Kategorie-Archiv: Podium

Für den Safe

Dreht der Markt für alte Instrumente durch? Jetzt soll eine Bratsche von Stradivari 45 Millionen Dollar bringen.

Eines der schönsten Schnäppchen aller Zeiten machte 1820 der Londoner Geigenhändler John Betts. Für etwa 150 Euro (nach heutiger Entsprechung) kaufte er einem Unbekannten eine Violine ab, die Antonio Stradivari 1704 gebaut hatte. Heute gehört sie unter dem Namen Betts zu den etwa 600 Geigen, die es von diesem Meister gibt, und könnte das Hunderttausendfache wert sein. Bei knapp 16 Millionen Dollar liegt der Rekordpreis für ein Instrument. So viel wurde vor drei Jahren für Stradivaris Lady Blunt erzielt. Nun aber droht die Lady in den Schatten einer Bratsche zu geraten. 45 Millionen Dollar mindestens erwartet das Auktionshaus Sotheby’s für die Macdonald-Viola des Cremonesers.

Spekulativer Wahnsinn? Stradivari, der für ein Instrument umgerechnet etwa 2.000 Euro nahm, wurde keineswegs immer hoch gehandelt. Als Betts sein Schnäppchen machte, lag der Dornröschenschlaf der italienischen Geigenbauer gar nicht so lange zurück. Noch um 1800 wurde für Instrumente des Tirolers Jacobus Stainer, der 1683 starb, zehnmal so viel bezahlt wie für die von Stradivari. “Mit der Romantik”, sagt Geigenbauer Eduard Schwen, der in Hamburg die Werkstatt Winterling betreibt, “hat sich dann ein anderes Klangideal durchgesetzt.” Man wollte es tragender, tauglich für große Säle. Nicht von ungefähr nannte Paganini die Guarneri, die ihm um 1802 ein Fan schenkte, seine “Kanone”.

Aber nicht nur der dämonische Virtuose auf Tournee trug zum Hype um die alten Italiener bei. Bis zur Französischen Revolution war der Markt für gute Instrumente höfisch geprägt und weitgehend gesättigt. Danach entwickelte sich das Bürgertum als neue Käuferschicht. Kein Wunder, dass gerade französische Geigenbauer im 19. Jahrhundert tonangebend waren und sich an dem Modell orientierten, das Stradivari um 1700 entwickelt hatte. “Eine Form, die nicht mehr verbessert werden kann”, sagt der Stuttgarter Geigenbauer und -händler Hieronymus Köstler. “Ohne Messtechnik. Was den Stradivari getrieben hat, ist schwer zu verstehen. So beliebt war seine Klangvorstellung damals nicht.”

Nämlich die, etwas von der bodenständigen Frühzeit der Geige als röhrendes Spielmannsinstrument in den höfisch silbrigen Ton zu bringen, den sein Anreger Amati ebenso wie dessen Zeitgenosse Stainer pflegte. Der neue Ansatz traf sich bestens mit der Romantik, die den Klang noch in ihrem Sinne optimierte. Längere Griffbretter, mehr Spannung auf den Saiten – der Kammerton stieg bis heute von 415 auf über 440 Hertz –, mit der Folge, dass sich kein Instrument von Stradivari noch im barocken Originalzustand befindet.

Kreisler, Milstein, Menuhin, Oistrach spielten Stradivaris, so wie es heute Anne-Sophie Mutter, Joshua Bell, Isabelle Faust und etliche andere tun, denen diese Instrumente freilich selten selbst gehören. Sie sind auch für höchstdotierte Künstler nicht mehr zu bezahlen. Vor 35 Jahren konnte Gidon Kremer eine Stradivari für 450.000 D-Mark kaufen, ein damals bestaunter, heute belächelter Preis. “Früher war die Faustregel, dass sich der Wert bei besonderen Stücken alle zehn Jahre verdoppelt”, erklärt Köstler in seinem Stuttgarter Büro. “Maßgeblich war der direkte Handel, bevor sich die Auktionen in den Vordergrund drängten. Jetzt geht die Kurve steil nach oben.”

Zu steil vielleicht. Wenn ein Prozent der Weltbevölkerung knapp die Hälfte von allem Geld der Welt besitzt, treten sich die Investoren auf die Füße, und das Rarste, was Stradivari zu bieten hat, kommt ins Spiel: eine seiner zwölf erhaltenen Bratschen, noch dazu von 1719, aus der sogenannten Goldenen Periode. Dass er nur wenige Mitteltöner baute, liegt auch an der begrenzten Literatur für dieses Instrument zu seiner Zeit. Der größere Teil bedeutender Stücke und Spieler wuchs erst im 20. Jahrhundert. Jetzt, da es so viele exzellente Violasolisten gibt wie nie zuvor, könnte eine Bratsche das teuerste Instrument der Welt werden.

