„Hätt ich einen Weg für mein Inneres…“

Wolfgang Rihms Kammeroper “Jakob Lenz” von 1978 hält sich weit oben im Repertoire. Warum ihr Held uns immer näher kommt

Wie kommt es? Was traf Wolfgang Rihm, als er vor 37 Jahren seine Oper Jakob Lenz komponierte, die eines der meistgespielten zeitgenössischen Musiktheaterstücke wurde? Aus welcher Zeit entstand sie, in welche geriet sie, und warum hat Jakob Lenz die Jahrzehnte nicht nur überstanden, sondern scheint uns näher zu sein als die spektakulärsten Novitäten jenes Jahres 1979, in dem das Werk – am 8. März in Hamburg – uraufgeführt wurde? Woody Allens Manhattan und H. R. Gigers Alien wirken heute wie historische Dokumente, Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän und Günter Grass´ Treffen in Telgte sind Meisterwerke, aber gehören sie zu unserem Leben?

Ein Geheimnis des Lenz-Erfolges (neben dem der Begriff „Kammeroper“, so korrekt er ist, doch etwas nischenhaft wirkt) ist sicherlich der Text, der ihm zugrunde liegt, der Wolfgang Rihm anregte, auf dem das Libretto aufbaut. Von dem Prosastück, das man im Nachlass des Dichters Georg Büchner fand – er war mit nur 23 Jahren anno 1837 gestorben – lässt sich nicht sagen, es sei ein Meisterwerk, denn es ist mehr. Es ist frei von Form. Es bricht los aus dem nüchternen ersten Satz „Den 20. Januar ging Lenz durch`s Gebirg“, es ist mit dem letzten Satz „So lebte er hin“ eben nicht zu Ende, sondern reicht bis zu uns, hingehauen mit einer Direktheit, der keine Totenmaske wachsen kann.

Der Text gilt jenem Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, der von 1751 bis 1792 lebte, also zeitgleich mit Wolfgang Amadeus Mozart (den man schon deswegen nennen muss, weil er in diesem Zusammenhang so unpassend wirkt). Mit Die Soldaten schrieb Lenz ein hart zeitkritisches Stück filmschnittartig rasanter Szenenwechsel und sprengte die Einheit von Zeit und Ort. Davon hat Georg Büchner viel gelernt. Goethe nicht. Johann Wolfgang von Goethe war zwei Jahre älter als Lenz und sein und Freund, er nahm ihn mit nach Weimar, wo sich Lenz eine „Eseley“ geleistet haben soll. Mehr verriet Goethe nie, nachdem er den Freund vom Musenhof verstoßen hatte.

Ob Lenz zuvor schon psychisch instabil war oder ob erst der Bruch ihn brach, weiß man nicht. Jedenfalls litt er an psychotischen Schüben, als er im Januar 1778 vom elsässischen Pfarrer Oberlin aufgenommen wurde. Auf Oberlins Aufzeichnungen über Lenz stützte sich Büchner, als er das Unmögliche realisierte, einen sensiblen, klugen, gefährdeten Menschen zugleich von innen, aus ihm fühlend, und von außen zu schildern, und die Natur zugleich als Gegenüber und Projektion: „Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte …“

Ein Erfolgsgarant? Ein solcher Text ist in kein anderes Medium übersetzbar. Es könnte auch verwundern, dass in den späten 1970er Jahren ein junger deutscher Komponist ausgerechnet auf Büchners Lenz verfällt. Man lebte im Kalten Krieg. Das Uraufführungsjahr 1979 endete mit jenem „Doppelbeschluss“ der NATO, der die Aufstellung von Atomraketen in Westeuropa ebenso vorsieht wie Verhandlungen zur Rüstungsbegrenzung. Die neue „Friedensbewegung“ war noch nicht geboren, Studentenführer Rudi Dutschke und mit ihm die Reste der Studentenbewegung starben, aber die „Grünen“ gründeten sich, Zehntausende demonstrierten gegen Atommüll in Gorleben.

Die Atmosphäre zwischen Lähmung und Aufbruch begünstigte vielleicht die Neuentdeckung des Subjekts, des Ich im Gegensatz zur Welt. Rihm ist nicht der Einzige, der in jenen Jahren im Lenz den anderen Büchner entdeckt, nicht den politischen Revolutionär, der den Palästen Krieg ansagt, sondern den Zerrissenen, der wiederum sich im Geistesbruder und Anreger Lenz wiederfand. „Arbeiten ist mir unmöglich, ein dumpfes Brüten hat sich meiner bemeistert, in dem mir kaum ein Gedanke noch hell wird. Alles verzehrt sich in mir selbst. Hätt ich einen Weg für mein Inneres, aber ich habe keinen Schrei für den Schmerz, kein Jauchzen für die Freude, keine Harmonie für die Seligkeit.“

Das steht nicht in Lenz, das schreibt Büchner 1834 seiner Braut, und es wird, in der Mitte der Oper Wolfgang Rihms, vom Titelhelden gesprochen über dem tremolierenden Fis dreier Violoncelli. Es ist eines von vielen Zitaten, aus denen Michael Fröhling sein Libretto gefügt hat. Dem selbstmörderischen Versuch, Büchners Prosa in ein lineares Drama zu übersetzen, ist er durch Montage entgangen. Er entnimmt der Vorlage eine gewisse Chronologie, Situationen und einiges Gesagte, dazu kommen Aufzeichnungen Oberlins, Gedichte des realen Lenz, Bibelzitate, der Brief Büchners, eigene Worte. Dazu noch hat Fröhling jene „Aura um Wort, Text, Sinn“ eingefangen, auf die es Rihm ankommt.

