> Genau vier Wochen nach Weihnachten gab es jetzt in Tönning, im höchsten Norden, ein Weihnachtsoratorium zu hören, komponiert von 1722 bis 1753, sieben Kantaten. Von Bach kann es also nicht sein, aber der Komponist wäre beinahe an Stelle seines Zeitgenossen Thomaskantor geworden. Berufen war er bereits, da verdoppelte sein Darmstädter Arbeitgeber ihm einfach das Gehalt, und Graupner, jetzt sei der Name verraten, Christoph Graupner blieb und lieferte seinem Landgrafen weiterhin ein, zwei Kantaten pro Woche, insgesamt 1418! Denn natürlich hat er nicht im Ernst 31 Jahre für sein Weihnachtsoratorium gebraucht. Das wurde aus sechs kirchenjährlich passenden Kantaten zuerst von Florian Heyerick zusammengestellt und eingespielt und nun, in Tönning, vom Kreiskantor Christian Hoffmann um eine siebte ergänzt, und siehe, höre, es war gut. Soweit ich das als Mitwirkender sagen darf.
Graupner ist eine Entdeckung, ein irrer Typ, dem Dresdner Zeitgenossen Zelenka in seinem Eigensinn nicht unähnlich. Er liebt abrupte Schlüsse, die wuchtige Chorstücke fast ironisch an die Wand fahren, luxuriöse Details (vier Pauken, nur um ein paar Töne dunkel einzufärben) und die sakralen Momente der Grand´Opéra, der er um 100 Jahre voraus ist. Seine Choralinszenierungen hätten Meyerbeer hellhörig gemacht, und zwei von ihnen gehören zu den Highlights, die die für uns unterbelichtete Welt um Bach und Händel in mal mittagshellem, mal zaubrischem Licht zeigen. Etwa der Chor “Wacht auf, ruft uns die Stimme” von 1726. In mitteldeutscher Tradition wird der Choral in Inseln zerlegt, und vor diesem archaischen Archipel läuft die Moderne mit jagenden, glitzernden Triolen der Geigen und Flöten. Dass dazu Bratsche und Bässe unbedingt zupfen sollten statt streichen, hat Graupner übersehen, aber wir nicht. So kommt die Erotik dieser Jerusalemer Hochzeitsvorbereitungen noch pulsierender raus. In solistischer Besetzung jedenfalls. Orchestral ist das Werk hier, bei 12:25, zu hören, von der Mannheimer Hofkapelle ins Netz gestellt wie auch die unfassbar schöne 1741er Komposition “Jesu, ewger Hohepriester…” (ab 3:17) für Streicher, Sopran und Chor. Hier im Autograph zu sehen, das man wie alle Handschriften Graupners an der Universitäts-und Landesbibliothek Darmstadt herunterladen kann:
Bei uns sang Sopranistin Monika Mauch. DIESE Solistin in einer kleinen Kirche in Tönning? Nein, sie schwimmen nicht im Geld da oben. Es gibt aber renommierte Musiker, die gern mitmachen, wenn ein enthusiastischer Kantor wie Hoffmann mit seinem Propsteikantatenchor Eiderstedt (was für ein Name!) die Art von Wagnis unternimmt, die man in vielen gut gepolsterten Institutionen vermisst. Weil solche Musiker vor Weihnachten ausgebucht sind, hat Hoffmann Graupners “W.O.” einfach um vier Wochen verlegt. Die Laurentiuskirche war ausverkauft bis dicht unters hölzerne Tonnengewölbe. Die Leute nahmen auch gern das eine oder andre Stück in Kauf, das sich etwas streckt, aber sowas gibt es bei Bach (“Können Tränen meiner Wangen…”) ja auch. Mitunter bietet Graupner auch derartig idiotische Bratschenpartien, als habe er einen Lehrling gebeten, mal hier, mal da das Cello zu verdoppeln, aber möglichst so unmotiviert, dass der Bratscher die Stellen verpennt. Nein, habe ich nicht! Nur in den Proben. Und ich verzeihe Graupner alles für die Wonne zärtlicher Achtel und eine Prise Morricone im “Hohepriester”-Chor.
Eine Woche vorher habe ich mir in Hannover die Oper “Caligula” von Detlev Glanert angehört und angesehen, meine Besprechung für den “Tagesspiegel” ist jetzt auch hier in der Abteilung Oper zu lesen.