An der Qualität des Instruments zweifelt übrigens keiner, der es schon in Händen oder gar, wie Köstler, in der Werkstatt hatte. Er betreute es dort für dessen Besitzer Peter Schidlof, den Bratscher des Amadeus-Quartetts, für den wiederum die Firma Philips die Macdonald deren britischen Vorbesitzern abkaufte. Der Preis vor 50 Jahren: 81.000 Dollar, immerhin schon damals das Dreifache der teuersten Geige. Mit diesem Hinweis rechtfertigt ein Sprecher des mit Sotheby’s eng zusammenwirkenden Auktionshauses Ingles & Hayday in London die Erwartungen: Geigenrekord mal drei macht 45 Millionen Dollar. So hoch müssen die Gebote mindestens sein, die bis Juni im sealed bid-Verfahren schriftlich, also verdeckt, eingereicht werden. Für diese Summe, merkt die New York Times sarkastisch an, hätte man gleich zwei amerikanische Opernhäuser retten können, die in New York und San Diego.

Der Aachener Auktionator Georg Paul Bongartz bezweifelt indessen, “dass es jemanden gibt, der bereit ist, das zu bezahlen”. Der Vater des Geigers David Garrett betreibt eines der wichtigsten Häuser in Europa und bringt dort im Mai selbst 360 Stücke zur Versteigerung, neben einer Stainer-Geige von 1656 auch “vieles, was für Musiker noch zu bezahlen ist”. Das Beste dem Zugriff der Besten zu entziehen, hält er für “unethisch” – welche Versicherung werde das Risiko übernehmen, wenn die Macdonald einem Musiker geliehen wird?

Wobei ein paar Jahre im Safe, anders als viele vermuten, den Viersaitern durchaus nicht schaden. “Kulturhistorisch gesehen ist es fantastisch, dass Instrumente immer wieder aus dem Markt genommen werden”, sagt Eduard Schwen. Entspannung tue ihnen auch mal gut. Dass indessen ein Drittel aller Stradivaris in musealen Sammlungen schlummert, sei kein Zufall: Nicht alle klängen überragend. Waren es vielleicht solche, die beim jüngsten Blindtest eher dürftig abschnitten? Es war der wohl aufwendigste, den es für Geigen je gab.

Unter Idealbedingungen ließ die Pariser Sorbonne zehn Berufssolisten zwölf Instrumente testen, sechs neue und sechs höchstwertige alte. Mehrere Runden und Räume, keine Beeinflussung: Selbst der diskrete Duft der Hölzer wurde neutralisiert. Mit Ach und Krach schaffte es eine Stradivari auf Platz drei hinter zwei Neubauten. “Ich finde es gut, wenn neue Instrumente gepusht werden”, sagt Köstler dazu, “aber bei dem Vorgehen stehen mir die Haare zu Berge. Es braucht jemanden, der in die Geige eintaucht. Stradivaris sind sehr schwer zu bedienen, und Musiker und Geige müssen zusammenpassen wie Stecker und Steckdose.” Er hat es erlebt, dass ein hervorragender Solist, nicht ahnend, dass der Händler ihm eine Weltberühmtheit in die Hand drückte, nach ein paar Bogenstrichen einfach “Scheißgeige” sagte. Alles ist relativ, auch hier.

Darum spielt Christian Tetzlaff auf einer für ihn gebauten Geige, darum liebt Gregor Sigl vom Artemis Quartett den Flohmarktfund in seinen Händen, und Arabella Steinbacher spielt eine “Strad”, die Julia Fischer nicht mochte. Es ist wie bei Liebenden – solange es um Musik geht. Wenn aber Kunst über Kohle definiert wird und das Instrument nicht mehr nur Mittel ist, sondern in den Mittelpunkt gerät, droht Gefahr – nicht nur dem unbefangenen Hören. Die Geigerin Maria Grevesmühl starb 1996 an den Folgen eines Raubüberfalls, der ihrer Stradivari galt, im Januar dieses Jahres wurde ein Konzertmeister in Milwaukee per Elektroschock-Pistole niedergestreckt, weil er eine Fünf-Millionen-Geige im Koffer hatte.