Das gelingt auch deswegen, weil sich die Arbeit am Libretto und der Beginn der Komposition im Dezember 1977 überschneiden. „Weniger Monologe“ für Lenz verlangt Rihm noch im Januar 1978. „Je normaler seine Umgebung desto weniger bedarf es bühnenmäßiger Tricks seinen Zerfall zu zeigen. Er braucht also immer ein Gegenüber […] Ich will ihn doch singen lassen, aber wenig.“ Offenbar hat ihm zuerst eine Sprechrolle vorgeschwebt. Während sich Lenz in eine Baritonpartie verwandelt, verschiebt sich auch die Rolle Kaufmanns, jenes Besuchers, dem Lenz, ein letztes Mal seiner selbst sicher, seine Ästhetik darlegt. „Ich verlange in Allem – Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut …“

Zunächst wollte Rihm diesen Kaufmann wie alle „Bezugspersonen“ „im hohen Grad vernünftig“ – was er bei Büchner auch durchaus ist. Im Libretto wie in der Musik erscheint er aber als Spießer, als mediokre Figur, die das Empfindlichere mit Spott bekämpft: „Ein Poet im Dichterkleid zog sich zurück in Einsamkeit. Hahahahahahaha…“ Da wird ein Druck der Außenwelt auf Lenz erzeugt, der ihn weniger „krank“ erscheinen lässt. Die Besetzung am Ende: Lenz – Bariton, Pfarrer Oberlin – Bass, Besucher Kaufmann – Tenor. Dazu sechs Sängergestalten für „die Natur, die, nur für Lenz erfahrbar, mit ihm im Dialog steht“ (Rihm), und für die Dorfbevölkerung, zu der auch „2 oder 4 Kinder“ gehören.

Die Unbefangenheit, die Unmittelbarkeit, mit der er in sechs Monaten und ohne Skizzen den Jakob Lenz komponiert, hat neben Rihms Befähigungen auch mit einem Zeitpunkt in der Musikgeschichte zu tun – mit einer Befreiung von Dogmen und Missionen. Wer früher, in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, Opern schrieb, „blieb vom Kern der Neuen Musik ausgeschlossen“, stellt Hermann Danuser fest (Musik des 20. Jahrhunderts). Selbst Luigi Nono musste sich zu Intolleranza 1960, seiner „Szenischen Aktion“ mit fragmentierter Sprache, vorwerfen lassen, es handle sich um Ausdrucksmusik, die nicht strukturell genug verankert sei.

Während Nonos Kreise einen Henze noch als Schöngeist abtaten, mussten sie feststellen, dass 1965 mit avanciertesten Mitteln eine Jahrhundertoper vollendet war, nämlich Die Soldaten von Bernd Alois Zimmermann, nach dem Theaterstück von Lenz. Das Dogma der Unverträglichkeit von Oper und zeitgemäßem Komponieren wankte. Nach und nach galt auch der Einsatz traditioneller Mittel (von der Dur-Terz bis zum unhinterfragt „schönen“ Ton) nicht mehr zwangsläufig als regressiv. Durchaus vertraut mit der Avantgarde der künstlerischen „Elterngeneration“ um Klaus Huber und Karlheinz Stockhausen, konnte sich Wolfgang Rihm doch frei „als Komponist vorfinden“.

Und diesem Unbefangenen, schon mit Mitte zwanzig „geradezu furchteinflößend erfolgreich und produktiv“ (F.A.Z.), scheint es gut zu tun, dass er einem Unglücklichen nachspürt, einem ebenfalls Hochsensiblen, und dass zu seinen drei Solisten und sechs Stimmen nur elf Instrumente kommen. In dieser Reduktion schöpft er konzentriert aus dem Vollen unterschiedlichster Stilebenen. So kann sein Lenz aus serialistisch gezackten, triolischen, punktierten Intervallsprüngen zu „Ah, welch göttliches Licht…“ in die wörtlichen Entsprechungen der Madrigalkomponisten fallen, wenn er „…verbreitet sich um mich“ in verbreiterten Tönen singt, drei gestreckte Viertel pro Silbe.

