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„Hätt ich einen Weg für mein Inneres…“

Wolfgang Rihms Kammeroper “Jakob Lenz” von 1978 hält sich weit oben im Repertoire. Warum ihr Held uns immer näher kommt

Wie kommt es? Was traf Wolfgang Rihm, als er vor 37 Jahren seine Oper Jakob Lenz komponierte, die eines der meistgespielten zeitgenössischen Musiktheaterstücke wurde? Aus welcher Zeit entstand sie, in welche geriet sie, und warum hat Jakob Lenz die Jahrzehnte nicht nur überstanden, sondern scheint uns näher zu sein als die spektakulärsten Novitäten jenes Jahres 1979, in dem das Werk – am 8. März in Hamburg – uraufgeführt wurde? Woody Allens Manhattan und H. R. Gigers Alien wirken heute wie historische Dokumente, Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän und Günter Grass´ Treffen in Telgte sind Meisterwerke, aber gehören sie zu unserem Leben?

Ein Geheimnis des Lenz-Erfolges (neben dem der Begriff „Kammeroper“, so korrekt er ist, doch etwas nischenhaft wirkt) ist sicherlich der Text, der ihm zugrunde liegt, der Wolfgang Rihm anregte, auf dem das Libretto aufbaut. Von dem Prosastück, das man im Nachlass des Dichters Georg Büchner fand – er war mit nur 23 Jahren anno 1837 gestorben – lässt sich nicht sagen, es sei ein Meisterwerk, denn es ist mehr. Es ist frei von Form. Es bricht los aus dem nüchternen ersten Satz „Den 20. Januar ging Lenz durch`s Gebirg“, es ist mit dem letzten Satz „So lebte er hin“ eben nicht zu Ende, sondern reicht bis zu uns, hingehauen mit einer Direktheit, der keine Totenmaske wachsen kann.

Der Text gilt jenem Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, der von 1751 bis 1792 lebte, also zeitgleich mit Wolfgang Amadeus Mozart (den man schon deswegen nennen muss, weil er in diesem Zusammenhang so unpassend wirkt). Mit Die Soldaten schrieb Lenz ein hart zeitkritisches Stück filmschnittartig rasanter Szenenwechsel und sprengte die Einheit von Zeit und Ort. Davon hat Georg Büchner viel gelernt. Goethe nicht. Johann Wolfgang von Goethe war zwei Jahre älter als Lenz und sein und Freund, er nahm ihn mit nach Weimar, wo sich Lenz eine „Eseley“ geleistet haben soll. Mehr verriet Goethe nie, nachdem er den Freund vom Musenhof verstoßen hatte.

Ob Lenz zuvor schon psychisch instabil war oder ob erst der Bruch ihn brach, weiß man nicht. Jedenfalls litt er an psychotischen Schüben, als er im Januar 1778 vom elsässischen Pfarrer Oberlin aufgenommen wurde. Auf Oberlins Aufzeichnungen über Lenz stützte sich Büchner, als er das Unmögliche realisierte, einen sensiblen, klugen, gefährdeten Menschen zugleich von innen, aus ihm fühlend, und von außen zu schildern, und die Natur zugleich als Gegenüber und Projektion: „Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte …“

Ein Erfolgsgarant? Ein solcher Text ist in kein anderes Medium übersetzbar. Es könnte auch verwundern, dass in den späten 1970er Jahren ein junger deutscher Komponist ausgerechnet auf Büchners Lenz verfällt. Man lebte im Kalten Krieg. Das Uraufführungsjahr 1979 endete mit jenem „Doppelbeschluss“ der NATO, der die Aufstellung von Atomraketen in Westeuropa ebenso vorsieht wie Verhandlungen zur Rüstungsbegrenzung. Die neue „Friedensbewegung“ war noch nicht geboren, Studentenführer Rudi Dutschke und mit ihm die Reste der Studentenbewegung starben, aber die „Grünen“ gründeten sich, Zehntausende demonstrierten gegen Atommüll in Gorleben.

