Als Tristan durchs Telefon kam

Das Wagnerjahr 1913 bewegte sich zwischen Lücke und Aufbruch, Denkmal und Fortschritt, Bayreuth blieb stumm, doch den Pariser Tristan konnte man in London hören – und Musiker und Intellektuelle entdeckten Wagner neu

Die meisten der 1,8 Milliarden Menschen, die im Jahr 1913 lebten, ahnten wenig von den Themen, die uns mit jenem Jahr verbinden. Der junge Albert Einstein erläuterte Ansätze zur Relativitätstheorie; Rudolph Steiner legte den Grundstein zum Goetheanum. In Chicago wurde die Antidiffamierungsliga gegen Antisemitismus gegründet. In Mailand eröffnete die neue Firma Prada ein Geschäft für Lederwaren. Bei Helgoland stürzte ein Zeppelin ins Meer. In Paris gab es einen Skandal um Strawinskys Sacre du Printemps und in Wien einen um Lieder, die Alban Berg nach Postkartentexten geschrieben hatte. Das Kapital von Marx erschien als Volksausgabe. Der deutsche Reichstag stimmte der Vergrößerung des Heeres um 117267 Mann auf 661478 zu. Und befasste sich sogar einen Tag lang mit dem Jubilar des Jahres, Richard Wagner.

Dieser 6. Februar 1913 wurde für Cosima Wagner ein schwarzer Tag. Bis dahin hatten sie und 18.000 Unterzeichner auf den Erfolg einer Petition an den deutschen Reichstag gehofft, die für Parsifal eine Änderung des Urheberschutzgesetzes forderte. Das Werk solle auch in Zukunft nur in Bayreuth aufgeführt werden dürfen, dem Willen des Meisters entsprechend. Spötter sprachen von einer „Lex Cosima“ und unterstellten damit, dass die Witwe eher eigene Interessen als die des Komponisten verfolgte. Da dessen Tod nun 30 Jahre zurücklag, würden mit Ablauf des Jahres der Urheberrechtsschutz für seine Werke und beträchtliche Tantiemenzahlungen enden. Eine legendäre Exklusivoper konnte der Attraktivität Bayreuths da nicht schaden…

Die Herren von der Reichstagskommission nahmen sich Zeit; das Protokoll der Sitzung füllt 15 dicht bedruckte Spalten. Die einen fürchteten eine Profanierung der Gralsoper, die anderen fanden das „überspannt“. In Bayreuth „spielten auch sehr materielle Rücksichten mit“, fasst das Protokoll eine der Stellungnahmen zusammen. „Da sei zunächst der Billethandel, der skandalöse Auswüchse zeige. (…) Es sei für viele Kreise einfach Modesache, in Bayreuth zu sein. Von Kunstverständnis sei bei vielen Besuchern keine Spur. (…) Der Aufmarsch der Gäste erinnere stark an die Helgoländer Lästerallee [das Spalierstehen bei der Ankunft neuer Kurgäste am Hafen], der Einzug der Dynastie Wagner sei ebensowenig erhebend.“ Menschen, „die voll Andacht dem Parsifal beiwohnen“, seien ohnehin in der Minderheit.

Mit großer Mehrheit beschloss die Kommission, über die Petition II Nr. 5811 zur Tagesordnung überzugehen, und Festspielleiter Siegfried Wagner zog eine drastische Konsequenz. Das undankbare Vaterland wurde für den „Parsifalraub“ mit Festspielentzug bestraft. Im Jubiläumsjahr 1913, zu Richard Wagners 100. Geburtstag, blieb es auf dem Grünen Hügel still. Siegfried begann mit der Komposition des Vokalwerks Märchen vom dicken fetten Pfannkuchen und erklärte: „Wir feiern, indem wir arbeiten.“ Und mit Blick auf den davonrollenden Tantiemenpfannkuchen ließ er seiner Schwester Isolde mitteilen, dass die jährlichen „Subsidien“, die sie als erstes, aber uneheliches Kind Richards und Cosimas erhielt, auf 8000 Mark gekürzt würden.

