Keine Angst vor Extremisten

Der Kanadier Marc-André Hamelin gilt als „Übervirtuose“ . Bei Schumann erweist er sich jetzt als wunderbarer Poet am Klavier. Eine Begegnung

Im Gespräch fallen die Hände nicht auf. Wenig Gestik, keine pianistische Langfingrigkeit. Sie sind so unauffällig, wie Marc-André Hamelin sich selbst zum Flügel bewegt, fast etwas steif. Kaum sitzt er, lässt er die Linke frei, die Rechte ruht. Und diese eine Linke spielt nun Stücke, für die sonst zwei Hände eines exzellenten Pianisten gerade so ausreichen. Fünf Etüden des Klavierpoeten Chopin, eine schwieriger als die andere. Die Hand ist es, die diese Musik spielt, nicht der Pianist. Wir sehen ein Lebewesen über die Tasten rasen, krabbeln, springen, sich in sie stürzend wie in Wogen. Keine Bewegung zuviel, wie ein Tier, das sich in Epochen der Evolution vollendet seinem Biotop angepasst hat.

Und das ist keine virtuose Zirkusnummer, sondern Musik. Anstatt über dem manuellen Mirakel Ideen und Entwicklungen zu vergessen, entdecken wir sie neu. Die Vielstimmigkeit in der Lyrik der Skalen, die Konsistenz harmonischer Verläufe, das Körperliche von Tönen. Zudem sind diese Umschreibungen des 1870 geborenen Leopold Godowski auch ein Nachdenken über den Kollegen Chopin. Wären nicht stets mehrere Dimensionen vereint in Marc-André Hamelins Spiel (für das er sonst mit Erfolg auch beide Hände einsetzt), man würde ihn kaum als bedeutendsten kanadischen Pianisten seit Glenn Gould feiern. Wobei er nicht das größte, sondern das anspruchsvollste Publikum hat.

Was PR-Leute von praktisch jedem Solisten behaupten, den sie betreuen, haben die Fans von Hamelin schon vor zwanzig Jahren bemerkt: Markt und Mainstream sind ihm komplett egal. Mozart, Schubert, Schumann gelten ihm viel, aber nicht mehr als die irren Typen, die er ständig aus dem Schatten meißelt: Die Russen Georgi Catoire und Nikolai Capustin etwa, den Litauer Leopold Godowsky, den Franzosen Charles Valentin Alkan. „Ich unterscheide nicht zwischen traditionell und exotisch. Dass ein Œuvre nicht so bekannt ist, liegt manchmal nur an den Umständen“, sagt der Mann, den Kritiker gern auch „Übervirtuosen“ oder „Zentauren“ nennen, einen Klaviermenschen.

„Das Denken außerhalb des Instruments wird unterschätzt“

Dabei ist der 52jährige, der am Vormittag nach den Eskapaden seiner Linken, nach einem durchtriebenen Mozart, einem experimentellen Schubert beim Klavierfestival Ruhr im Hotel sitzt, das Gegenteil eines Autisten, dessen Seele den Saiten gehört, auch kein Rächer der Enterbten, sondern ein zur Ironie neigender Mensch mit hellen Augen und tiefer Stimme. „Freedom is good!“, das hat er, 1961 geboren, von seinem Vater gelernt, dem Apotheker und Amateurpianisten Gilles Hamelin in Montreal. Mit fünf begann er Klavier zu spielen, probierte bald all die Noten aus, die da herumlagen, begann zu komponieren. „Mein Vater hat mich niemals an irgendetwas gehindert“, sagt er voller Wärme.

Mit dreizehn hatte Marc-André den Kosmos der Concord Sonata von Charles Ives durchmessen, mit siebzehn genoß er Pierre Boulez´ geistblitzende Sonate von 1954, den Lehrern an der Montreal Music School sagte er nicht davon, „wahrscheinlich kannten sie die Stücke nicht.“ Sie förderten auch nicht, was er für unabdingbar hält, „indispensible“ – dass nämlich jeder Musiker komponieren sollte, wie das bis vor hundert Jahren üblich war. „Man wird aufmerksamer für alles, was die Komponisten machen. Vor allem lernt man, dass jeder Komponist die Notation auf seine Weise benutzt.“ Man kann nicht einfach „spielen, was da steht“, sondern muss herausfinden, wer was mit den Noten meint.

Bei Nikolai Andrejewitsch Roslavez gelang ihm das nicht gleich. 1881 in Russland geboren, schrieb der anno 1914 Klavierstücke, neben denen Schönberg eher entgegenkommend wirkt. Niemand hatte das je aufgenommen. „Ein WDR-Redakteur schickte mir die Noten; ich erinnere mich, dass ich Angst bekam. Das gehört zur Kategorie von Stücken, die man in Teile zerlegen muss, um sie zu verstehen. Ich fragte mich, wie kann man das spielen? Zugleich sagte ich mir: Ich will das hören!“ So erleben wir mit Hamelin, wie der Flügel zum Shuttle wird, in dem man durch kristalline Strukturen eisiger Galaxien schwebt, noch über Lems Solaris hinweg, in eine Logik jenseits aller vertrauten Sprachen.

