Keine Ruh´ bei Tag und Nacht

Schwächelt der Verführer nach 226 Jahren im Dauereinsatz? Was machte Mozarts “Don Giovanni” schon durch, was steht ihm bevor? Zwei Regisseure in Brüssel und Berlin denken schon mal laut nach

Er hat sie alle gehabt. Junge und alte, große und kleine, scheu oder stürmisch, sozialistisch oder bourgeois, mit Glatze oder Mähne, musikalisch oder nicht, niemand konnte sich ihm entziehen. Scharenweise erlagen ihm vor allem die Männer. Denn sie beherrschten die Opernregie, bis Ruth Berghaus kam und ihm ebenfalls erlag. An Don Giovanni, der „Oper aller Opern“, wie E.T.A. Hoffmann das Werk schon 1815 bezeichnete, kommt kein Regisseur vorbei. Manche tauchen nach der Begegnung beglückt wieder auf, andere zerkirscht, demoralisiert – er aber geht aus jeder dieser Affären gestärkt hervor.

Oder? Den weltweit 23 neuen Inszenierungen in der vorigen Spielzeit folgen in der kommenden nur dreizehn, gleichauf mit Verdis Traviata. Nun hätte jeder lebende Komponist Tränen des Glücks in den Augen, brächte es seine Oper auf 300 Aufführungen in einer Saison. Aber für Don Giovanni gelten andere Maßstäbe. Schwächelt der Verführer nach 226 Jahren im Dauereinsatz? Breitet sich unter den rivalisierenden Regisseuren Erschöpfung aus? Was haben sie sich in den letzten sechzig Jahren nicht alles einfallen lassen, um sich ihm gewachsen zu zeigen! Ja, was eigentlich? Und wie steht´s derzeit ums Verführen und Verführtwerden?

Schlecht, sogar sehr schlecht, findet Krzysztof Warlikowski, der sich recht spät als Opernregisseure der mittleren Generation (Jahrgang 1962) durchgesetzt hat und das Werk in Brüssel inszenieren wird. Nicht über Mozart spricht er zuerst am Telefon, sondern von „Shame“, dem Film, den Steve McQueen vor drei Jahren vorgestellt hat. Ein gutaussehender New Yorker, Brandon, ist da besessen vom Sex. Zieht sich Pornos aus dem Netz rein, trifft sich unablässig mit Frauen, aber nie ist er wirklich befriedigt. „Der Film war ein Schock“, sagt Warlikowski. „Es ist wie eine Krankheit, eine Sucht. Brandon zerstört sich selbst.“

Der Titelheld von Mozarts Oper fährt am Ende zur Hölle. Das tut er in kaum noch einer Aufführung, doch tödlich enden für ihn die meisten trotzdem. Auch die Inszenierung, über die Warlikowski gerade nachdenkt. Er sieht keine moralische oder gar metaphysische Autorität am Werk, wenn der Verführer stirbt, nicht einmal ein Kollektiv ergrimmter Mitmenschen wie Calixto Bieito oder Michael Haneke. Bei dem wird der Held als eiskalter Gewinnmaximierer und Machtvögler am Ende aus der obersten Etage einer Konzernzentrale gekippt. „Ich sehe ihn als Opfer seiner Sucht. He fucks more and more and more – bis er im Wahnsinn nicht weiter kann. “ Don Giovanni fällt sich selbst zum Opfer.

Das Lesen zwischen den Zeilen ist der Kern des Regietheaters, und es begann sehr früh mit eben dieser Oper, mit E.T.A. Hoffmanns Vorstellung, es sei, sozusagen während der Ouvertüre, zum Sex mit Anna gekommen, sie sei verführt worden. „Das Feuer einer übermenschlichen Sinnlichkeit, Glut aus der Hölle, durchströmte ihr Innerstes und machte jeden Widerstand vergeblich…“ Seitdem gibt es die Geschichten, die man in den Tönen eher finden kann als im Text. Auf der Bühne hat sie aber erst Walter Felsenstein gestellt, der 1966 Don Giovanni in Ost-Berlin als Gescheiterten porträtierte: Donna Anna hatte ihn abblitzen lassen. Nie war der Edelmann so verunsichert wie damals in der DDR.