Die Atmosphäre zwischen Lähmung und Aufbruch begünstigte vielleicht die Neuentdeckung des Subjekts, des Ich im Gegensatz zur Welt. Rihm ist nicht der Einzige, der in jenen Jahren im Lenz den anderen Büchner entdeckt, nicht den politischen Revolutionär, der den Palästen Krieg ansagt, sondern den Zerrissenen, der wiederum sich im Geistesbruder und Anreger Lenz wiederfand. „Arbeiten ist mir unmöglich, ein dumpfes Brüten hat sich meiner bemeistert, in dem mir kaum ein Gedanke noch hell wird. Alles verzehrt sich in mir selbst. Hätt ich einen Weg für mein Inneres, aber ich habe keinen Schrei für den Schmerz, kein Jauchzen für die Freude, keine Harmonie für die Seligkeit.“

Das steht nicht in Lenz, das schreibt Büchner 1834 seiner Braut, und es wird, in der Mitte der Oper Wolfgang Rihms, vom Titelhelden gesprochen über dem tremolierenden Fis dreier Violoncelli. Es ist eines von vielen Zitaten, aus denen Michael Fröhling sein Libretto gefügt hat. Dem selbstmörderischen Versuch, Büchners Prosa in ein lineares Drama zu übersetzen, ist er durch Montage entgangen. Er entnimmt der Vorlage eine gewisse Chronologie, Situationen und einiges Gesagte, dazu kommen Aufzeichnungen Oberlins, Gedichte des realen Lenz, Bibelzitate, der Brief Büchners, eigene Worte. Dazu noch hat Fröhling jene „Aura um Wort, Text, Sinn“ eingefangen, auf die es Rihm ankommt.

Das gelingt auch deswegen, weil sich die Arbeit am Libretto und der Beginn der Komposition im Dezember 1977 überschneiden. „Weniger Monologe“ für Lenz verlangt Rihm noch im Januar 1978. „Je normaler seine Umgebung desto weniger bedarf es bühnenmäßiger Tricks seinen Zerfall zu zeigen. Er braucht also immer ein Gegenüber […] Ich will ihn doch singen lassen, aber wenig.“ Offenbar hat ihm zuerst eine Sprechrolle vorgeschwebt. Während sich Lenz in eine Baritonpartie verwandelt, verschiebt sich auch die Rolle Kaufmanns, jenes Besuchers, dem Lenz, ein letztes Mal seiner selbst sicher, seine Ästhetik darlegt. „Ich verlange in Allem – Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut …“

Zunächst wollte Rihm diesen Kaufmann wie alle „Bezugspersonen“ „im hohen Grad vernünftig“ – was er bei Büchner auch durchaus ist. Im Libretto wie in der Musik erscheint er aber als Spießer, als mediokre Figur, die das Empfindlichere mit Spott bekämpft: „Ein Poet im Dichterkleid zog sich zurück in Einsamkeit. Hahahahahahaha…“ Da wird ein Druck der Außenwelt auf Lenz erzeugt, der ihn weniger „krank“ erscheinen lässt. Die Besetzung am Ende: Lenz – Bariton, Pfarrer Oberlin – Bass, Besucher Kaufmann – Tenor. Dazu sechs Sängergestalten für „die Natur, die, nur für Lenz erfahrbar, mit ihm im Dialog steht“ (Rihm), und für die Dorfbevölkerung, zu der auch „2 oder 4 Kinder“ gehören.

Die Unbefangenheit, die Unmittelbarkeit, mit der er in sechs Monaten und ohne Skizzen den Jakob Lenz komponiert, hat neben Rihms Befähigungen auch mit einem Zeitpunkt in der Musikgeschichte zu tun – mit einer Befreiung von Dogmen und Missionen. Wer früher, in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, Opern schrieb, „blieb vom Kern der Neuen Musik ausgeschlossen“, stellt Hermann Danuser fest (Musik des 20. Jahrhunderts). Selbst Luigi Nono musste sich zu Intolleranza 1960, seiner „Szenischen Aktion“ mit fragmentierter Sprache, vorwerfen lassen, es handle sich um Ausdrucksmusik, die nicht strukturell genug verankert sei.

Während Nonos Kreise einen Henze noch als Schöngeist abtaten, mussten sie feststellen, dass 1965 mit avanciertesten Mitteln eine Jahrhundertoper vollendet war, nämlich Die Soldaten von Bernd Alois Zimmermann, nach dem Theaterstück von Lenz. Das Dogma der Unverträglichkeit von Oper und zeitgemäßem Komponieren wankte. Nach und nach galt auch der Einsatz traditioneller Mittel (von der Dur-Terz bis zum unhinterfragt „schönen“ Ton) nicht mehr zwangsläufig als regressiv. Durchaus vertraut mit der Avantgarde der künstlerischen „Elterngeneration“ um Klaus Huber und Karlheinz Stockhausen, konnte sich Wolfgang Rihm doch frei „als Komponist vorfinden“.