Auch in so schweren Fällen schließt sich der Pianist keineswegs mit dem Flügel ein. Er geht spazieren. „Das Denken außerhalb des Instruments wird schwer unterschätzt. Ich denke nicht in Zielen, sondern in Problemen.“ Er übe, so gesehen, 24 Stunden am Tag. Eine Dame, der er diese Zahl nannte, fragte entsetzt: „Und wann schlafen Sie?“ Hamelin lacht und beobachtet interessiert einen Hund, der durch die Lobby geführt wird. „Ich bin es nicht gewohnt, Hunde in Hotels zu sehen, verrückt! Das ist in den USA verboten.“ Zur Fortsetzung seines Studiums war er in die Staaten gezogen, nach Philadelphia; jetzt lebt er in Boston an der Ostküste, zusammen mit der Radiomoderatorin Cathy Fuller.

Beim letzten Umzug füllte seine Notensammlung 83 Kisten. „Wenn ich erforschen wollte, was da drin ist, hätte ich mehrere Leben lang zu tun“, meint er, der sich Anregungen nicht nur aus diesem Fundus, sondern auch von Freunden und alten Aufnahmen holt. Dabei stieß er auf einen weiteren eigenwilligen Russen, Nikolai Kapustin, dessen Tasteneruptionen von Boogiepulsen angetrieben werden, eine Art Kreuzung aus Nancarrow und Vulkanausbruch. Als Hamelin diese Musik in London spielte, reiste Kapustin – Jahrgang 1937 – drei Tage lang mit dem Zug aus Moskau an, er fliegt nie. Hat es ihm gefallen? „Ich wusste, dass er es mochte. Aber er ist außergewöhnlich zurückhaltend – and to say that doesn´t even begin to describe it.

So verschroben viele der Typen sind, deren Musik er spielt – für ihn zählt nur Qualität, und „dass sie für Hörer schreiben, nicht für sich.“ Darum hat Hamelin sich von den Klavierdschungeln des Kaikhosru Shapurji Sorabji, bei Insidern raunend hoch gehandelt, früh wieder abgewandt. „Warum soll ich zehn Jahre an einem Viereinhalbstundenstück arbeiten, das dann nur 75 Leute hören wollen? No point!“ Lieber zeigt er im Smartphone die Partituren von Godowsky, den Chopin für die linke Hand. „Er wusste wirklich, wie man Polyphonie in einer einzigen Hand darstellt. Er ist der erfinderischste. Dagegen sind die einarmigen Stücke von Korngold und – Sakrileg! – sogar Ravel ziemlich blass.“

Spannungen an der Außenhaut der Gedanken

Von Godowsky hat er sich selbst als Komponist auch anregen lassen, alle drei a-Moll-Etüden von Chopin in eine einzige zu pressen. „Ein Scherz“, sagt er auf deutsch. Und ein Spiel der Strukturen, deren Verdichtung einem echte Hirnkitzel beschert. So etwas legt Hamelin übrigens auch bei Mozart offen, aber noch wichtiger als die reine Freude an der Konstruktion ist ihm da der „Reichtum der Emotionen“. „Man spricht immer vom singenden Ton am Klavier, aber die Nachahmung der Rede ist genau so wichtig. Ich empfinde den musikalischen Diskurs immer als gesprochenen Text und habe die Vorstellung, dass jedes Adjektiv im Wörterbuch musikalisch reproduziert werden kann.

Was aber Hamelin auf seiner jüngsten CD gelingt, macht jedes Wörterbuch zum Rudiment. Schumanns Kinderszenen klingen sprechend, denkend, sie formulieren das Unbeschreibliche hinter Titeln wie Hasche-Mann und Fürchtenmachen sensibler als jede Prosa. Wo hat man das Kind im Einschlummern je so gehört, mit Augen, die dunkel wie das Meer am Abend werden? Wann ein Steckenpferd, dessen ungebremste Raserei den Ernst im Spiel enthüllt? Eine Träumerei, deren Ritardandi nicht schwelgen, sondern Spannungen an der Außenhaut der Gedanken sind? Hamelin dringt mit seiner Kunst in die Weiten dieser kleinen Stücke ein und schreibt sie neu.

Das tut gewissermaßen auch seine Linke, wenn sie Chopins Etüden angeht, wenn sich die Finger andere, neue Gedanken machen, mitunter die „Langustengedanken“, die Sartre hinter dem fremden Blick aufs Vertraute vermutete. Als diese Hand die berühmte Revolutionsetüde erreicht, wird die Rechte nervös, legt sich auf dem Bein bereit als Hüter der Konvention, als potenzieller Helfer auch. Fanfaren über endlosen Sechzehntelbögen, das kann eine Hand allein doch nicht schaffen! Und wenn, was wird sie herausfinden? Man ist hinterher fast erstaunt, dass Hamelin die Hand nicht abnimmt und in einen Käfig steckt. Ein ganzer Mensch, lehrt er uns, ist man nur mitsamt der Extreme.

Janáček: Auf überwachsenen Pfaden I; Schumann: Waldzenen op. 82, Kinderszenen op. 15. Marc-André Hamelin, Klavier (Hyperion CDA 68030 / Note 1)

Dieser Text erschien am 1.10.2014 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt