Der Gralsritter

Er gilt weltweit als idealer Lohengrin, aber Mozart und Motorradfahren kann er auch. Im Gespräch kommt hinter dem Heldentenor Klaus Florian Vogt ein gut geerdeter Holsteiner zum Vorschein

Ach ja, die Taube. Über die Stelle mit der Taube, mit der kleinen Terz hinauf zum e, neben dem ein piano steht, räsonieren die Fachleute und die Aficionados wie über ein delikates Hindernis im Parcours: Von mezzavoce und von Kopfstimmenresonanz ist die Rede und von den fünf besten Interpreten. Wenn man liest, was über gewisse Opernstellen und ihre Sänger geschrieben wird, könnte man denken, es gehe um Springreiten und nicht um Theater. Um so schöner, wenn solche Takte auf der Bühne wieder Leben werden. Wenn die Taube auf sich warten lässt. „Alljährlich naht vom Himmel eine…“ Lohengrin zögert, vielleicht will er doch nichts verraten? Dann erscheint sie, unendlich zart. Als erzähle dieser traurige, sehnsuchtsvolle, gerade furchtbar enttäuschte junge Mann wirklich zum ersten Mal von dem, was ihm heilig ist, so enthüllt er seinen Zuhörern an diesem Abend den Gral.

Ganz egal, wie skeptisch man gegenüber Wagner und seinem Lohengrin in die Oper gekommen ist: Diese Stimme hat etwas, das einen glauben lässt – an den Sinn der Schönheit, die Schönheit des Sinns. Auch das Zögern scheint von da zu kommen, als ergäben sich die Worte nur aus dem Eigenleben des Klangs, der Stimme. So erlebte man das diesen Sommer in Bayreuth, mit dem Lohengrin unserer Tage, dem Tenor Klaus Florian Vogt.

Vom Beifallsorkan wird er am Ende schier gegen den Vorhang gedrückt und ist immer noch der Gralsbote, weil so viel nachklingt und weil er, mit hoher Gestalt und blonder Lockenmähne, in Hans Neuenfels´ Inszenierung zwischen rattenköpfigen Brabantern aussehen darf wie der Heldentenor schlechthin und nicht ganz von dieser Welt. Am nächsten Tag steigt der Gralsbote in Jeans aus seinem Geländewagen, bestellt sich einen Capuccino und erweist sich als extrem geerdeter Holsteiner, der sich fast wundert, dass „so eine Menschenmasse wegen mir so eine Reaktion zeigt. Das beeindruckt mich.“ Und was ist mit dem Druck, dem er vorher ausgesetzt ist? „Was für ein Druck?“

Über Druck denke er eigentlich nicht nach. „Ich versuche ja, in diese Rolle zu kommen. Das ist eine ganz große Freiheit, das zu machen, was man so gerne mag. Das mit seiner eigenen Stimme und seinem eigenen Dasein zu bewerkstelligen. Da freue ich mich drauf.“ Er spricht nicht schnell, ohne dass es einem langsam vorkäme. Bedächtig, könnte man sagen, eben so wie die Leute an der Nordsee, nördlich von Hamburg, wo er vor 44 Jahren zur Welt kam und mit seiner Familie bis heute lebt. Er hat auch nicht die etwas angepresste, bemuskelte Sprechstimme, an der man viele Tenöre sogar außerhalb ihrer Arbeit erkennt. Normal irgendwie.

Es ist aber überhaupt nicht normal, wie dieser Typ, den man sich trotz seiner Heldenphysis auch auf einem Traktor denken könnte, in nicht mal zehn Jahren an die Weltspitze seines Fachs geschossen ist, einer, der mit 27 Jahren noch das Horn blies im Philharmonischen Staatsorchester Hamburg. Gerade noch, denn da nahm er heimlich längst Gesangsunterricht. Bei einer privaten Feier war er mit seiner Frau, einer Sängerin, aufgetreten, als Laientenor, „da wurde das durch Zufall erkannt, und dann habe ich das richtig studiert. Professor Günter Binge in Lübeck hat viel hervorgeholt, der hat relativ früh gesagt, das wird sicherlich mal in dieses etwas dramatischere Fach gehen.“ Sollte er das Horn weglegen?

