Die Mutter mit den blauen Haaren

Wann kommt das Wildschwein?“ „Gleich.“ Frido blickte gebannt zur Bühne, lauschte auf die Veränderungen der Musik. Man hörte, dass der Junge jetzt allein im Wald war, dieser Lasso. Obwohl da kein Wald zu sehen war, sondern eine überdimensionale Stehlampe und ein karierter Schrank. Aber er sang, er sei im Wald, und man hörte es, und für Kinder ist es völlig normal, eine Stehlampe als Baum zu sehen und einen Schrank als Portal zum Ungewissen, aus dem Wildschweine, Räuber und Prinzessinnen kommen können.

„Das ist spannend“, flüsterte Frido. Er saß auf meinem Schoß, der Sicht und der Sicherheit wegen, denn es war ja mit Gefährlichem zu rechnen. Ich hatte ihm die Geschichte vorher vorgelesen. Die grundböse Mutter mit den blauen Haaren hatten wir schon überstanden. Nun musste der giftige Kuchen, den sie ihrem Sohn mitgegeben hatte, noch aus Versehen vom Wildschwein gefressen werden, das daran krepieren würde, ebenso wie die drei Räuber, die sich das tote Schwein brieten. Ja, so brutales Zeug mute ich einem Fünfjährigen zu!

Aber es klang ja wunderbar. Ein ganzes Orchester war da vor der kleinen Bühne zu sehen und zu hören, sogar mit Klarinetten, wie Frido gehofft hatte. Und das Wildschwein war eindeutig eine Frau, die sang und sich dann zum jähen Tod auf den Rücken warf. Es war durchaus nicht unkomisch, auch nicht der Vergiftungstod der drei Räuber. Es blieb aber auch unheimlich. Man hörte ja in der Musik, das mit der Geschichte allein nicht alles erzählt war. Da war immer mehreres auf einmal, manchmal tiefer als der tiefste echte Wald.

Frido fühlte sich wohl sicher, aber er war wahnsinnig aufgeregt. Dass der Mann mit dem großen, runden Kopf neben uns sich die ganze Musik ausgedacht und sie aufgeschrieben haben sollte, wie sollte ihm das in den Kopf gehen? Kam die Musik nicht doch einfach da vorn aus dem Ungewissen? Und dass Fridos Mama allen Sängern gesagt hatte, was sie tun sollten, das hatte er wohl geglaubt, aber längst vergessen. Sie war da irgendwo hinter der Bühne, aber die hatte sich verselbstständigt. Frau Knochen wurde gerade zur echten Bedrohung.

Am Ende war natürlich alles gut gegangen. Lasso hatte das Herz der Prinzessin errungen. Wie sich erwies, beneidete ihn Frido ein wenig um sie. Schließlich war der jugendliche Hauptdarsteller nur gerade sechs Jahre älter als er, und die Prinzessin war „sehr schön“, wie er fand, um zu präzisieren, ihm habe ihre Perücke gefallen. Mich ließ das daran denken, dass man meistens nicht nur das Kleid einer Frau meint, wenn man ihr dafür ein Kompliment macht. Frido hatte mit seinen fünf Jahren heute schon mal etwas weiter ins Leben geblickt.

Und obwohl er ja wusste, dass die Bühne nicht die Wahrheit ist, war es doch gut, dass er bei der Premierenfeier einschlief und nicht mitbekam, wie die grundböse blauhaarige Mutter und das gierige Wildschwein sich in ein und dieselbe nette Australierin verwandelten, die sich mit mir über das beste Café in Melbourne unterhielt. Denn natürlich ist die Bühne doch die Wahrheit.

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Die Märchenoper “Die drei Rätsel” von Detlev Glanert ist im Freiburger E-Werk noch bis zum 26. Oktober zu erleben, als Produktion der Young Opera Company