Und diesem Unbefangenen, schon mit Mitte zwanzig „geradezu furchteinflößend erfolgreich und produktiv“ (F.A.Z.), scheint es gut zu tun, dass er einem Unglücklichen nachspürt, einem ebenfalls Hochsensiblen, und dass zu seinen drei Solisten und sechs Stimmen nur elf Instrumente kommen. In dieser Reduktion schöpft er konzentriert aus dem Vollen unterschiedlichster Stilebenen. So kann sein Lenz aus serialistisch gezackten, triolischen, punktierten Intervallsprüngen zu „Ah, welch göttliches Licht…“ in die wörtlichen Entsprechungen der Madrigalkomponisten fallen, wenn er „…verbreitet sich um mich“ in verbreiterten Tönen singt, drei gestreckte Viertel pro Silbe.

Pfarrer Oberlin, die schützende Vaterfigur, setzt schon mal ganz barock über einem rezitativischen Sextakkord am Cembalo ein und ist vor der Ironie des Komponisten nie sicher. Er singt seine wackere Empfehlung „ein Tag, gefüllt mit harter Arbeit“ auf die Töne der Stadionhymne „So ein Tag, so wunderschön wie heute …“ Tonalität wird gezielt als „Redeweise“ eingesetzt (wie Dörte Schmidt es zeigt in Lenz im zeitgenössischen Musiktheater), ist aber auch subkutan präsent: Vorhandene Musiksprachen werden unablässig zu Werkstoffen. Mitsamt ihren Anklängen werden sie nicht nur als Signale verwendet, sondern so wie Tempi, Tonhöhen, Farben. Das Überlieferte bis hin zum jüngsten Fundus ist hier auch das, womit und worin einer komponiert.

Darum vertraut man sich ihm an, wenn im siebten Bild Jakob Lenz in einer wie angeträumten fiktiven Romantik den Abend im Gebirge erlebt: „Wie milde und süß des Abends Kühle herniedersinkt“, singt er im Dreivierteltakt. Man hört es ohne schlechtes Gewissen der Moderne und ohne den doppelten Boden eines Zitats, folgt Lenz in die Entspannung und wird so mit ihm erst recht Opfer der Stimmen, ob aus der Natur, ob im Hirn, die ihn an die unerreichbare Geliebte erinnern, bis die drei Celli ihn martern, seine treuen, unerbittlichen Begleiter. Im nächsten Bild kein Hauch mehr von Sehnsucht im Klang des Ensembles, nur abstrakt gespanntes Vermessen des Verlusts zu Büchners wunderschönem Satz „Wenn sie so durchs Zimmer ging, war jeder Schritt für mich Musik.“

Lenz selbst, der Hilflose, Einsame, bewirkt die Metamorphosen und Wechsel der Klangsprachen. So wird er jenseits des Textes zum Beweger. „Musik denkt sich, einmal begonnen, gedacht zu werden, in einem fort. Dass dieser Idealzustand von Musikerfindung auch nach außen dringt, ohne Formgeplänkel und Vorzeigeverlauf, das wurde bisher in der historischen Musik, wie ich glaube, nur einige Male von Komponisten auch wirklich gewünscht, versucht und auch erreicht“. Für diesen von Rihm beschriebenen Idealzustand scheint sich eine Oper schlecht zu eignen, die bei aller dramaturgischen Offenheit doch einen „Vorzeigeverlauf“ hat. Aber auch der kommt hier aus dem Inneren.

Ist das so unpolitisch, wie damals dem Kritiker Gerhard R. Koch eine ganze „Schule jüngerer deutscher Komponisten“ erschien, mit Rihm an der Spitze? „Von Musik im auch politischen Zusammenhang wollen sie nichts mehr wissen.“ Rihm gelang es aber – und vielleicht gelang es, weil es nicht sein erklärtes Ziel war –, Empathie mit einer extrem komplexen Gestalt zu wecken, mit einem, der eigentlich zu anders, zu kompliziert, auch zu elend ist, als dass man sich mit ihm identifizieren wollte. Bei Büchner fasziniert und beängstigt Lenz, bei Rihm kommt er einem nah auch deswegen, weil er identisch scheint mit den musikalischen Mitteln, und weil diese Mittel immer wieder Vertrautes in uns wachrufen, ohne dass wir es uns damit bequem machen können.

