Die Klarheit der Melancholie

Bekenntnisse eines Komponisten: Harrison Birtwistle in Hannover

Er müsse sich entschuldigen, sagt er, mit feinen Lächeln im weißen Bart, für seine Lieder. „I don´t like fun songs.“ Die Lieder seien sehr persönlich und darum melancholisch. Er scheint zu befürchten, das man unter dem Konzertmotto „Sir Harry´s Song“ mit beschwingten Weisen rechnet. Wahrscheinlich ließ ihn schon das „Sir“ zusammenzucken; er mag den Titel nicht. Aber so allmählich, mit jetzt 80 Jahren und seit langem vielfach preisgekrönt, hat sich Harrison Birtwistle damit abgefunden, dass er zu den wichtigsten Komponisten nicht nur der britischen Gegenwart zählt, und setzt sich gern aufs Podium im Kleinen Sendesaal des NDR in Hannover.

Dort (und tags drauf in der Orangerie) führte die Reihe „Musik 21“ in die die intimere Welt eines Komponisten, der vor allem mit seinen Opern international präsent ist, von der frühen Kasperlgroteske „Punch and Judy“ bis zur komplexen Archaik von „Minotaur“. Die sogkräftigen Überlagerungen dieser letzten großen Partitur findet man durchaus wieder im Lied „From Vanitas“, das etwa zur selben Zeit entstand, vor fünf Jahren – und in dem sich die Lyrik des „Minotaur“-Librettisten Davis Harsent noch besser mit Birtwistles Melancholie trifft. Mit Depression ist sie nicht zu verwechseln. Diese Musik ist ganz frei.

Und wie präzise Birtwistle vorgeht, ohne dass irgendwo Konstruktion zu spüren ist, das zeigten Tenor Uwe Gottswinter und Pianist Pjotr Fidelius auf einem Niveau, das nicht nur der hannoverschen Hochschule für Musik und Theater Ehre machte. Es waren fast durchweg Studierende des „Instiuts für Kammermusik und Lied“, die nach einem Einführungsinterview mit dem Komponisten seine jüngsten Vokalwerke beleuchteten. Kein Werk, hatte er erklärt, entstehe bei ihm isoliert. Immer sucht ein „Zustand“, in den ihn ein Sujet, ein Text bringt, verschiedene Klänge. Rilkes „Liebes-Lied I“ war so in drei Zweier-Kombinationen aus Bariton, Klavier und Cello zu hören.

Dieser kleinen Versuchsanordnung zur Annäherung an die „fremde“ Sprache stand die größere gegenüber, die Birtwistle 2004 für einige der „Sonette an Orpheus“ von Rilke unternahm. Mit “Postkarten“ für Oboe, Harfe und Countertenor reagiert er auf die rätselvollen Zeilen geradezu pragmatisch, nicht raunend, nicht überwölbend. Helle, konturierte, fast sonnenverbrannte Klänge ließen die exzellenten Musiker da hören und eine Konzentration, die gar nichts mehr vom organisch Wuchernden des „mittleren“ Birtwistle hat. In der aber auch der Einsatz von zwei Metronomen alles andere als ein Gag ist: Ihre eiernde Polymetrik beantwortet hier die Frage „Gibt es wirklich die Zeit?“

Das ist zugleich naiv und durchtrieben. Es bricht den „Werk“-Charakter ebenso wie die Schlusszeile des Liedes „The Sadness of Komachi“, die eben nicht vom Tenor gesungen, sondern vom Pianisten gesprochen wird: „Beg your pardon, old lady…“ Obwohl Birtwistle sich nie um einen Fortschritt in der Musik scherte, sondern lieber „die Säfte fließen“ lässt, gerät er auf seine ganz unmittelbare Weise immer wieder in die Nähe zeitgenössischer Tendenzen. Seine „Nine Settings of Lorine Niedecker“ für Sopran und Violoncello sind den „Kafka-Fragmenten“ gar nicht fern, die sein Generationsgenosse György Kurtág für Sopran und Violine schrieb: intensive, griffige Aphorismen.

Anders als Kurtág arbeitet Birtwistle nicht mit dem Sprachmikroskop, er ist ein „Interpret der Stimmung“. Aber auch wenn Sängerin Sophia Körber und Cellist Aram Yagubian an Deutlichkeit nichts fehlen ließen – ausgerechnet die Verse der kaum bekannten Amerikanerin Niedecker, die sich zeitweise als Putzfrau durchschlug, musste man erraten. Das Programmheft zeugte von schmalem Budget, die Qualität des Abends nicht. Er bestätigt den Eindruck, dass intime Formen, vom Lied bis zum Streichquartett, überall neue Hörer und Musiker finden. Weniger, weil sie flexibel und bezahlbar sind, sondern weil man im Toben der Welt die Konzentration aufs Wesentliche sehr nötig hat.

Dieser Text erschien am 27.10.2014 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und ist urheberrechtlich geschützt. Zu Birtwistles Oper “Gawain”: Hier.