Wer sich das Wagnerjahr 1913 vorstellt als einen berauschten Taumel, der findet überraschend viel Umbruch, neue Wege, Bau- und Leerstellen. Ausgerechnet in Wagners Geburtstagsstadt Leipzig war zum Festtag vom großen Denkmal, das man bei Max Klinger bestellt hatte, nur die Treppe fertig, wohingegen das 91 Meter hohe Völkerschlachtdenkmal im Oktober termingerecht eingeweiht werden konnte, unter anderem in Anwesenheit des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand, dessen Ermordung im Juni 1914 einen Weltkrieg auslösen würde. Die Münchner Wagnerianer hatten mehr Glück mit ihrem Denkmal. Pünktlich zur Geburtstagsfeier brachte eine Straßenlokomotive die Skulptur des Künstlers Heinrich Waderé zum Prinzregentenplatz.

Man sah den Meister in sitzender Haltung, goethehaft, den Blick auf eine imaginäre Campagna richtend. Und der Intendant des Prinzregententheaters rief: „So grüßen wir dich, Unsterblicher! Möge Dein Antlitz uns leuchten!“ Dirigent der Feierstunde war Bruno Walter, in München bekannt als Zögling Gustav Mahlers, dessen Lied von der Erde er hier uraufgeführt hatte, und neuer Generalmusikdirektor. Bei dieser Gelegenheit, so Hans Vaget in einem Aufsatz über Walter, „wurde den Meinungsmachern der Münchener Musikkritik auf einmal klar, worauf sie sich in den kommenden Jahren einzurichten hatten (…): Das Erbe des „deutschesten“ Künstlers lag von nun an in den Händen eines – wie man später zu sagen pflegte – „artfremden“ Dirigenten.“

Zum „Wortführer dieses Unbehagens“ (Vaget) wurde Alexander Dillmann. Der Geheimrat und Musikkritiker setzte, kaum dirigierte Bruno Walter 1913 die ersten Wagneropern, in den Münchner Neuesten Nachrichten die Codewörter des Antisemitismus ein, mäkelte an „hundert von ihm [Walter] erfundenen geistreichen Einzelzügen“ herum, sprach ihm die „stilistische Sicherheit“ ab. In diesem Tonfall folgte ihm für die weiteren Jahre die Majorität der Kollegen, nicht gebremst vom Zwischenruf Thomas Manns, Walter sei deutsch „seinem Geiste, seinem Herzen und seiner Bildung, wenn auch meinetwegen nicht seinem Blute nach.“ Antisemitische Signale finden sich sogar in im wohl innovativsten Projekt des Jubeljahres, einem Film über Richard Wagner.

Es war das Jahr, in dem Charlie Chaplin seinen ersten Filmvertrag unterschrieb und allein in Berlin schon 200 Kinos existierten. Dort erspielte auch Giuseppe Becce sein Geld. Der italienische Bauernsohn lebte als Komponist und Dirigent seit 1900 an der Spree, wo dem Filmproduzenten Oskar Messter in einem Kaffeehaus Becces frappante Ähnlichkeit mit Wagner auffiel, Größe und Nase eingeschlossen. Da Cosima Wagner die Verwendung originaler Wagnerklänge im Kino untersagte, lieferte der frischgebackene Hauptdarsteller einen wagnerisch nachempfindenden Soundtrack gleich selbst (er wurde, nach dem Klavierauszug rekonstruiert, am 22. Mai 2013 in Baden-Baden neu aufgeführt). Becce konnte, wie man sieht, Klavier spielen, und er gab einen sympathischen, schüchternen, durchaus faszinierenden Wagner ab.

