15. November 2014

> „Die Zeiten ändern sich“, sagte der Redakteur. „Die Leute wollen keine langen Sachen mehr lesen. Die Kolumne hat sechzig Zeilen. Eigentlich. Du hast aber achtzig geschrieben. Du schreibst immer dieses unkürzbare Zeug. Wir haben es jetzt in voller Länge. Die Seite sieht scheiße aus. Aber danke.“ „Danke auch“, sagte ich. „Ich lern´ das schon noch, ich bin ja noch jung.“ Und so schlimm geht es in der Zeitung, einer großen, norddeutschen Tageszeitung nun auch wieder nicht zu, längenmäßig, auch wenn jene 90er Jahre lange vorbei sind, als es da zum Beispiel Rezensionen in einer Länge und Fülle gab, die heute von den großen Überregionalen mit Ach und Krach erreicht wird. Musikkritiken, man denke, es gibt sie noch! Hundertzeiler über Kammermusik und Opernabende, nicht nur Premieren! Ohne Feedback geht jede Kunst ein, und wer sie nicht kennt, erfährt auch nichts von ihr. Dabei kann sie ähnlich weit kommen wie Rosetta, die Kometensonde – nur in einem anderen Weltall. Nach diesem feierlichen Bekenntnis stimme ich auch gern mal dem gemütlichen Übermenschen Sloterdijk zu, der jüngst sagte: „Wer ständig fortschreitet, geht über zu viel hinweg (…) Man muss täglich konservativer werden, damit man rezeptiver wird für die Werke, die auf uns warten.“ Zu diesen Werken gehört selbst nach zehntausenden Abenden Carmen ebenso wie kaum Gehörtes von, zum Beispiel, Harrison Birtwistle, der im Juli 80 wurde. An beiden habe ich das gute, alte, dubiose Handwerk der Musikkritik jetzt mal wieder ausprobiert. Je hundert Zeilen, ungekürzt!