Höchste Zeit also für den Hinweis, dass in den wenigsten Köfferchen solche Geräte herumgetragen werden. Und wer Instrumente nur zur Geldanlage sucht, kann sich ja auch mal ganz anders orientieren: Strat statt Strad! Die Stratocaster-E-Gitarre Blackie, auf der Eric Clapton spielte, erzielte vor zehn Jahren schon gut 700.000 Euro. Das hat noch keine Geige des Jahrgangs 1956 geschafft.

Der Text erschien am 30.4.14 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt

Spätzünder für die Zukunft

Die Sopranistin Sabine Devieilhe beschert dem Spätbarockgenie
Jean-Philippe Rameau seinen zweiten Frühling

Er ist der Kracher unter den Spätzündern. Erst mit 50 Jahren debütierte Jean-Philippe Rameau, kurz vor Bach und Händel geboren, als Opernkomponist. 30 Jahre später starb er – und hatte das gesamte französische Musiktheater umgepflügt. Dabei schadete es offenbar nichts, dass er mit einer jungen Sängerin verheiratet war. Und die hätte nun allen Grund, noch posthum eifersüchtig zu werden: auf die Sopranistin Sabine Devieilhe. Die Sopranistin aus der Normandie hat den großen Franzosen ein weiteres Mal aus dem Schlummer gerissen – aus dem der Nachwelt nämlich, die immer noch nicht so recht weiß, wo sie dieses aus dem Barock herausbrechende Genie der Farben und der Seelendramen hinstecken soll. Ab und zu wird „Platée“ gegeben, aber neben dem Boom der Barockoper ist Rameau doch wieder ein Outsider.

Vielleicht fehlte es an kompetenten Extremisten, die, befreit vom Ballast einer kompletten Opernproduktion, so zum Kern vorstoßen wie jetzt die 1985 geborene Devieilhe und das junge Ensemble Les Ambassadeurs. Sie haben Arien, Ensembles und Instrumentales von 1733 bis 1763 zu einem Grand Théâtre de l’Amour gefügt, zum Monodram einer zuerst ahnungslosen, dann verliebten, verzweifelten, schließlich wahnsinnigen Frau, und die dichte Dramaturgie verbindet sich bei den Interpreten mit einer Plastizität, die man in solcher Wucht und Sinnlichkeit, Akribie und Feinheit bei Rameau noch nicht erlebt hat. Das Konzeptalbum ist ein Gegenentwurf zu den gern auch mal jazzig aufgebrezelten Barockbüfetts der Szene.

Musikalische Gegenwart stellt man nämlich nicht her, indem man alte Hits für die Lounge zurüstet, sondern sich zum Beispiel einer Pastorale von 1749 so hingibt, dass jeder dem Orchester anhört, wie schwer und fett die Schafe auf der Erde stehen. Zwischen denen die Schäferin so singt, dass man sie erröten hört, ehe noch der Text erklingt, und hingerissen ist von diesen weittragenden, bebenden Linien. Wie Devieilhe Intimität und Präsenz verschmilzt und stilistische Sicherheit bis ins Ornament mit romantischer Identifikationslust, wie sie die Kraft ihrer hellen, körperreichen Stimme zum Nuancieren nutzt, das hat Rameau bislang gefehlt.

Das Orchester: Kein Tross, der 20 Meter hinter einer Diva vor sich hin tönt, sondern einzelne Akteure. Streicher, die Linien zu Nervensträngen machen, Fagotte zwischen fahl und phallisch, Hörner, die vor Wut brüllen können. Extreme im Groben wie im Feinen: Tempi, Harmoniewechsel, Tonlängen sind so subtil gestaltet, dass eine Arie wie “Tristes apprêts” von 1737 die zwei Jahre älteren, im Affekt nahen “bleichen Schatten” von Händel in den Schatten stellt. Rameau ist seiner Zeit mitunter um Jahrzehnte voraus: Das Eifersuchtstrio aus “Huascar”, wo die Terzen eines verliebten Paares von den Eifersuchtsattacken des Verschmähten durchschossen werden, hätte in seiner realistischen Simultaneität noch den Mozart des Don Giovanni beeindruckt.

Ein Fugato aus der 1733er Durchbruchsoper “Hyppolite” lässt in seinem Sarkasmus an Berlioz denken, der mit dem, was er von Rameau kannte, nichts anfangen konnte und stattdessen Gluck vergötterte. Da hat er sich halt mal vertan. Nicht in der Form, aber im Detail, der raffinierten Seelenkunde, die man in dieser Auswahl erlebt, ist Rameau der substanziellere Bahnbrecher. Und ironisch dazu, wenn er im lachenden Wahnsinn (“Platée”) die dämliche Virtuosität zeitgenössischer Diven karikiert. Devieilhe und das Orchester folgen ihm so übermütig, dass man Jacques Offenbachs Paris funkeln sieht.