Aufschlussreich ist Carl Froelichs Film nicht nur, weil ein hämischer Meyerbeer und Wucherer mit hohen Hüten und Hakennasen die antisemitischen Zerrbilder der Zeit reproduzieren. Ganz von ungefähr ist Frölich später jedenfalls nicht Präsident der Reichsfilmkammer geworden. Doch als Psychologe ist er subtil: Die nervöse Handbewegung, mit der Hans von Bülow seine Cosima von Wagner wegwinkt, die müden Finger, mit denen Ludwig II., schon halb entmachtet, die Sessellehne sucht… Die oft vor stiller Kulisse auf Bewegung wartende Kamera wäre heute zu avantgardistisch für die Berlinale. Wo freilich Oper gezeigt wird, lassen uns wallende Gewänder, gewaltige Helme, eilig umstürzende Pappsäulen einiges ahnen vom weiten Weg, der zu einem veritablen „Gesamtkunstwerk“ noch zurückzulegen war.

Auch anderswo berührten sich Wagner und die Technik der Moderne. Am 21. Mai des Jahres wurde aus dem Pariser Palais Garnier Tristan und Isolde im Zweikanalton nach London übertragen – per Theatrophon. Diese Erfindung hatte Clément Ader bereits 1881 vorgestellt, und als eine Art Kulturservice auf Telefonbasis war sie vor allem in Frankreich und Großbritannien erfolgreich. Zu den Abonnenten zählte Marcel Proust, der 1913 „In Swanns Welt“ vorlegte, den ersten Teil seiner Suche nach der verlorenen Zeit; Queen Victoria war schon um 1900 Kunde der „Electrophone Ltd.“, auch Portugals König Luís I nutzte die neue Technik. Die Signale der am Bühnenrand befestigten Kohlemikrophone wurden auf zwei Leitungen verteilt, wodurch mit zwei Ohrlautsprechern stereophones Hören möglich war – allerdings nur mit teurem Zusatzgerät oder an öffentlichen Münzautomaten. Die Liveübertragung des Tristan ließ die Zahl der Londoner Privatabonnenten auf 2000 steigen.

Wie man zu jener Zeit Wagner sang und spielte, ist in einigen Tonaufnahmen überliefert. Etwa Rudolf Berger als Siegmund an der MET, textdeutlich, mit lang ausrollendem „r“ in „Vater“, und drangvoll knappen (nicht endlosen!) „Wälse“-Rufen. Die Orchesterstreicher lassen die zu der Zeit durchaus üblichen Glissandi hören. Da ist Jacques Urlus, der 46-jährige holländische Heldentenor, flammender Bayreuthianer, dessen „lieber Schwan“ fast nur aus Vokalen besteht, dabei aber durchs Rauschen der Wachswalze hindurch ein betörendes Legato hören lässt, eine Geschmeidigkeit, in der sich Präsenz und Transzendenz des Gralsboten verbinden. Und die Berliner Philharmoniker spielen schon 1913 Instrumentalwerke aus Parsifal ein – Dirigent Alfred Hertz wählt im ersten Vorspiel ein ungeheuer langsames Tempo, das aber durch geradezu perforierende Phrasierungen frei von Weihenebeln bleibt. Hertz ist übrigens jener Musiker, der schon 1903 gegen Cosimas Willen in New York (wo deutsches Urheberrecht nicht galt) den ersten szenischen Parsifal außerhalb Bayreuths dirigiert hatte und an deutschen Opernhäusern fortan geächtet ward.

Unbeliebt machte sich bei den Gralshütern auch der Mann, dem wir den wohl spannendsten Text zum Wagnerjahr 1913 verdanken. Paul Bekker, 30jähriger Musikredakteur der Frankfurter Zeitung, hatte sich 1912 wegen des „Parsifalschutzes“ gegen „Bayreuth und seine Leute“ gewandt und war von denen umgehend als „antiarisch“ gescholten worden, als Jude, der Kunst nur „im Artistenverstand“ begreife. Bekker, davon unbeeindruckt, nahm zu Wagners Geburtstag „Starkes und Schwaches, Erhabenes und Kleinliches“ auseinander, um es unter einem Aspekt zu vereinen: Ein Reformator sei er gewesen, der als erster Künstler „sein Leben selbst zum Kunstwerk“ gemacht habe.

