Kategorie-Archiv: Podium

Das kennt ihr doch sowieso

Concerto Köln und Freiburger Barockorchester machen bei Bachs „Brandenburgischen Konzerten“ alles richtig. Aber warum heben sie so selten ab?

So hat man die Trompete noch nie gehört. Ist das noch eine Trompete, aus der da taufrisch Töne nach oben perlen, als sei die Schwerkraft aufgehoben, als müsse bei diesem Barockinstrument nicht jeder Ton, mangels Ventil, mit den Lippen geformt werden? Freundlich erinnern Sologeige und Oboe daran, dass sie eigentlich gelenkiger, aber die tromba hat uns längst auf Wolke sieben katapultiert, und von dort gibt es in Takt 29 noch einen Kick, oops, und auf dem hohen f fällt einem das kritische Besteck ganz aus der Hand. Nicht einfach wegen der Virtuosität, sondern der Freiheit dieser Musik.

So beginnt das zweite der so genannten Brandenburgischen Konzerte von Johann Sebastian Bach in der jüngsten Aufnahme, und so, denkt man, hat sich der Alte das gedacht (der da höchstens 35 Jahre alt war). Eine extrem gut gelaunte Versuchsanordnung, avantgardistisch und bis heute singulär. Bis vor einigen Jahrzehnten zweifelte man noch an Bachs Sinn für Klangbalance, weil er im F-Dur-Konzert nicht nur Trompete, Oboe und Geige als solistische Hochtöner kombiniert, sondern auch die Blockflöte. Aber seither haben die Trompeter gelernt, fein und sensibel zu spielen.

Und flinke Tempi anzuschlagen wie das Ensemble Concerto Köln, das mit seiner Gesamtaufnahme der Brandenburgischen nun dezidiert in Konkurrenz tritt zum Freiburger Barockorchester. Das legte sein Sixpack ebenfalls in diesem Jahr vor, und so lässt sich an einem der berühmtesten Zyklen des 18. Jahrhunderts hören, wie es bei den renommiertesten deutschen Orchestern historisch informierter Spielweise (neben der Akademie für Alte Musik) derzeit um Bach steht. Eher verhalten nämlich. Ein Glücksflug wie der mit Trompeter Hannes Rux und Concerto Köln bleibt die Ausnahme.

Dabei ist ihm sein Kollege Jaroslav Roucek mit dem Freiburger Barockorchester dicht auf den Fersen – in der gleichen französischen Stimmung mit einem Kammerton von 392 Hertz. Der liegt einen Ganzton unterm modernen a und macht die Höhenakrobatik etwas entspannter. Indessen bleibt das FBO im Tempo bedächtiger, die Trompete ist zugunsten der Flöte nach hinten geregelt, man hebt hier nicht ab. Das gelingt ihnen dafür beim Einstieg ins erste Konzert, ebenfalls F-Dur, mit hinreißend brünstig knatternden Hörnern – Bach entnahm das vermutlich einer Jagdkantate für seinen Weimarer Herzog.

Die folgenden Sätze bergen noch Reste der alten französischen Tanzsuite. An der Eleganz aber sind die Freiburger wenig interessiert. Sehr deutsch arbeiten sie heftige dynamische Kontraste heraus, uncharmant hackt die Violino piccolo, behäbig statt beschwingt gelingt die Tanzfolge, in der wiederum die Kölner wettmachen, was ihrem Start an Elan fehlte. Wer es noch französischer und lustiger mag, der ist, pardon, bei den Franzosen besser aufgehoben: Das Ensemble „Café Zimmermann“ genießt Bachs stilistische Heterogenität in diesem Konzert wie eine Fete zwischen Höflingen und Berserkern.

Und das dritte Brandenburgische? Hier hat Bach den „italienischen Schock“, den die druckfrisch in Weimar eingetroffenen Konzerte von Vivaldi & Co. auslösten, genial umgepolt, den Gegensatz von Solo und Tutti aufgelöst. Es gibt neun komplett gleichberechtigte Streicher, die als Solisten,  gestaffelte Trios oder Ensemble auftreten. Die Streicher aus Köln und Freiburg treten vor allem die Flucht nach vorn an. Tonschönheit ist Nebensache bei Tempo 100 bis 108. Da qualmen die Reifen und kratzen die Saiten, das Leben aber muss man selbst hineinhören, als wollten sie sagen: Das kennt ihr doch sowieso.