Die Kritiker der Uraufführung respektierten Rihms Abwendung „von der technologischen Orientierung der Nachkriegs-Avantgarde“, wie Hans-Klaus Jungheinrich schrieb. „Unverhohlen expressiv“ artikuliere sich der Komponist, „quasi distanzlos überlässt sich der Musikstrom der psychographischen Identifikation mit dem Helden.“ Den sah Jungheinrich als Zeitgenossen: „Lenz ist, auch und gerade heute, überall. Es gibt ihn hunderttausendfach in den Praxen der Psychotherapeuten.“ 1995 war er für die „taz“ noch näher gerückt: „In einer Zeit, in der mancher wieder „verrückt“ werden oder aussteigen mag, in dieser Zeit steht die Kammeroper an neun Bühnen auf dem Spielplan.“

Heute erscheint es politischer denn je, einen anderen, einen Menschen, ein Individuum nicht zu beschreiben und zu vermessen, sondern ihm zu sich zu folgen. Dieser Jakob Lenz geht uns etwas an. „Untersuchen Sie sich!“ befahl der reale Reinhold Michael Jakob Lenz 1774 seinen Lesern. „Wenn Sie aus dem Schauspielhause fortgehen, was ist das Residuum davon in Ihrer Brust? Dampf, der verraucht, sobald er an die Luft kommt. Sie merkten dem Dichter das Kunststück ab, Sie sahen ihm auf die Finger, es ist doch nur eine Komödie, sagen Sie und wer war die in der zweiten Loge?“ Der Jakob Lenz wäre ihm vielleicht fern gewesen. Die Wirkung dieser Oper sicher nicht.

Dieser Text erschien im Programmbuch der Oper Stuttgart zur Neuproduktion von “Jakob Lenz” in der Inszenierung von Andrea Breth, Premiere am 25. Oktober 2015, und ist urheberrechtlich geschützt.

Die Herzausreißerin

Vesselina Kasarova trifft als Stargast in der hannoverschen „Carmen“ auf einen José, der es in sich hat – und auf ein Orchester in Topform

Die Sache mit den Stargästen hat so ihre Tücken. Das Haus ist voll, sicher, aber passt die eingeflogene Überfliegerin ins Ensemble? Stellt sie alle in den Schatten, fremd in einer Produktion, in die sie rasch eingewiesen wurde? Wer, um Himmels willen, ist einem Bühnentier wie Vesselina Kasarova gewachsen, der bulgarischen Mezzosopranistin, die vor 22 Jahren als Einspringerin für Marylin Horne in Salzburg steil jene Umlaufbahn erreichte, auf der man sie seither bestaunt? Welcher José hat das Format, diese Carmen als verzweifelt Liebender in den Tod zu reißen? Ein Koreaner aus Hannover?

Oh ja. Eben das machte diesen Abend groß, dass Philipp Heo ihn so klein begann, wie es der wackere Soldat José in Georges Bizets Oper anfangs auch ist. Nicht, dass es dem Tenor da an Stimme und Fokus gefehlt hätte, aber an Freiheit, er war befangen. So, wie es einer ist, der bis dahin die Liebe für die lautere Fortsetzung familiärer Geborgenheit gehalten hat und nun zum ersten Mal die Angst spürt, die dem ganz großen Herzensreißen voraus geht. Oder eben auch dem ersten Auftritt mit einer wie Kasarova, die sofort voll da ist. Und sofort alle Spannungen spüren lässt, die Carmen so gefährlich machen.

Die hannoversche Inszenierung, sechs Jahre alt, ist ihr dabei nicht im Wege. Dass da in einheitlicher Gitteroptik keine neuen Perspektiven entstehen und die Personenführung im Grunde vertrauten Mustern folgt, lässt um so mehr Spielraum für starke Selbstgestalter wie Kasarova. Als Kerl tritt sie zuerst auf, in Uniform, aber auch im Rock wird sie nicht einfach zum zielführenden Vollweib. Maskenhaftes wechselt mit Explosivem. Man erlebt auch in der Stimme eine Frau, die mit großer Energie verbindet, was in ihr selbst auseinanderstrebt. Nicht geschmeidig und sinnlich klingt sie, sondern vor allem: unberechenbar.