„Bei mir haben sie eine zeitgenössische Beziehung“, sagt Warlikowski, der über Geschichte und Philosophie erst mit über 30 Jahren zum Theater fand und von dort zur Oper. Barbara Hannigan, die er bereits als grandiose „Lulu“ inszenierte, wird seine Donna Anna sein. „Sie ist süchtig wie er und nach ihm, die beiden belügen die andern die ganze Zeit. Unsere ganze Gesellschaft ist ja süchtig, schauen Sie sich die Abhängigkeit vom Smartphone, vom Internet an!“ Aber woher kommt die Sucht? „Loneliness. Die Leute haben tausend virtuelle Freunde bei Facebook und kaum echte. Wir versuchen, die Einsamkeit zu füllen. Und als Künstler spiegele ich meine Gesellschaft, genau wie Mozart.“

Für Milieustudien eignet sich Mozarts dramma giocoso offenbar besonders gut. Peter Sellars schickte das Personal 1980 in einen New Yorker Bandenkrieg, Calixto Bieito zeigte Dealer und Luden in Barcelona. Und immer wieder wurde Endzeitliches beschworen, durchaus auch mal im Rüschenkostüm wie 1979 in Joseph Loseys Film mit dem dämonischen Ruggiero Raimondi in der Titelrolle. Donna Annas Vater, den er anfangs ersticht, trägt bei seiner Wiederkehr als Steinerner Gast eine römische Rüstung und holt mit dem Lüstling gleichsam die ganze feudale Gesellschaft ab in die Welt versunkener Imperien. Es ist die Parabel eines Epochenwechsels.

Raimondi war der erste Don Giovanni, den Herbert Fritsch erlebte, aber nicht vom Sessel aus. Fritsch, Jahrgang 1952, schlug sich als junger Schauspieler in München durch und verdiente sich als Techniker in der Oper etwas dazu. Seit er den Don backstage kennt, beschäftigt ihn diese „absolut schwerst erklärbare Figur“. Doch dass er sie nach langen, wilden Sprechtheaterjahren selbst inszenieren wird, davon hat er sich nicht träumen lassen, auch nicht nach seinem erfolgreichen Debüt als Opernregisseur 2013 in Zürich mit den Drei Schwestern von Peter Eötvös. Als Fritsch gefragt wurde, ob er Don Giovanni an der Komischen Oper Berlin machen wolle, da habe er erstmal „tief durchatmen“ müssen.

Für ihn ist es ein „vollkommenes Werk“. Ausgerechnet dieser als Tabuknacker an der Sinngrenze bekannte Bühnenmann, der auf seiner Website Goethes Mailied in rostig knarrende Fragmente zerlegt, vergleicht Mozarts Oper mit dem Satz des Pythagoras. „Den kann man nicht dekonstruieren. Das sind für mich Formeln, da kann ich keine Variable rausreißen, sonst bricht das Gebäude ein.“ Und den Don in unseren Alltag, unsere Welt „runterzuholen“, das findet Fritsch „so brutal, so gemein! Ich brauch´das nicht, ich werde von den Medien schon abgefüllt bis zum Gehtnichtmehr! Was in der Oper elementar erzählt wird, will ich wissen. Das klingt natürlich erstmal total altmodisch.“

Gemessen an den letzten zwanzig, dreißig Jahren Rezeptionsgeschichte auf jeden Fall. 1992 zum Beispiel erfand Herbert Wernicke die Familienaufstellung, in der von Anfang an alle da sind, modern gekleidet. Ein einziger Raum genügt, um an den Tönen entlang das Beziehungsgeflecht ganz neu und gegenwärtig zu weben. Dmitri Tcherniakow hat diesen Ansatz 2010 zu einer Perfektion gesteigert, die in der psychologischen Aufmerksamkeit und Feinheit der Personenführung Maßstäbe setzt wie einst Felsenstein. Freilich ist die Produktion optisch, gestisch, sozial   so nah an unserer Zeit, dass sie Gefahr läuft, rasch mit ihr zu altern.

Entzaubert haben den Don vor allem die Regisseurinnen. Bei Angela Brandt ist er für eine Fehlgeburt verantwortlich, bei Karoline Gruber für gar nichts: Nicht er hat Anna verführt, sondern sie ihn. Über solche Diskurse zerbricht sich Herbert Fritsch nicht den Kopf. „Ich geh´ da als totaler Blödmann ran, bereite mich wenig vor und lass´ mich überrollen. Meist kommt durch Schauspieler und Sänger was zustande, was man nicht absehen kann. Ich bin beim Proben immer mit auf der Bühne, damit wir gemeinsam in Schwingung geraten. Man muss sich am Stoff entzünden, bis die Flammen hochschlagen. Bloß kein Alltag!“

Aber wer oder was ist dieser Titelheld? Taugt er für alles, als „Gebilde, das sich nie zur festen Gestalt verdichtet“, wie Kierkegaard fand?  Ist er charakterlos? „Können Sie sich vorstellen“, fragt Krzysztof Warlikowski zurück, „dass Mozart so jemanden komponiert, ohne an sein eigenes Leben zu denken? Auch bei Alban Berg findet man alles aus seinem Leben wieder in Wozzeck und Lulu. Und ich finde im Don Giovanni auch etwas über mich, über den Donjuanismus in meinem Leben… Die Frage, was flößt mir Angst ein an dieser Gestalt, die  muss ich für mich genauso beantworten, wie Mozart das für sich tat.“