Vogt hatte schon drei kleine Söhne und viel zu verlieren ohne die Orchesterstelle. „Sitzt man im Orchestergraben, weiß man ganz genau, was da geredet wird und wie. Das ist manchmal nicht angenehm.“ Er sei dort nervös gewesen. Auf der Bühne fühlte er keinen Druck. Zum ersten Mal „mit allem Drum und Dran, mit szenischer Arbeit“, stand er als Tassilo in Gräfin Mariza auf den Brettern, bei einem kleinen Festival in Lübeck, das gab den Ausschlag. 1997 sang er in Flensburg vor und bekam gleich einem Vertrag. Franz Lindauer inszenierte mit Vogt in der Titelrolle den Zarewitsch. „Dem Franz bin ich bis heute dankbar. Er war vorsichtig, nachsichtig, geduldig.“

Ein Jahr später konnte man Vogt schon im Dresdner Ensemble hören, wo ihn Giuseppe Sinopoli als Tamino in der Zauberflöte besetzte, 2003 machte er sich selbstständig und trat bald erstmals als Lohengrin auf, in Erfurt. Das war wohl, was man so „Durchbruch“ nennt. „Wirklich steuern kann man das nur bedingt. Es gehört auch Glück dazu und vor allem viel Arbeit. Es hat fast zehn Jahre gedauert, bis ich gedacht habe, so, jetzt kann man das auch mal ein bisschen ruhiger sehen.“ Dabei wurde es dann erst wirklich unruhig im Kalender. Mailand, Wien, New York, Salzburg, Bayreuth wollten seinen Parsifal, Stolzing, Florestan, Hoffmann. Und immer wieder: Lohengrin. Mit Regisseuren von Nikolaus Lehnhoff bis Hans Neuenfels, dem nun in Zürich Andreas Homoki folgen wird.

„Was man in der Partie erfahren hat, bleibt ja in einem. Je mehr verschiedene Inszenierungen man mitgemacht hat, desto größer wird der Schatz an Ideen und Ausdrücksmöglichkeiten“, meint Vogt. „Ich bin sehr dankbar, dass ich vieles in der Kiste habe, was ich da mal rausholen kann.“ Nur eines will er da nicht drin haben – eine fertig angelegte Partie. „So ein Förmchen, mit dem man überall hingeht und sagt: Das ist mein Lohengrin und den mach ich so. Das wär´ ja furchtbar langweilig. Ich werde vielleicht auch gefragt, weil die Leute wissen, dass ich nicht stur bin.“

Natürlich hat er sich auch schon mal erschreckt vor Regiekonzepten: „Hä, wieso denn so? Das habe ich überhaupt noch nicht so gedacht…“ Aber dann findet er es wichtig, „zu gucken, wie sich das anfühlt.“ Und die Ratten bei Neuenfels? „Die Menschenmasse ist ja sehr opportunistisch. Da, wo das Fressen steht, da rennen die hin“, sagt er so holsteinisch schlicht, als erkläre er einem den Weg von Husum nach Heide. Wenn eine Produktion dann steht, ist immer noch alles offen, eben auch die Sache mit der Taube. Das Zögern war nicht geplant, das kam spontan. „Das hängt stark von den Kollegen ab, von der Spannung, die man im Saal spürt, vom Dirigenten, wie der folgt oder wie der drauf ist.“

Diese Freiheit und die seiner Stimme haben wohl viel miteinander zu tun. Schlank ist sie, hell, leicht, lyrisch sind die gängigen Adjektive für sein Timbre, aber das Unverwechselbare treffen sie sowenig wie die „Unschuld“, die bei Vogt viele heraushören wollen im Gegensatz zum Sexappeal, den man seinem dunkler gefärbten Kollegen Jonas Kaufmann zuschreibt. Vogts Stimme wird nicht „eingesetzt“, sie scheint schon da zu sein wie eine Sonne, die wir dann strahlend oder in den Farben einer Dämmerung hören. Sie ist zugleich wie eine poetische Essenz, die in allen Worten und Linien lebt, und mit denen verbindet Vogt sie sehr bewusst. Man versteht jede Silbe. Ohne Übertitel.