Kasarova hat ein tiefes Register, in dem sie gaumig grollen kann, es ist der Raubtierkeller ihrer Stimme, die weiter oben auch bei großer Kraft nie einfarbig wird. Da sind Feuer und Stein zugleich, Sehnsucht und Trotz, und wenn sie jäh etwas ins piano verschwinden lässt, erschrickt man fast und fragt sich wie José: Wird sie jetzt ganz zärtlich oder besonders gemein? Dass manche Tonwechsel sehr kantig geraten, nicht nur zwischen den Registern, irritiert zuerst, doch immer mehr fasziniert die Persönlichkeit. Und das ist eben nicht die einer Sängerin, die hier nur mal eben „ihre“ Carmen vorführen will.

Vesselina Kasarova ist auch deswegen eine große Darstellerin, weil sie sich für die anderen interessiert, auf sie reagiert, und es ist enorm spannend, wie sie und Philipp Heo einander entdecken. Den Seitenblick, den sie José zuwirft, als sie ihn schon fallen gelassen hat, kann man nicht proben, er erzählt die Geschichte, die sie miteinander hatten, die an diesem Abend entsteht, weil hier ein Mann über sich hinauswächst. Er kämpft um sie, sein „Je t´aime“ glaubt man ihm, und zugleich hört man, dass auch Georges Bizet es ihm glaubt, der mitten im Ges-Dur ins renaissancehaft sakrale C-Dur einer großen Liebe schwenkt.

Einen Rivalen freilich hat José hier nicht wirklich. Es ist leider kein Regieeinfall, dass da ein eitler, abgehalfterter Torero die Treppe herabstolziert, der kein Kalb mehr zur Strecke bringen könnte. Carlos Álvarez, zur selben Generation zählend wie Kasarova und wie sie zuhause an den großen Häusern der Welt, fehlt es mittlerweile an Tiefe, Höhe und Durchschlagkraft, wenn auch nicht an baritonaler Selbstgewißheit. Lieber lauscht man der trotz starkem Vibrato klaren, innigen Micaëla der Sara Eterno, den gewitzt lockeren, präsenten Halbweltlerinnen von Stella Motina und Hanna Larissa Naujoks.

Und dann ist da noch der dritte Star des Abends neben Carmen und José. Selten hört man die Partitur in solcher Vielschichtigkeit, wie das Niedersächsische Staastsorchester sie realisiert. Es federt und leuchtet nicht nur, es zeigt auch den Kontrapunktiker und Simultanisten Bizet, der genial die Stilebenen verschränkt. Unablässig präpariert Dirigentin Anja Bihlmaier Details heraus, ohne die große Liebe zu zerlegen: Zu Beginn des vierten Aktes hört man in den Holzbläsern Linien, die nicht einfach legato sind, sondern schmerzvoll über sich hinausdrängen. Das kann nur zum Tod führen. Und zu einem großen Erfolg.

Dieser Text erschien am 3. 11. 2014 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und ist urheberrechtlich geschützt

Keine Ruh´ bei Tag und Nacht

Schwächelt der Verführer nach 226 Jahren im Dauereinsatz? Was machte Mozarts “Don Giovanni” schon durch, was steht ihm bevor? Zwei Regisseure in Brüssel und Berlin denken schon mal laut nach

Er hat sie alle gehabt. Junge und alte, große und kleine, scheu oder stürmisch, sozialistisch oder bourgeois, mit Glatze oder Mähne, musikalisch oder nicht, niemand konnte sich ihm entziehen. Scharenweise erlagen ihm vor allem die Männer. Denn sie beherrschten die Opernregie, bis Ruth Berghaus kam und ihm ebenfalls erlag. An Don Giovanni, der „Oper aller Opern“, wie E.T.A. Hoffmann das Werk schon 1815 bezeichnete, kommt kein Regisseur vorbei. Manche tauchen nach der Begegnung beglückt wieder auf, andere zerkirscht, demoralisiert – er aber geht aus jeder dieser Affären gestärkt hervor.

