Die Absage des Jahrhunderts

Irgendwann  stöberten sie ihn doch auf, die Reporter. Am linken Ufer der Seine saß er mit seiner Lebensgefährtin und verzehrte Schweinsrippchen mit Linsen, der Mann, der an diesem 22. Oktober 1964 den Nobelpreis für Literatur ausgeschlagen hatte. Und zwar freiwillig, nicht unter dem Druck einer Regierung wie sechs Jahre zuvor der Russe Boris Pasternak. Jean-Paul Sartre, 59 Jahre alt, wollte weder Geld noch Ehre. Den Ruhm hatte er der Schriftsteller, Dramatiker, Philosoph, politische Aktivist, der Existentialist eh schon.

Seine politische Unabhängigkeit aber sah er nun bedroht. Er wünsche, erklärte er, die Annäherung zwischen Ost und West, zwischen der bürgerlichen Kultur, aus der er komme, und dem Sozialismus, mit dem er sympathisiere. Jede Auszeichnung gefährde die Balance. Den Leninpreis würde er genauso abgelehnt haben. Klatsch! In Skandinavien nahm man die Absage als Ohrfeige für die Akademie in Stockholm wahr. In Frankreich spottete man, wahrscheinlich stecke nur die Eifersucht von Simone de Beauvoir dahinter.

Tatsächlich zwingt Sartre uns bis heute, darüber nachzudenken, wie weit eine Ehrung auch immer die Normen einer Gesellschaft bestätigt. Manche hätten der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff gern den Büchnerpreis wieder weggenommen, nachdem sie auf abscheuliche Weise ihren Abscheu vor künstlicher Befruchtung geäußert hatte. Bei Peter Handke (Serbien!) wird jede zweite Preisverleihung zum Eklat. Beide wollen nicht politisch sein, noch weniger aber konform. Und damit werden sie eben doch politisch.

Sartre war es bewusst. Aber wer wäre heute so konsequent? Eigensinn muss man sich erstmal leisten können, so lautet unausgesprochen der Konsens, bis dahin nimmt man mit, was man kriegen kann. Zum Trost: Auch Sartre war ein Mensch. Elf Jahre später fragte er an, ob er das Preisgeld nicht doch noch kriegen könnte. Und schon 1964 hat er in „Die Wörter“ bekannt, wie er sich als Kind das Autorendasein vorstellte: „Bewusst ließ ich Schriftstellerkunst und Edelmut zusammenfließen.“ Ein Spiel. Aber er hat es ernst werden lassen.

Dieser Text erschien am 22. 10. 2014 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und ist urheberrechtlich geschützt