Doch im Zentrum bleibt die große Persönlichkeit. Rameaus Sprache ist von einer Konsistenz, die Werke aus dreißig Jahren stilbruchlos verbindet. Dirigent Alexis Kossenko, der auch hinreißende Flötensoli spielt, hat die Musik auf eine Weise zum Sprechen gebracht, die den Spätzünder zum Zeitgenossen der Zukunft macht. Und das jetzt bitte noch mit Bühne und ohne Perücken!

Dieser Text erschien in der ZEIT vom 10.4.14 und ist urheberrechtlich geschützt.

Bloß nicht auf jedem Ton beben!

Die Geigerin Isabelle Faust spielt Brahms’ Violinkonzert energisch, warm, klar

Ferrucio Busoni stellte sich seinen Kollegen Brahms im Himmel vor, “in der deutschen Abteilung”, behaglich eingerichtet: “Ein paar Kissen, einige Hörner an den Wänden, gebrochene Dreiklänge und eine reizende Sammlung von Synkopen.” Den Haushalt führe Clara Schumann. Busonis ironische Distanz ging mit Bewunderung einher, und er schrieb sogar eine eigenwillige Kadenz für Brahms’ Violinkonzert , die selten gespielt wird. In ihr bleibt die Geige nicht allein. Ein anhaltender, von Schwellungen durchsetzter Paukenwirbel grollt unablässig, und angesichts des Kompositionsdatums 1913 ist man versucht, da schon von fern die Geschütze des Ersten Weltkriegs zu hören.

Durch diese Katastrophe wurde jedenfalls die Musik des 19. Jahrhunderts lange Zeit seltsam entrückt, als Teil einer früheren, vermeintlich heilen Welt, “romantisch” fand man sie im schwelgerischen Sinne, und ein so architektonisch konzipiertes Werk wie Brahms’ Violinkonzert wurde zur Bühne des leidenschaftlichen Subjekts. Was ja auch, wie nicht nur Yehudi Menuhins Aufnahme von 1957 zeigt, hinreißend sein kann. Aber schwer schreitende Tempi, brodelnder Orchesterklang und der Geiger als Held verdecken auch, wie transparent und sinfonisch diese Partitur konstruiert ist. Das kann man jetzt mit Isabelle Faust (Jahrgang 1972) und dem Mahler Chamber Orchestra hören. [Brahms: Violinkonzert D-Dur op. 77, Streichsextett G-Dur op. 36, Harmonia Mundi HMC 902075]

Daniel Harding dirigiert die Sätze sehr zügig, nicht als Rekordversuch, sondern orientiert an den Metronomangaben des Widmungsträgers Joseph Joachim, dessen Hinweise die Solistin nicht nur im ambitionierten Beihefttext zitiert, sondern auch beherzigt. Es wäre von Übel, schreibt Joachim, “wenn der Vortragende auf allen Tönen jedes einzelnen Taktes ununterbrochen beben wollte”. Daraus wird bei Faust kein dogmatischer Vibratoverzicht, aber eine fast grafische Klarheit, wie man sie in diesem Stück selten hört – gepaart mit der noch in höchsten Lagen holzwarmen Farbe ihrer Stradivari. Und die Energie dieser Geigerin sorgt für sinfonische Spannweite, mitunter mehr als das Orchester.

Das wirkt im Alleingang manchmal etwas tapsig, entschädigt aber durch Farben und im Dialog mit wunderbarer Detailabstimmung. Spannend wird das Zusammenspiel von Ensemble und Solistin vor allem in Randzonen, die man noch nie so zerbrechlich erlebte – etwa da, wo im ersten Satz über dünnem Gewebe die Geige 20 Takte lang ein simples kleines Motiv in alle Richtungen wendet, wie auf vergeblicher Suche. Hochbewusst gestaltet Daniel Harding auch die Umgebung, wenn Isabelle Faust ihre Nonensprünge so dringlich zeichnet, dass man eher an Schostakowitsch denkt als an deutsche Romantik.

Auch Busonis Kadenz erweitert den Horizont, führt in eine kühle Weite über dem Paukengrollen. Wo andere Musiker den Sonnenschein des Abgesangs genießen, hört man hier die Angst vorm Zerbrechen. So behutsam werden von Solistin und Orchester die weiten Bögen zusammengefügt, als könnten sie anders nicht vorm Einsturz bewahrt werden. Auf gemütliche Kissen gebettet ist dieser Brahms nicht.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erschien am 17. Februar 2011 in der ZEIT