Oder? Den weltweit 23 neuen Inszenierungen in der vorigen Spielzeit folgen in der kommenden nur dreizehn, gleichauf mit Verdis Traviata. Nun hätte jeder lebende Komponist Tränen des Glücks in den Augen, brächte es seine Oper auf 300 Aufführungen in einer Saison. Aber für Don Giovanni gelten andere Maßstäbe. Schwächelt der Verführer nach 226 Jahren im Dauereinsatz? Breitet sich unter den rivalisierenden Regisseuren Erschöpfung aus? Was haben sie sich in den letzten sechzig Jahren nicht alles einfallen lassen, um sich ihm gewachsen zu zeigen! Ja, was eigentlich? Und wie steht´s derzeit ums Verführen und Verführtwerden?

Schlecht, sogar sehr schlecht, findet Krzysztof Warlikowski, der sich recht spät als Opernregisseure der mittleren Generation (Jahrgang 1962) durchgesetzt hat und das Werk in Brüssel inszenieren wird. Nicht über Mozart spricht er zuerst am Telefon, sondern von „Shame“, dem Film, den Steve McQueen vor drei Jahren vorgestellt hat. Ein gutaussehender New Yorker, Brandon, ist da besessen vom Sex. Zieht sich Pornos aus dem Netz rein, trifft sich unablässig mit Frauen, aber nie ist er wirklich befriedigt. „Der Film war ein Schock“, sagt Warlikowski. „Es ist wie eine Krankheit, eine Sucht. Brandon zerstört sich selbst.“

Der Titelheld von Mozarts Oper fährt am Ende zur Hölle. Das tut er in kaum noch einer Aufführung, doch tödlich enden für ihn die meisten trotzdem. Auch die Inszenierung, über die Warlikowski gerade nachdenkt. Er sieht keine moralische oder gar metaphysische Autorität am Werk, wenn der Verführer stirbt, nicht einmal ein Kollektiv ergrimmter Mitmenschen wie Calixto Bieito oder Michael Haneke. Bei dem wird der Held als eiskalter Gewinnmaximierer und Machtvögler am Ende aus der obersten Etage einer Konzernzentrale gekippt. „Ich sehe ihn als Opfer seiner Sucht. He fucks more and more and more – bis er im Wahnsinn nicht weiter kann. “ Don Giovanni fällt sich selbst zum Opfer.

Das Lesen zwischen den Zeilen ist der Kern des Regietheaters, und es begann sehr früh mit eben dieser Oper, mit E.T.A. Hoffmanns Vorstellung, es sei, sozusagen während der Ouvertüre, zum Sex mit Anna gekommen, sie sei verführt worden. „Das Feuer einer übermenschlichen Sinnlichkeit, Glut aus der Hölle, durchströmte ihr Innerstes und machte jeden Widerstand vergeblich…“ Seitdem gibt es die Geschichten, die man in den Tönen eher finden kann als im Text. Auf der Bühne hat sie aber erst Walter Felsenstein gestellt, der 1966 Don Giovanni in Ost-Berlin als Gescheiterten porträtierte: Donna Anna hatte ihn abblitzen lassen. Nie war der Edelmann so verunsichert wie damals in der DDR.

„Bei mir haben sie eine zeitgenössische Beziehung“, sagt Warlikowski, der über Geschichte und Philosophie erst mit über 30 Jahren zum Theater fand und von dort zur Oper. Barbara Hannigan, die er bereits als grandiose „Lulu“ inszenierte, wird seine Donna Anna sein. „Sie ist süchtig wie er und nach ihm, die beiden belügen die andern die ganze Zeit. Unsere ganze Gesellschaft ist ja süchtig, schauen Sie sich die Abhängigkeit vom Smartphone, vom Internet an!“ Aber woher kommt die Sucht? „Loneliness. Die Leute haben tausend virtuelle Freunde bei Facebook und kaum echte. Wir versuchen, die Einsamkeit zu füllen. Und als Künstler spiegele ich meine Gesellschaft, genau wie Mozart.“

Für Milieustudien eignet sich Mozarts dramma giocoso offenbar besonders gut. Peter Sellars schickte das Personal 1980 in einen New Yorker Bandenkrieg, Calixto Bieito zeigte Dealer und Luden in Barcelona. Und immer wieder wurde Endzeitliches beschworen, durchaus auch mal im Rüschenkostüm wie 1979 in Joseph Loseys Film mit dem dämonischen Ruggiero Raimondi in der Titelrolle. Donna Annas Vater, den er anfangs ersticht, trägt bei seiner Wiederkehr als Steinerner Gast eine römische Rüstung und holt mit dem Lüstling gleichsam die ganze feudale Gesellschaft ab in die Welt versunkener Imperien. Es ist die Parabel eines Epochenwechsels.