Weil bei ihm aus subjektiven „Leidenschaften und Affekten“ erst Stil und Gedanke entstünden, sei auch Wagners Sprache „nur ein zum Wort- und Satzgebilde verdichteter Affekt“, vom Werk nicht ablösbar. Auch der „Erlösungsgedanke“ sei nicht der Kern, sondern eine Form dieser Kunst. Bekker macht Wagner gleichsam zum Vorläufer des Expressionismus – 1913 erschienen auch Gedichtbände von Georg Trakl und Gottfried Benn – und würdigt den Theoretiker Wagner nur weniger Worte. Ein starkes Stück in einem Jahr, in dem immerhin auch eine zehnbändige Edition der Schriften und Dichtungen erschien. Indessen komme am Jubilar „keiner vorbei, ohne sich Rechenschaft geben zu müssen“: Er sei „eine Macht des heutigen öffentlichen Lebens“.

Gerade darum machten Bekker die irrationalen Züge dieses Geistes nachdenklich, „das Unterjochen des gedanklichen Schauens durch phantastisches Träumen“, der „tendenziöse Nationalismus“, der Anspruch, Subjektives zu „allgemein gültiger Theorie“ zu erweitern. „Man kann darüber im Zweifel sein, ob die Wirkung Wagners, wie wir sie heute spüren, in jeder Beziehung so günstig ist, daß wir die Weiterentwicklung alles dessen, was er uns gegeben hat, auf die Dauer als wohltätig und fördernd empfinden würden. (…) Vielleicht erleben wir gerade jetzt, nach einer Periode bedingungsloser, auf falschen Maßstäben beruhender Bewunderung, eine Zeit der kritisch polemischen Betrachtungen…“

Doch weit eher wurde Wagner von den politisch Extremen beansprucht, von den Deutschnationalen wie von den Austromarxisten, die Wagner zusammen mit Marx und der Zweiten Internationale als Teil der sozialistischen Dreieinigkeit sahen. Und, noch überraschender, von den Katalanen, die ihn zum Schirmherrn ihrer Renaixença, der Wiedergeburt in Unabhängigkeit von Spanien machten. Durch Wagner hoffte man, erklärt die Musikwissenschaftlerin Catherine Macedo, „ein Teil von Nordeuropa“ zu werden. Hatte er nicht die Gralsburg „Monsalvat“ in den „nördlichen Gebirgen des gotischen Spaniens“ verortet und das gottlose Zauberschloß „dem arabischen Spanien zugewandt“? Monsalvat konnte nur Montserrat sein, der heiligste der katalanischen Berge!

So kam es, dass in den letzten Minuten des Jahres 1913 die feingemachten Wagnerianer von Barcelona ihre Plätze im Liceo einnahmen, dem 1847 eröffneten Opernhaus an den Ramblas, und um Punkt Mitternacht der Vorhang hochging über dem ersten europäischen Parsifal außerhalb von Bayreuth nach Ablauf der Schutzfrist (mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass dank Schweizer Recht schon im April des Jahres das Werk legal in Zürich aufgeführt worden war). Ein Bühnenbildner vom Théâtre de la Monnaie“ in Brüssel hatte gemeinsam mit vier Katalanen den Berg Montserrat gemalt; als Parsifal gab Francesc Viñas i Dordal sein Rollendebüt. Ausverkauft war die nächtliche Vorstellung übrigens nicht. Danach graute der Morgen des Jahres 1914.

Der Text erschien im “Almanach 2013″ der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth und ist urheberrechtlich geschützt. Der Almanach bietet auch eine exzellente Übersetzung ins Englische von Jens F. Laurson.

Auswahl der verwendeten Literatur
Paul Bekker: Kritische Zeitbilder, Berlin 1921; Brigitte Hamann: Winifred Wagner, München 2003; Hannes Heer u.a. (Hrsg.): Verstummte Stimmen, Berlin 2012; Florian Illies: 1913, Frankfurt 2012; Catharine Macedo: The Barcelona Parsifal, Cambridge 1998; Hans Vaget: Seelenzauber – Thomas Mann und die Musik, Frankfurt 2006; Anon.: Theatrophon, Wikipedia 2013; Reichstagsprotokolle, www.reichstagsprotokolle.de