Die Starchoreografin Sasha Waltz springt kopfüber in Purcells Oper »Dido and Aeneas«
Es sieht aus wie ein gewaltiges Aquarium. Beinah so breit wie die kahle Bühne, übermannshoch, aufgebockt, ein verheißungsvoll schimmernder Glasquader; darüber bewegen sich im Schatten Gestalten auf einem Laufsteg. Keine Musik. Und dann wird das Schweigen gebrochen durch ein Geräusch, mit dem wohl noch nie ein Opernabend begann: Mit schäumendem Hechtsprung schießt ein Tänzer aus dem Dunkel ins hell erleuchtete Wasser. Durchs Publikum geht ein Raunen wie bei einer gefährlichen Zirkusnummer. Es ist also wirklich ein Aquarium, was hier im Grand Théâtre de la Ville de Luxembourg steht. Und es ist das Mittelmeer, an dessen Ufer die Karthager-Königin Dido vom Trojaner Aeneas verlassen werden wird. Um sie dreht es sich in der Oper, mit der Henry Purcell zum innovativen Orpheus des barocken England wurde:
Die 41-jährige Choreografin Sasha Waltz, gefeiert als Entgrenzerin des Tanztheaters, startet mit einem Hechtsprung in ihre erste Oper, und der Schwung hält an wie auch die Sinnenlust, mit der sich im brodelnden Wasser eine wachsende Zahl von Tritonen nebst Zivilisten in voller Montur tummelt. Das ist mehr als ein eyecatcher, es dient auch als leuchtender Hintergrund eines musikalischen Prologs, der eigentlich verschollen ist. Nur die Texte des Nahum Tate blieben vom Vorspiel der Oper, die 1689 in einem Londoner Mädchenpensionat uraufgeführt wurde. Zu ihnen hat Attilio Cremonesi, barockerfahrener Dirigent des Abends, aus Purcells Œuvre Passendes gefischt, und die Akademie für Alte Musik Berlin spielt auf dem Instrumentarium des Barock so lustvoll und pointiert, wie die Choreografin ihre Bilder formt. Der Abend schlägt noch Wellen, wenn die nasse Vitrine längst verschwunden ist.
Projekte wie diese Koproduktion zwischen Luxemburg und der Berliner Staatsoper Unter den Linden stoßen auf wachsende Neugier in einer Zeit der Opernermüdung. Henry Purcell ist ja keineswegs abgespielt, sondern den meisten ähnlich unvertraut wie vor 20 Jahren etwa Monteverdi. Es gibt da etwas zu entdecken – auch die enorme Offenheit und Gegenwärtigkeit barocker Musik. Wie zündend sich die »historische« Musikpraxis mit der Tanzavantgarde treffen kann, erlebt man in Luxembourg auch in Details – wenn etwa eine improvisierte Verzierung des Konzertmeisters das Bein einer Tänzerin zu lenken scheint. Ein unplanbarer Moment, der indessen nur möglich ist, wenn schon eine gemeinsame Sprache existiert. Hier ist es eine der Töne und der Bilder, weniger des Dramas.
Die Entwicklung der Gefühle interessiert Sasha Waltz nämlich wenig. Die Tänzer, die den Gesang des antiken Personals mal gestisch verdoppeln, mal kommentieren oder verfremden, führen von Schicksal und Individuum weg. Aber die Abstraktion bringt eigene Bilderwelten hervor, die zu Purcells funkelnder Tiefe und seinem eleganten Timing passen. Aus schwarzweißer Rückwand quillt da ein buntes, karnevalistisch aufgebrezeltes 17.Jahrhundert der Gaukler. Da finden auch Kalauer ihren Platz oder selbstironische Grüße aus der Tanzwerkstatt, wo mit Peitsche geprobt wird… Und doch ist eine formale Strenge zu spüren, die mit der barocken Musikästhetik korrespondiert. Mitunter freilich kommt in der Bilderlust die Musik nicht zu Wort, nämlich da, wo Purcell den Worten in zärtlichste Nuancen folgt. Wenn Didos Hofdame Belinda die Wälder besingt, ihre große Liebe, wälzen sich Menschenketten am Boden. Und Didos todessüchtiges Klagelied wird flach illustriert mit Tanz und Trauerkokon, als wäre es für die Choreografie zu gefährlich, einmal den Tönen die Bühne zu überlassen. Warum nur? Die Sicherheit, mit der Waltz Bewegungen zu Bildern fügt, die Prägnanz, mit der ihr Vokabular von Gesten eine sprachliche Logik entwickelt, fasziniert ja immer aufs Neue. Am stärksten in den Chören. Deren Sänger sind hier tänzerisch derart perfekt integriert, dass man ihnen kleine Ungenauigkeiten gern nachsähe.
Allerdings ist das überhaupt nicht nötig. Das junge Vocalconsort Berlin vollbringt Wunder an Intonationssicherheit, Textdeutlichkeit und Leuchtkraft. Da entstehen magische Momente, klingende Bilder. Daneben wirken die Gesangssolisten des Abends (bis auf Deborah York als Belinda und Céline Ricci als Second Woman) ein bisschen blass. Wenn aber die 16 Choristen und 13 Tänzer verschmelzen, hofft man, dass der Abend nie endet. Als schließlich auf leerer Bühne vier kleine Flammen brennen, nach den ausgelassenen Wasserspielen des Anfangs nun Didos Ende auf dem Scheiterhaufen symbolisierend, und das Orchester leiser und leiser spielt, herrscht vollkommene Stille im Publikum, bis das letzte Flämmchen erlischt. Man spürt, ein ganzer Saal ist verzaubert worden und an ein neues Ufer gelangt. Und das ist weit mehr als nur ein Hechtsprung.