Pfarrer Oberlin, die schützende Vaterfigur, setzt schon mal ganz barock über einem rezitativischen Sextakkord am Cembalo ein und ist vor der Ironie des Komponisten nie sicher. Er singt seine wackere Empfehlung „ein Tag, gefüllt mit harter Arbeit“ auf die Töne der Stadionhymne „So ein Tag, so wunderschön wie heute …“ Tonalität wird gezielt als „Redeweise“ eingesetzt (wie Dörte Schmidt es zeigt in Lenz im zeitgenössischen Musiktheater), ist aber auch subkutan präsent: Vorhandene Musiksprachen werden unablässig zu Werkstoffen. Mitsamt ihren Anklängen werden sie nicht nur als Signale verwendet, sondern so wie Tempi, Tonhöhen, Farben. Das Überlieferte bis hin zum jüngsten Fundus ist hier auch das, womit und worin einer komponiert.

Darum vertraut man sich ihm an, wenn im siebten Bild Jakob Lenz in einer wie angeträumten fiktiven Romantik den Abend im Gebirge erlebt: „Wie milde und süß des Abends Kühle herniedersinkt“, singt er im Dreivierteltakt. Man hört es ohne schlechtes Gewissen der Moderne und ohne den doppelten Boden eines Zitats, folgt Lenz in die Entspannung und wird so mit ihm erst recht Opfer der Stimmen, ob aus der Natur, ob im Hirn, die ihn an die unerreichbare Geliebte erinnern, bis die drei Celli ihn martern, seine treuen, unerbittlichen Begleiter. Im nächsten Bild kein Hauch mehr von Sehnsucht im Klang des Ensembles, nur abstrakt gespanntes Vermessen des Verlusts zu Büchners wunderschönem Satz „Wenn sie so durchs Zimmer ging, war jeder Schritt für mich Musik.“

Lenz selbst, der Hilflose, Einsame, bewirkt die Metamorphosen und Wechsel der Klangsprachen. So wird er jenseits des Textes zum Beweger. „Musik denkt sich, einmal begonnen, gedacht zu werden, in einem fort. Dass dieser Idealzustand von Musikerfindung auch nach außen dringt, ohne Formgeplänkel und Vorzeigeverlauf, das wurde bisher in der historischen Musik, wie ich glaube, nur einige Male von Komponisten auch wirklich gewünscht, versucht und auch erreicht“. Für diesen von Rihm beschriebenen Idealzustand scheint sich eine Oper schlecht zu eignen, die bei aller dramaturgischen Offenheit doch einen „Vorzeigeverlauf“ hat. Aber auch der kommt hier aus dem Inneren.

Ist das so unpolitisch, wie damals dem Kritiker Gerhard R. Koch eine ganze „Schule jüngerer deutscher Komponisten“ erschien, mit Rihm an der Spitze? „Von Musik im auch politischen Zusammenhang wollen sie nichts mehr wissen.“ Rihm gelang es aber – und vielleicht gelang es, weil es nicht sein erklärtes Ziel war –, Empathie mit einer extrem komplexen Gestalt zu wecken, mit einem, der eigentlich zu anders, zu kompliziert, auch zu elend ist, als dass man sich mit ihm identifizieren wollte. Bei Büchner fasziniert und beängstigt Lenz, bei Rihm kommt er einem nah auch deswegen, weil er identisch scheint mit den musikalischen Mitteln, und weil diese Mittel immer wieder Vertrautes in uns wachrufen, ohne dass wir es uns damit bequem machen können.

Die Kritiker der Uraufführung respektierten Rihms Abwendung „von der technologischen Orientierung der Nachkriegs-Avantgarde“, wie Hans-Klaus Jungheinrich schrieb. „Unverhohlen expressiv“ artikuliere sich der Komponist, „quasi distanzlos überlässt sich der Musikstrom der psychographischen Identifikation mit dem Helden.“ Den sah Jungheinrich als Zeitgenossen: „Lenz ist, auch und gerade heute, überall. Es gibt ihn hunderttausendfach in den Praxen der Psychotherapeuten.“ 1995 war er für die „taz“ noch näher gerückt: „In einer Zeit, in der mancher wieder „verrückt“ werden oder aussteigen mag, in dieser Zeit steht die Kammeroper an neun Bühnen auf dem Spielplan.“

Heute erscheint es politischer denn je, einen anderen, einen Menschen, ein Individuum nicht zu beschreiben und zu vermessen, sondern ihm zu sich zu folgen. Dieser Jakob Lenz geht uns etwas an. „Untersuchen Sie sich!“ befahl der reale Reinhold Michael Jakob Lenz 1774 seinen Lesern. „Wenn Sie aus dem Schauspielhause fortgehen, was ist das Residuum davon in Ihrer Brust? Dampf, der verraucht, sobald er an die Luft kommt. Sie merkten dem Dichter das Kunststück ab, Sie sahen ihm auf die Finger, es ist doch nur eine Komödie, sagen Sie und wer war die in der zweiten Loge?“ Der Jakob Lenz wäre ihm vielleicht fern gewesen. Die Wirkung dieser Oper sicher nicht.

Dieser Text erschien im Programmbuch der Oper Stuttgart zur Neuproduktion von “Jakob Lenz” in der Inszenierung von Andrea Breth, Premiere am 25. Oktober 2015, und ist urheberrechtlich geschützt.