Raimondi war der erste Don Giovanni, den Herbert Fritsch erlebte, aber nicht vom Sessel aus. Fritsch, Jahrgang 1952, schlug sich als junger Schauspieler in München durch und verdiente sich als Techniker in der Oper etwas dazu. Seit er den Don backstage kennt, beschäftigt ihn diese „absolut schwerst erklärbare Figur“. Doch dass er sie nach langen, wilden Sprechtheaterjahren selbst inszenieren wird, davon hat er sich nicht träumen lassen, auch nicht nach seinem erfolgreichen Debüt als Opernregisseur 2013 in Zürich mit den Drei Schwestern von Peter Eötvös. Als Fritsch gefragt wurde, ob er Don Giovanni an der Komischen Oper Berlin machen wolle, da habe er erstmal „tief durchatmen“ müssen.

Für ihn ist es ein „vollkommenes Werk“. Ausgerechnet dieser als Tabuknacker an der Sinngrenze bekannte Bühnenmann, der auf seiner Website Goethes Mailied in rostig knarrende Fragmente zerlegt, vergleicht Mozarts Oper mit dem Satz des Pythagoras. „Den kann man nicht dekonstruieren. Das sind für mich Formeln, da kann ich keine Variable rausreißen, sonst bricht das Gebäude ein.“ Und den Don in unseren Alltag, unsere Welt „runterzuholen“, das findet Fritsch „so brutal, so gemein! Ich brauch´das nicht, ich werde von den Medien schon abgefüllt bis zum Gehtnichtmehr! Was in der Oper elementar erzählt wird, will ich wissen. Das klingt natürlich erstmal total altmodisch.“

Gemessen an den letzten zwanzig, dreißig Jahren Rezeptionsgeschichte auf jeden Fall. 1992 zum Beispiel erfand Herbert Wernicke die Familienaufstellung, in der von Anfang an alle da sind, modern gekleidet. Ein einziger Raum genügt, um an den Tönen entlang das Beziehungsgeflecht ganz neu und gegenwärtig zu weben. Dmitri Tcherniakow hat diesen Ansatz 2010 zu einer Perfektion gesteigert, die in der psychologischen Aufmerksamkeit und Feinheit der Personenführung Maßstäbe setzt wie einst Felsenstein. Freilich ist die Produktion optisch, gestisch, sozial   so nah an unserer Zeit, dass sie Gefahr läuft, rasch mit ihr zu altern.

Entzaubert haben den Don vor allem die Regisseurinnen. Bei Angela Brandt ist er für eine Fehlgeburt verantwortlich, bei Karoline Gruber für gar nichts: Nicht er hat Anna verführt, sondern sie ihn. Über solche Diskurse zerbricht sich Herbert Fritsch nicht den Kopf. „Ich geh´ da als totaler Blödmann ran, bereite mich wenig vor und lass´ mich überrollen. Meist kommt durch Schauspieler und Sänger was zustande, was man nicht absehen kann. Ich bin beim Proben immer mit auf der Bühne, damit wir gemeinsam in Schwingung geraten. Man muss sich am Stoff entzünden, bis die Flammen hochschlagen. Bloß kein Alltag!“

Aber wer oder was ist dieser Titelheld? Taugt er für alles, als „Gebilde, das sich nie zur festen Gestalt verdichtet“, wie Kierkegaard fand?  Ist er charakterlos? „Können Sie sich vorstellen“, fragt Krzysztof Warlikowski zurück, „dass Mozart so jemanden komponiert, ohne an sein eigenes Leben zu denken? Auch bei Alban Berg findet man alles aus seinem Leben wieder in Wozzeck und Lulu. Und ich finde im Don Giovanni auch etwas über mich, über den Donjuanismus in meinem Leben… Die Frage, was flößt mir Angst ein an dieser Gestalt, die  muss ich für mich genauso beantworten, wie Mozart das für sich tat.“

Fast erstaunlich, dass es noch Fragen gibt. Nach der letzten Spielzeit sah es nämlich so aus, als sei in Sachen Don Giovanni die äußerste Ausreizung erreicht. Gegensätzlichere Positionen lassen sich kaum denken als die der beiden wichtigsten Neuinszenierungen des vergangenen Sommers, die sich zugleich in einem Punkt einig waren: Irgendwie ist er gar nicht mehr da, der berühmte Verführer. In Frankfurt kann und will er eigentlich nicht mehr, er ist grauhaarig, hochreflektiert, steht neben sich – und ist uns dafür sehr nah. Christof Loy, im selben Jahr wie Krzysztof Warlikowski geboren, hat seine Regie auf einen grandiosen Sängerdarsteller im zeitlos historischen Ambiente zugeschnitten.