Wagner sei leicht und stimmschonend, hat er mal gesagt. „Genau. Wenn man nur voll Stoff geben muss, wird man den Text hinten runter schmeißen müssen.“ Und weil er das eben nicht tut, sind manche Kritiker misstrauisch: Für einen Tristan und Tannhäuser fehle es doch an Tiefe! „Da haben die Hörgewohnheiten ihren Beitrag geleistet“, meint er. „Ein Tannhäuser, der am Ende nicht am Ende ist, so einen findet man nicht richtig. Man will hören, es geht an die Substanz. Das ist ja Quatsch. Das schreibt ja Wagner nicht. Da steht ganz viel piano. Natürlich ist das auch anstrengend, aber ich finde es schöner, wenn…“, er kichert, „…der Zuhörer nicht so leiden muss.“

Den Tristan hat er noch nicht gesungen, nicht komplett auf der Bühne, obwohl er schon angefragt wurde. Was löst denn solchen Respekt vor dieser Partie aus? „Das weiß ich nicht! Da bin ich sehr gespannt drauf!“ Diesmal wird aus dem Kichern ein schallendes Lachen. Er sei jedenfalls froh, die richtigen Berater zu haben, die ihm sagten: „Mach´s lieber noch nicht!“ Dazu gehört auch Irmgard Boas, die 86-jährige Lehrerin in Dresden, einst eine Hochdramatische. Viele Sänger lassen sich ein Berufsleben lang coachen, Instrumentalisten nicht. „Bei denen ist das verpönt. Dabei kann es nicht schaden. Man kommt doch öfters an Punkte, an dem man denkt: Was ist jetzt los, wieso geht das nicht wie früher?“ Es gebe doch immer Möglichkeiten, „auf die man alleine vielleicht gar nicht kommen würde. Hochinteressant. Auch dass man sich ständig weiterentwickeln kann.“

Entwicklung ist ein wichtiger Begriff bei ihm. Er passt zu seinem Leben ebenso wie zu seinem Lohengrin, der nicht nur mit jeder neuen Produktion tiefer wird, sondern, findet Vogt, auch im Laufe des Stücks. „Er hat im Hinterkopf, dass es passieren kann“, dass also Elsa ihm nicht vertraut und darum die Frage nach der Herkunft stellt, „und er versucht auf verschiedene Weisen, sie davon abzuhalten. Ich glaub´, der Lohengrin möchte nicht zurück, der möchte bei ihr bleiben. Darum ist die Enttäuschung am Schluss so wahnsinnig groß.“ Das hört man, wenn er am Ende ganz leise dem Schwan, der ihn wieder abholt, seine ganze Zärtlichkeit zuwendet. Aber man erlebt auch noch das ganz Andere, Unerklärliche, das sich eben nicht auf menschliche Beziehungen und Machtgefüge zurückführen lässt , das im Klang und der Stimme geborgen ist, eine ferne schöne Gewissheit, die nicht zerbrechen kann, weil nur das Harte zerbrechen kann.

Warum sollte einer mit dieser Gabe in seiner Freizeit auch noch Gedichte schreiben? Er fährt lieber Harley, fliegt selbst (den Pilotenschein machte er schon als Hornist), erholt sich beim Tennis und sieht zwischen Oper und Fussball eine Verbindung: „So´ne gewisse Unberechenbarkeit.“

Am Ende stehen noch drei Fragen auf dem Zettel. Erstens, empfindet er Solidarität mit den Hörnern, wenn die unter ihm ertönen? „Absolut. Vor allem, wenn mal was danebengeht. Oder wenn ich höre, dass der Bläsersatz richtig Gas gibt.“ Zweitens, wird er das Wohnmobil, das in jeder Geschichte über Vogt vorkommt, auch in Zürich einsetzen? „Ja. Sommerzeit und Zürichsee, das stell´ich mir gut vor.“ Drittens, woher kommt eigentlich das Klischee vom „eitlen Tenor“? Er grinst breit unter seinen Goldhaaren: „Naja, das wird ja immer wieder fleißig bedient!“ Dann kichert er vor sich hin.

Dieser Text erschien – im September 2014 – geringfügig kürzer im MAG des Opernhauses Zürich und ist urheberrechtlich geschützt.