Paarlauf der Bahnbrecher

Ein Kunstfestgipfel in Herrenhausen: Buster Keaton trifft Terry Riley

Es gibt so etwas wie weltberühmte Geheimtipps. Klassiker, die nie so richtig Betriebsspeck angesetzt haben und deshalb taugen, dem trägen Rest der Welt eine frische Brise zu verpassen. Das ist jetzt dem Kunstfest Herrenhausen geradezu idealtypisch gelungen. Dort nämlich wurden Buster Keatons Stummfilm „The General“ (1926) und Terry Rileys Minimal Music „In C“ (1964) zusammengeführt, beides Bahnbrecher, was man im Falle von Keaton auch mit Railbuster übersetzen könnte: Nie zuvor wurden soviele Schienen verbogen wie in dieser brillantesten Verfolgungsjagd der Filmgeschichte. Sogar eine komplette Dampflok hat Buster ins Wasser stürzen lassen, in echt.

Diesem gigantischen Aufwand steht mit der frühesten Minimal Music eine Partitur gegenüber, die gerade mal eine Seite umfasst. Auf der sind 53 Patterns verzeichnet, bei deren Interpretation nur die Reihenfolge festgelegt ist. Wie viele Musiker worauf die Tonfolgen spielen, in welchen Tempi, wann wer von Nr. 4 zu Nr. 5 wechselt, ist egal. Darin erkannte Stephan Meier, Schlagzeuger des Neuen Ensembles, perfekte Voraussetzungen, um „In C“ auf Keatons 79minütigen Geniewurf zuzuschneiden. Neun Musiker, Geige, Cello, Holzbläser, Synthi, Klavier, Schlagzeug, versammelten sich in der Orangerie vor der Leinwand zu gezielter Improvisation. Motorik hier wie dort.

Denn unablässig pulsten, ja pleuelten die Klänge und vermittelten das Eigenleben der Maschinen, die Keaton durch den Sezessionskrieg dampfen lässt. Ein metamorphisches Leben freilich, neben dem erst recht deutlich wurde, mit welch pointierter Präzision Keaton nicht nur seine akrobatischen Slapsticks, sondern auch die Einstellungen und Schnitte komponiert hat. Statt sie platt zu vertonen, wurde ein reagierender Horizont geschaffen – und den, das merkte man deutlicher als je zuvor, hat „The General“ auch. Der Film ist episch, nicht episodisch, alle Gags sind aus der Geschichte einer unfreiwilligen Heldentat auf Schienen entwickelt, die immer knapp an der Katastrophe vorbeischrammt.

Keaton, der Analphabet, entwickelte ein visuelles Vokabular von einer Virtuosität und Ironie, neben der action und comedy von heute erscheinen wie von einem Haufen schwerfälliger Trottel gemacht. Als solche lässt Keaton, der kleine Lokführer mit steinerner Unschuldsmiene, übrigens auch die Militärs beider Seiten, der Nord- und Südstaaten anno 1862, erscheinen. Das war nicht seine Absicht, er war völlig unpolitisch, aber seine Zeitgenossen sahen ein historisches Ereignis vergagt und ließen den Film floppen. Dass ihn erst die Generation von Terry Riley (Jahrgang 1935) in seiner anarchischen Brillanz erkannte, macht die Kombination mit „In C“ auch historisch schlüssig.

So war man auf vielen Ebenen fasziniert. Man lachte wie ein Kind über Keatons Pannen und sah sich intellektuell auf Hochplateau versorgt im Staunen über die Transparenz seiner Komposition. Dass sie auch surreale Bilder bringt, haben die Musiker mit nie berechenbaren, unendlich reichhaltigen Klängen ebenso unterstrichen wie das Musikalische dieses Films. Umgekehrt zeigten die Bilder, dass Minimal Music nicht der trancetaugliche Ausstieg aus der organisierten Welt ist, sondern eine kreative Fortsetzung maschineller Prozesse. Hinter Keatons Komik und Rileys Patterns erkennt man mit leichtem Grauen auch etwas, das uns heute beschäftigt: Die Verselbstständigung der Technik.

Der Text erschien in kürzerer Fassung in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 11.6.14 und ist urheberrechtlich geschützt.