Fast erstaunlich, dass es noch Fragen gibt. Nach der letzten Spielzeit sah es nämlich so aus, als sei in Sachen Don Giovanni die äußerste Ausreizung erreicht. Gegensätzlichere Positionen lassen sich kaum denken als die der beiden wichtigsten Neuinszenierungen des vergangenen Sommers, die sich zugleich in einem Punkt einig waren: Irgendwie ist er gar nicht mehr da, der berühmte Verführer. In Frankfurt kann und will er eigentlich nicht mehr, er ist grauhaarig, hochreflektiert, steht neben sich – und ist uns dafür sehr nah. Christof Loy, im selben Jahr wie Krzysztof Warlikowski geboren, hat seine Regie auf einen grandiosen Sängerdarsteller im zeitlos historischen Ambiente zugeschnitten.

Christian Gerhaher ist alles andere als das virile Raubtier, das nur seinem Jetzt lebt, er scheint sein Tun wie eine Erinnerung zu reaktivieren. Wenn er Masetto droht, singt er das fast peinlich berührt, eher nebenbei. Wenn er mit Zerlina zusammen ist, wächst ihm aus dem alten „la ci darem“ ein Hauch neues Leben zu, wobei Zerlina offenbar mehr will als dieser Unschlüssige, dem die Unterbrechung durch seine Exfrau Elvira nicht ungelegen kommt. Und mit dem toten Komtur teilt er  sogar das weiße Kostüm, in dem Max Slevogt 1902 den Don Giovanni von Francisco d´Andrade porträtiert. Es ist eine wissende, erschöpfte Generation, die hier, wie vorzeitig gealtert, Abschied nimmt.

Die Regie in Hannover hingegen schafft die Figur komplett ab. Man sieht von ihr nur, was Don Giovanni selber sieht. Mit einer Projektionsfläche verdeckt Benedikt von Peter (37) die Bühne, auf ihr ist wie in einer Kreuzung aus Google Glass und Public Viewing zu sehen, was die headcam des Titelhelden übermittelt: den sterbenden Komtur, die nahen Gesichter der anderen, die mal hinter, mal vor der Wand agieren. Schon in der Partitur ist Giovanni ja weniger durch eigene Arien präsent als durch das, was er anrichtet – diese Abwesenheit gipfelt hier im medialen Update. Wie so viele Pioniertaten geht freilich auch diese einher mit Defiziten und hinterlässt die Frage: Lässt sich dieser Weg noch weiter gehen?

„Ich respektiere das“, meint Fritsch, „aber mein Weg ist es nicht. Ich glaube ans pure Theater. Ich will kein Neuerer sein. Ich liebe die Opulenz, es wird auch einen Fechtkampf geben, aber sonst kann ich nicht sagen, was es sein wird. Ich will nie dem Stück etwas erzählen. Schon wenn ich vom Giovanni sage, er sei ein Verführer, wird´s problematisch. Er könnte auch ein Magier sein. Diese absolute Stille, wenn er auf´s Fest kommt! Das hat etwas Jenseitiges.…“ Und der Steinerne Gast? Bleibt, was er einst war? „Genau. Das ist der Komtur, der aus dem Jenseits kommt. Ich möcht´s wie ein kleines Kind sehen.“

Bei Warlikowsky taucht der Komtur allenfalls als Wahnidee wieder auf. Der Mord, den Don Giovanni an Annas Vater begeht, ist für ihn der entscheidende Kick, der den Helden aus der Fassung reißt. Im 18. Jahrhundert, meint er, war es „kein Problem, jemanden zu töten. Heute ja. Mit diesem Mord ist etwas überschritten, da beschleunigt sich die Sache.“ In der Musik finde er genau das wieder. „Sie ist schnell, schnell, schnell, sie ändert sich dauernd. Da ist ein final point, auf den sie zustürzt, als hätte Mozart Koks genommen.“ Die Generation Facebook neben dem 30jährigen Mozart – das könnte spannend werden.

Mindestens genau so spannend wird es, die völlig konträren Ansätze von Fritsch und Warlikowski, dem Spontanisten und dem Analytiker, fast zeitgleich zu erleben. Zumal sie – wie alle weiteren elf Regisseure, die es wagen – damit rechnen müssen, dass am Ende ein Faktor alle Konzepte und Resultate durchkreuzt, der dieser Oper die Unsterblichkeit sichert: Die Musik. Sie hält zwar alles aus, doch sie bleibt unberechenbar. Und wer sie nicht trifft, wird aus der Affäre mit „Don Giovanni“ mit einem Katzenjammer hervorgehen.

Dieser Text erschien am 25. 9. 2014 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt