge dagegen erledigt Helicon mit Inbrunst, er hilft beim Demütigen, Schänden, Hinrichten, er ist konsequenter Vollstrecker kaiserlicher Inhumanität.
Was Owen Willetts mit fokussierter Stimme und geballter Intensität aus dieser Sklavenrolle macht in Detlev Glanerts Oper „Caligula“, wie er und Regisseur Frank Hilbrich hier eine so verzweifelte wie starke Persönlichkeit entdecken, das allein wirft schon ein Licht auf das Potential dieser Oper, der zehnten des Berliner Komponisten, die 2006 in Frankfurt uraufgeführt und seither in Köln, London und Buenos Aires nachgespielt wurde. Nun hat der hannoversche Intendant Michael Klügl sie an sein Haus geholt und damit auch ein Sujet, das in Zeiten der Morde für eine „reine Lehre“ neue Aktualität bekommen könnte.
Albert Camus, nach dessen Drama „Caligula“ Hans-Ulrich Treichel das Libretto schrieb, entwarf 1938, zur Zeit Hitlers und Stalins, keinen wahnsinnigen Kaiser, sondern einen, den die Logik seiner Gedanken über Leichen gehen lässt. „Wenn Geld Bedeutung hat, dann hat der Mensch keine“, damit begründet Caligula die Ermordung und Enterbung von Bürgern zugunsten der Staatsfinanzen. Wobei er selbst das Wichtigste nicht mehr zu verlieren hat: Mit dem Tod seiner Schwester und Geliebten Drusilla beginnt eine Spirale, in der Machtvollkommenheit vom Mittel zum Sinn des Handelns wird, in dem kein Leben mehr zählt.
Detlev Glanert hat sich dafür, wie er sagt, ins Gehirn Caligulas begeben, hat seinem Orchester die verbindende Mitte genommen, die Bratschen, und die sieben Personen um den Kaiser so komponieren wollen, wie der selbst sie wahrnimmt. Zum Glück haben sie sich verselbstständigt. Neben Helicon sind vor allem Caligulas Frau Caesonia, sein Geliebter Scipio und sein Widersacher Cherea viel zu differenzierte Charaktere, um nur Projektionen zu sein. Mit singulärem Gespür für Stimmen, für das „Singen“ im traditionsbewussten Sinn hat Glanert starke, unmittelbar präsente Individuen geschaffen.
Da gibt es Terzette, Zwiegesänge, Monologe, in denen Schrekersche Bodenlosigkeit und Strauss´scher Schmelz so berührend fortgeschrieben werden, dass man Fragen nach der Gegenwärtigkeit des Materialstands gern dem TÜV überlässt. So klug wie innig zeigt uns Khatuna Mikaberidze die liebend gedemütigte, wissend ausgelieferte Frau des Tyrannen, der sich im Zwiegespräch mit dem geliebten Dichter Scipio (Mareike Morr) als lyrisch subtiler Mensch erweist. Er ist nicht nur intelligent, dieser Mörder, sondern auch empfindsam. Keine irre Bestie. Gerade das macht ihn so gefährlich.
Doch gerade das Gefährliche hat Regisseur Frank Hilbrich in dem Maße aufgeweicht, wie er dem Sklaven Kontur verleiht. Bariton Ralf Lukas, der den Caligula mit größter Souveränität und Energie singt, ist szenisch eher eine Karikatur spätrömischer Dekadenz, jammernd und larmoyant, die tote Schwester als Kuschelpuppe an sich drückend, sich vor der Masse lächerlich zur unförmigen Venus aufbrezelnd. Und das Gefüge der Macht wäre in seiner Eisigkeit durch Reduktion genauer zu zeigen als durch Ströme von Kunstblut, hilfloses Chorgezappel, den Einsatz signalhafter Gesten und Requisiten.
Vielleicht hat sich Hilbrich von der Hitze, vom Brodeln, vom mitunter auch Dröhnenden der Musik mitreißen lassen, die dabei doch sehr differenziert gefügt ist – wie das von Karen Kamensek exzellent vorbereitete Niedersächsische Staatsorchester hören lässt. Das luguber instrumentierte Gespräch zwischen Caligula und seinem Widersacher Cherea (dem Bassisten Per Bach Nissen) könnte es mit Verdis Begegnung zwischen Großinquisitor und König im „Don Carlos“ aufnehmen – aber dafür müsste man eine Begegnung auf Augenhöhe herbeiführen. Hilbrich kann so etwas, aber er hat sich anders entschieden.
So bleibt im engen, strengen Raum, den Bühnenbildner Volker Thiele in albtraumhafte Höhe wachsen lässt, manches unerforscht, was sich in dieser Partitur verbirgt. Was einem indessen lange nachgeht, ist die Atmosphäre der Ausweglosigkeit, in der sich der Kaiser bis zuletzt an einem ganz kindlichen Wunsch festklammert: Man möge ihm den Mond vom Himmel holen. „Es ist keine leichte Aufgabe“, sagt Helicon. „Aber lösbar“, sagt Caligula.
Der Text erschien geringfügig kürzer am 19.1.15 im Tagesspiegel Berlin und ist urheberrechtlich geschützt. Szenenfoto von Thomas M. Jauk: Der Sklave (Owen Willetts, links) und sein Kaiser (Ralf Lukas).