Vielleicht ist genau das das Problem: Man hört hier viel Stagnation nach noch mehr Rezeption. Und man muss tief in die Frühzeit der Tonträger hinabsteigen, um zu ermessen, was seitdem bei Bach gewonnen, aber auch verloren wurde. Adolf Busch und seine Chamber Players machten sich anno 1935 auf den Weg zum instrumentalen Bach wie Pioniere im nebligen Moor. Fürs Sechste Brandenburgische etwa seilten sich gleich mehrere Bratscher an und stiefelten zu schweren Klavierschlägen chorisch los. Für sie waren Chiffren zu enträtseln, da hatte Bach noch, wie für Richard Wagner, etwas von einer Sphinx.

Gut fünfzig Jahre später waren Quellen und Spieltechniken, war die barocke Klangrede in Forschung und Praxis so gut erschlossen, dass Aufnahmen der 1980er ein Goldenes Zeitalter spiegeln. Swingend, poetisch, genießend spielten die Bratschensolisten des English Concert das Sechste. Und das Dritte – tja, da brach Reinhard Goebels Musica Antiqua Köln alle Temporekorde, bis heute unerreicht. Und das war keine Flucht nach vorn, da blitzte es berauschend. Die wollten dem Rest der Welt einfach mal zeigen, was möglich ist.

Just in jener Zeit gründeten sich die beiden dirigentenlosen Barockorchester, die seitdem auch beim Ausgraben unbekannter Meisterwerke und einer neuen Sicht auf die Klassik Überragendes geleistet haben, aber nun klamm im Schatzhaus der Brandenburgischen stehen, jener Six Concerts avec plusieurs Instruments A Son Altesse Royalle Monseigneur Cretien Louis, Marggraf de Brandenbourg, letzterem 1721 in Reinschrift überreicht. Das wunderschöne Autograph ist heute für jeden bequem anklickbar, Seite für Seite. Alle Türen sind geöffnet, alle Noten vermessen, aber sind deswegen schon alle Wege gegangen?

Auch wenn die vom Rhein ein Spürchen sinnlicher spielen – die Konzepte der Ensembles ähneln sich, und hier wie da prickeln vor allem die Werke mit ventillosen Blechbläsern, bei denen sich das spieltechnische Niveau in den letzten dreißig Jahren drastisch gehoben hat. Da spürt man Lust. Die Streicher lassen eher aufhorchen, wo es innig wird wie beim Dialog von Geige und Traversflöte im Fünften Konzert, bei fast identischen Tempi und karger Studioakustik (bloß kein Hall!). Die Kölner spielen fast einen Liebesdialog. Die Freiburger gehen genauso sensibel vor, doch wird es dort eher eine Trauerklage.

Beides passt. Während Bach in Köthen seine Konzertentwürfe aus Weimar zusammenstellte und verfeinerte, verlor er Maria Barbara, die Mutter von zwei Töchtern und vier Söhnen. Der persönliche Bach könnte es also sein, man muss ihn weder „romantisch“ nennen noch auf die Biographie herunterbrechen, zu dem die nächsten Wege führen. Ein Mann, der im Furor der Sologeige des Vierten Konzerts vielleicht auch seinen geigenden Vater Ambrosius suchte und nicht bloß die Grenzen des Instruments.

So ein Bach bleibt noch zu entdecken. Wir Hörer müssen uns indessen klar machen, wie irrsinnig verwöhnt wir durch die Rezeptionsgeschichte sind. Und wie weit entfernt von der Zeit, als man auf Erden nur die sechs Planeten kannte, auf die Bach die Konzerte vielleicht bezog. Die etwas protestantische Nüchternheit der Neuaufnahmen veranlasst einen auch, sich selbst in diese Welt hineinzudenken. Aber richtig schön ist es natürlich, sich auf der Autobahn BWV 1047 reinzuziehen, das mit der Trompete, und den Idioten auf der Überholspur zu belächeln: Diese Freiheit wird er nie erreichen.

J.S.Bach, Brandenburgische Konzerte, Freiburger Barockorchester, Harmonia Mundi (hmc 902176.77), Concerto Köln, Berlin Classics (0300593BC)

Der Text erschien leicht gekürzt unter der Überschrift “Musik auf der Überholspur” am 27.11.14 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt

Die Klarheit der Melancholie

Bekenntnisse eines Komponisten: Harrison Birtwistle in Hannover

Er müsse sich entschuldigen, sagt er, mit feinen Lächeln im weißen Bart, für seine Lieder. „I don´t like fun songs.“ Die Lieder seien sehr persönlich und darum melancholisch. Er scheint zu befürchten, das man unter dem Konzertmotto „Sir Harry´s Song“ mit beschwingten Weisen rechnet. Wahrscheinlich ließ ihn schon das „Sir“ zusammenzucken; er mag den Titel nicht. Aber so allmählich, mit jetzt 80 Jahren und seit langem vielfach preisgekrönt, hat sich Harrison Birtwistle damit abgefunden, dass er zu den wichtigsten Komponisten nicht nur der britischen Gegenwart zählt, und setzt sich gern aufs Podium im Kleinen Sendesaal des NDR in Hannover.

Dort (und tags drauf in der Orangerie) führte die Reihe „Musik 21“ in die die intimere Welt eines Komponisten, der vor allem mit seinen Opern international präsent ist, von der frühen Kasperlgroteske „Punch and Judy“ bis zur komplexen Archaik von „Minotaur“. Die sogkräftigen Überlagerungen dieser letzten großen Partitur findet man durchaus wieder im Lied „From Vanitas“, das etwa zur selben Zeit entstand, vor fünf Jahren – und in dem sich die Lyrik des „Minotaur“-Librettisten Davis Harsent noch besser mit Birtwistles Melancholie trifft. Mit Depression ist sie nicht zu verwechseln. Diese Musik ist ganz frei.

Und wie präzise Birtwistle vorgeht, ohne dass irgendwo Konstruktion zu spüren ist, das zeigten Tenor Uwe Gottswinter und Pianist Pjotr Fidelius auf einem Niveau, das nicht nur der hannoverschen Hochschule für Musik und Theater Ehre machte. Es waren fast durchweg Studierende des „Instiuts für Kammermusik und Lied“, die nach einem Einführungsinterview mit dem Komponisten seine jüngsten Vokalwerke beleuchteten. Kein Werk, hatte er erklärt, entstehe bei ihm isoliert. Immer sucht ein „Zustand“, in den ihn ein Sujet, ein Text bringt, verschiedene Klänge. Rilkes „Liebes-Lied I“ war so in drei Zweier-Kombinationen aus Bariton, Klavier und Cello zu hören.

Dieser kleinen Versuchsanordnung zur Annäherung an die „fremde“ Sprache stand die größere gegenüber, die Birtwistle 2004 für einige der „Sonette an Orpheus“ von Rilke unternahm. Mit “Postkarten“ für Oboe, Harfe und Countertenor reagiert er auf die rätselvollen Zeilen geradezu pragmatisch, nicht raunend, nicht überwölbend. Helle, konturierte, fast sonnenverbrannte Klänge ließen die exzellenten Musiker da hören und eine Konzentration, die gar nichts mehr vom organisch Wuchernden des „mittleren“ Birtwistle hat. In der aber auch der Einsatz von zwei Metronomen alles andere als ein Gag ist: Ihre eiernde Polymetrik beantwortet hier die Frage „Gibt es wirklich die Zeit?“

Das ist zugleich naiv und durchtrieben. Es bricht den „Werk“-Charakter ebenso wie die Schlusszeile des Liedes „The Sadness of Komachi“, die eben nicht vom Tenor gesungen, sondern vom Pianisten gesprochen wird: „Beg your pardon, old lady…“ Obwohl Birtwistle sich nie um einen Fortschritt in der Musik scherte, sondern lieber „die Säfte fließen“ lässt, gerät er auf seine ganz unmittelbare Weise immer wieder in die Nähe zeitgenössischer Tendenzen. Seine „Nine Settings of Lorine Niedecker“ für Sopran und Violoncello sind den „Kafka-Fragmenten“ gar nicht fern, die sein Generationsgenosse György Kurtág für Sopran und Violine schrieb: intensive, griffige Aphorismen.

Anders als Kurtág arbeitet Birtwistle nicht mit dem Sprachmikroskop, er ist ein „Interpret der Stimmung“. Aber auch wenn Sängerin Sophia Körber und Cellist Aram Yagubian an Deutlichkeit nichts fehlen ließen – ausgerechnet die Verse der kaum bekannten Amerikanerin Niedecker, die sich zeitweise als Putzfrau durchschlug, musste man erraten. Das Programmheft zeugte von schmalem Budget, die Qualität des Abends nicht. Er bestätigt den Eindruck, dass intime Formen, vom Lied bis zum Streichquartett, überall neue Hörer und Musiker finden. Weniger, weil sie flexibel und bezahlbar sind, sondern weil man im Toben der Welt die Konzentration aufs Wesentliche sehr nötig hat.

Dieser Text erschien am 27.10.2014 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und ist urheberrechtlich geschützt. Zu Birtwistles Oper “Gawain”: Hier.

Ein Requiem als Utopie

Christof Nels Annäherung an Mozart bei den Kunstfestspielen

Mozart ist der Empfindlichste von allen. Wer ihn unsensibel spielt, den stellt er gnadenlos bloß, wer ihn inszeniert, sieht ihn schon beim ersten Konzeptionsgespräch mit in der Runde sitzen. Wer gar noch in Szene setzen will, was er nicht für die Bühne schrieb, hat das Schwierigste gewählt. Am „Requiem“ ist John Neumeyer schon 1991 vielschichtig gescheitert, vor sechs Jahren entglitt es Sebastian Baumgarten als Soundtrack eines Sterbediskurses. Die Herausforderung hat dadurch nur an Reiz gewonnen, selbst jetzt, da es unentwegt neue Inszenierungen von Kantaten, Passionen, Sakralwerken gibt.