Christian Gerhaher ist alles andere als das virile Raubtier, das nur seinem Jetzt lebt, er scheint sein Tun wie eine Erinnerung zu reaktivieren. Wenn er Masetto droht, singt er das fast peinlich berührt, eher nebenbei. Wenn er mit Zerlina zusammen ist, wächst ihm aus dem alten „la ci darem“ ein Hauch neues Leben zu, wobei Zerlina offenbar mehr will als dieser Unschlüssige, dem die Unterbrechung durch seine Exfrau Elvira nicht ungelegen kommt. Und mit dem toten Komtur teilt er  sogar das weiße Kostüm, in dem Max Slevogt 1902 den Don Giovanni von Francisco d´Andrade porträtiert. Es ist eine wissende, erschöpfte Generation, die hier, wie vorzeitig gealtert, Abschied nimmt.

Die Regie in Hannover hingegen schafft die Figur komplett ab. Man sieht von ihr nur, was Don Giovanni selber sieht. Mit einer Projektionsfläche verdeckt Benedikt von Peter (37) die Bühne, auf ihr ist wie in einer Kreuzung aus Google Glass und Public Viewing zu sehen, was die headcam des Titelhelden übermittelt: den sterbenden Komtur, die nahen Gesichter der anderen, die mal hinter, mal vor der Wand agieren. Schon in der Partitur ist Giovanni ja weniger durch eigene Arien präsent als durch das, was er anrichtet – diese Abwesenheit gipfelt hier im medialen Update. Wie so viele Pioniertaten geht freilich auch diese einher mit Defiziten und hinterlässt die Frage: Lässt sich dieser Weg noch weiter gehen?

„Ich respektiere das“, meint Fritsch, „aber mein Weg ist es nicht. Ich glaube ans pure Theater. Ich will kein Neuerer sein. Ich liebe die Opulenz, es wird auch einen Fechtkampf geben, aber sonst kann ich nicht sagen, was es sein wird. Ich will nie dem Stück etwas erzählen. Schon wenn ich vom Giovanni sage, er sei ein Verführer, wird´s problematisch. Er könnte auch ein Magier sein. Diese absolute Stille, wenn er auf´s Fest kommt! Das hat etwas Jenseitiges.…“ Und der Steinerne Gast? Bleibt, was er einst war? „Genau. Das ist der Komtur, der aus dem Jenseits kommt. Ich möcht´s wie ein kleines Kind sehen.“

Bei Warlikowsky taucht der Komtur allenfalls als Wahnidee wieder auf. Der Mord, den Don Giovanni an Annas Vater begeht, ist für ihn der entscheidende Kick, der den Helden aus der Fassung reißt. Im 18. Jahrhundert, meint er, war es „kein Problem, jemanden zu töten. Heute ja. Mit diesem Mord ist etwas überschritten, da beschleunigt sich die Sache.“ In der Musik finde er genau das wieder. „Sie ist schnell, schnell, schnell, sie ändert sich dauernd. Da ist ein final point, auf den sie zustürzt, als hätte Mozart Koks genommen.“ Die Generation Facebook neben dem 30jährigen Mozart – das könnte spannend werden.

Mindestens genau so spannend wird es, die völlig konträren Ansätze von Fritsch und Warlikowski, dem Spontanisten und dem Analytiker, fast zeitgleich zu erleben. Zumal sie – wie alle weiteren elf Regisseure, die es wagen – damit rechnen müssen, dass am Ende ein Faktor alle Konzepte und Resultate durchkreuzt, der dieser Oper die Unsterblichkeit sichert: Die Musik. Sie hält zwar alles aus, doch sie bleibt unberechenbar. Und wer sie nicht trifft, wird aus der Affäre mit „Don Giovanni“ mit einem Katzenjammer hervorgehen.

Dieser Text erschien am 25. 9. 2014 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt