Ein Requiem als Utopie

Christof Nels Annäherung an Mozart bei den Kunstfestspielen

Mozart ist der Empfindlichste von allen. Wer ihn unsensibel spielt, den stellt er gnadenlos bloß, wer ihn inszeniert, sieht ihn schon beim ersten Konzeptionsgespräch mit in der Runde sitzen. Wer gar noch in Szene setzen will, was er nicht für die Bühne schrieb, hat das Schwierigste gewählt. Am „Requiem“ ist John Neumeyer schon 1991 vielschichtig gescheitert, vor sechs Jahren entglitt es Sebastian Baumgarten als Soundtrack eines Sterbediskurses. Die Herausforderung hat dadurch nur an Reiz gewonnen, selbst jetzt, da es unentwegt neue Inszenierungen von Kantaten, Passionen, Sakralwerken gibt.

Zum Auftakt der Kunstfestspiele Herrenhausen musste Mozart erstmal warten. Wer sich im Galeriegebäude, von allen Stuhlreihen befreit, ein Papphöckerchen erobert hatte oder einfach auf dem Boden hockte, vernahm zunächst Tonkonserven, in denen sich Kriegslärm und Mozarttrümmer mischten. Dann entstiegen dem Orchester am westlichen Saalende geräuschhafte Klänge, nahmen Gestalt an, bewegten sich unmerklich auf den Beginn des „Requiem aeternam“ zu, entfernten sich wieder – es ist eine so durchsichtige wie autarke Musik, die der junge Südafrikaner Richard van Schoor geschrieben hat.

Zu ihr eilen zwischen Gerüsten, flackernden Videos, einem alten roten Cinquecento, den Sängern des Tölzer Knabenchors und rund 250 Besuchern sechs Personen umher – stürzen, rappeln sich wieder auf, formieren sich, eine Schwangere beklagt schreiend den Tod ihres Mannes. Doch bei aller Heftigkeit sichern die Regisseure Christof Nel – einer der Großen des Regietheaters – und Martina Jochem auch eine Abstraktion und Vorläufigkeit, in der sich mitdenken lässt. Es gibt da Ballerspiele mit imaginären MPs, die – durchsetzt mit realem Salvenkrach – keineswegs lächerlich wirken. Lächerlich wirkt, und das erlebt man selten, die Gewalt selbst, die hier fast rituell nachgespielt wird.

Denn nun erinnern erste wunderbare Stimmen (für die Schoor Gedichte von Ungaretti vertont hat) an die Schönheit, an die Empfindungsfähigkeit der Menschen. Passend zum Jubiläum des D-Day, an dem es auch um die Verhinderung neuer Kriege geht, wird hier die fassungslose Frage deutlich, warum das Töten immer noch eine legitime Option sein kann. Es ist eine politische Kunst, die Nel anstrebt, und ihre Utopie ist formuliert in eben dem Werk, das immer näher rückt. Doch kaum lässt das Orchester des Stadttheaters Gießen (wo die Proktion wiederholt wird) die ersten, traurigen, tröstlichen Töne des „Requiem“ ganz erklingen, da wird abgebrochen.

Mitsamt seinem hellwachen Dirigenten Michael Hofstetter wandert das Orchester ans andere Ende, wir wandern mit. Nur Mozart bleibt, wo er ist. Denn nun wird zwar sein „Requiem“ vollständig – das heißt, unvollendet und ergänzt durchs „Ave Verum“ – aufgeführt, doch vom Geschehen, vom Diskurs bleibt es seltsam unberührt. Was sich vorher lose und doch erhellend verband, fällt auseinander. Man bewundert neben den Tölzer Knaben das exzellente Solistenquartett, in dem nicht nur der singuläre Sopran des Rumänen Valer Sabadus leuchtet. Man begreift, dass hier eine Totenbeweinung, dort eine Kreuzigung, dort eine Fotografenmeute auf Opferjagd dargestellt wird.

Man lauscht den Texten von Christa Wolf, die Anna Franziska Srna, durch den Saal stampfend und auf Leitern kletternd, in einem zusehends penetranten Ton des Aufbegehrens herausknallt. Doch es liegt nicht an ihr, dass die konzentrierte Weite, für die Thomas Goerge mit seiner pointierten Raumgestaltung beste Voraussetzungen schuf, jetzt zum Betroffenheitsritual abfällt. Wo Mozart pur und ungebrochen zu hören ist, verlangt er volle Authentizität, Identifikation – und für die ist in Nels Diskursmodell kein Platz. Bemerkenswerterweise sind es gerade die Knaben, deren szenische Aktionen uns dennoch berühren.

Wenn sie am Ende – wiederum zu sensibel zweifelnden Tönen von Schoor – Ball spielen, dann begreift man, dass sich dieses Spiel mit der Utopie trifft, der Schönheit, die Mozart selbst in den empörtesten Passagen seines Werks erreicht. Vielleicht muss jeder scheitern, der sie ganz zu uns holen will. So ist man am Ende nicht unbedingt glücklicher, aber klüger geworden – die Zuschauer applaudierten so, als hätten sie hier gern noch eine Weile nachgedacht.

Der Text erschien in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 10.6.14 und ist urheberrechtlich geschützt