Zum Auftakt der Kunstfestspiele Herrenhausen musste Mozart erstmal warten. Wer sich im Galeriegebäude, von allen Stuhlreihen befreit, ein Papphöckerchen erobert hatte oder einfach auf dem Boden hockte, vernahm zunächst Tonkonserven, in denen sich Kriegslärm und Mozarttrümmer mischten. Dann entstiegen dem Orchester am westlichen Saalende geräuschhafte Klänge, nahmen Gestalt an, bewegten sich unmerklich auf den Beginn des „Requiem aeternam“ zu, entfernten sich wieder – es ist eine so durchsichtige wie autarke Musik, die der junge Südafrikaner Richard van Schoor geschrieben hat.

Zu ihr eilen zwischen Gerüsten, flackernden Videos, einem alten roten Cinquecento, den Sängern des Tölzer Knabenchors und rund 250 Besuchern sechs Personen umher – stürzen, rappeln sich wieder auf, formieren sich, eine Schwangere beklagt schreiend den Tod ihres Mannes. Doch bei aller Heftigkeit sichern die Regisseure Christof Nel – einer der Großen des Regietheaters – und Martina Jochem auch eine Abstraktion und Vorläufigkeit, in der sich mitdenken lässt. Es gibt da Ballerspiele mit imaginären MPs, die – durchsetzt mit realem Salvenkrach – keineswegs lächerlich wirken. Lächerlich wirkt, und das erlebt man selten, die Gewalt selbst, die hier fast rituell nachgespielt wird.

Denn nun erinnern erste wunderbare Stimmen (für die Schoor Gedichte von Ungaretti vertont hat) an die Schönheit, an die Empfindungsfähigkeit der Menschen. Passend zum Jubiläum des D-Day, an dem es auch um die Verhinderung neuer Kriege geht, wird hier die fassungslose Frage deutlich, warum das Töten immer noch eine legitime Option sein kann. Es ist eine politische Kunst, die Nel anstrebt, und ihre Utopie ist formuliert in eben dem Werk, das immer näher rückt. Doch kaum lässt das Orchester des Stadttheaters Gießen (wo die Proktion wiederholt wird) die ersten, traurigen, tröstlichen Töne des „Requiem“ ganz erklingen, da wird abgebrochen.

Mitsamt seinem hellwachen Dirigenten Michael Hofstetter wandert das Orchester ans andere Ende, wir wandern mit. Nur Mozart bleibt, wo er ist. Denn nun wird zwar sein „Requiem“ vollständig – das heißt, unvollendet und ergänzt durchs „Ave Verum“ – aufgeführt, doch vom Geschehen, vom Diskurs bleibt es seltsam unberührt. Was sich vorher lose und doch erhellend verband, fällt auseinander. Man bewundert neben den Tölzer Knaben das exzellente Solistenquartett, in dem nicht nur der singuläre Sopran des Rumänen Valer Sabadus leuchtet. Man begreift, dass hier eine Totenbeweinung, dort eine Kreuzigung, dort eine Fotografenmeute auf Opferjagd dargestellt wird.

Man lauscht den Texten von Christa Wolf, die Anna Franziska Srna, durch den Saal stampfend und auf Leitern kletternd, in einem zusehends penetranten Ton des Aufbegehrens herausknallt. Doch es liegt nicht an ihr, dass die konzentrierte Weite, für die Thomas Goerge mit seiner pointierten Raumgestaltung beste Voraussetzungen schuf, jetzt zum Betroffenheitsritual abfällt. Wo Mozart pur und ungebrochen zu hören ist, verlangt er volle Authentizität, Identifikation – und für die ist in Nels Diskursmodell kein Platz. Bemerkenswerterweise sind es gerade die Knaben, deren szenische Aktionen uns dennoch berühren.

Wenn sie am Ende – wiederum zu sensibel zweifelnden Tönen von Schoor – Ball spielen, dann begreift man, dass sich dieses Spiel mit der Utopie trifft, der Schönheit, die Mozart selbst in den empörtesten Passagen seines Werks erreicht. Vielleicht muss jeder scheitern, der sie ganz zu uns holen will. So ist man am Ende nicht unbedingt glücklicher, aber klüger geworden – die Zuschauer applaudierten so, als hätten sie hier gern noch eine Weile nachgedacht.

Der Text erschien in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 10.6.14 und ist urheberrechtlich geschützt