Hat die Hexe ausgedient?

Der Kampf ums Kind tobt in den Musiktheatern. Acht neue Opern für die Jüngsten werden allein derzeit uraufgeführt

Es war einmal, da wurden die Kinder in den Wald geführt, wenn sie die hohe Kunst der Oper kennenlernen sollten. Sie vernahmen raunende Klänge eines großen Orchesters, sahen eine singende Frau in kurzer Lederhose, von der es hieß, sie sei der Hänsel, und eine Puppe flog über die Bühne, das sollte die Hexe sein. Alles seltsam und weit weg, aber die Bäume sahen so echt aus! Und während in deutschen Sprechtheatern längst hammerharter Alltag für Kinder zugerüstet wurde, saß in den Opernhäusern der fein gemachte Akademikernachwuchs und lauschte den Gesängen eines märchenhaft versunkenen Prekariats: “Rallalala, rallalala, Hunger ist der beste Koch …”.

So lange ist das gar nicht her. Bis Ende des 20. Jahrhunderts schwang Engelbert Humperdincks Hexe ihren Besen als Zepter im Musiktheater für Kinder. Wer sich heute an Opernhäusern umtut, reibt sich Augen und Ohren. Acht neue Opern für Kinder werden in dieser Spielzeit in Deutschland uraufgeführt, hinzu kommen Dutzende im Repertoire. Allein in Berlin konkurrierten am vergangenen Wochenende das abstrakte Rotkäppchen des Musikdramatikers Georges Aperghis und Gordon Kampes neue Kinderoper Kannst du pfeifen, Johanna? miteinander. Die Scouts der Szene hechten von einer Premiere zur anderen, immer auf der Suche nach neuem, starkem Stoff für Kinder.

“Als ich vor 13 Jahren anfing”, sagt Rainer O. Brinkmann, Theaterpädagoge an der Berliner Staatsoper, “gab es weit und breit nichts, was sich um den Nachwuchs gekümmert hätte. Die Oper war, mit wenigen Ausnahmen, weit zurück hinter den Sprechtheatern, die alle ihre Pädagogen hatten.” Inzwischen gibt es kaum ein Haus, an dem nicht von der Basis bis zum Überbau um das Publikum von morgen gekämpft würde: mit Werken und Workshops, Adaptionen und Novitäten für Kinder und Jugendliche – und voll heftiger Diskussionen darüber, wohin die Reise gehen könnte. Wie komplex dürfen, wie einfach müssen Kinderopern sein? Wie dissonant? Sind Märchenstoffe Weltflucht, brauchen wir Patchworkdramen als Sozialmassage? Sind Arien noch erlaubt? Geht es auch ohne Rap?

Ein ganzes Genre wird neu erfunden, und zwar vor großem Publikum. Die Nachfrage ist enorm. Die Werkstattbühne des Schillertheaters ist voll, wenn Aschenputtel gegeben wird, um 1900 von Ermanno Wolf-Ferrari für Erwachsene komponiert, nun so geschickt auf 70 Minuten, zehn Musiker und acht Sänger reduziert, dass die überreife Spätromantik eine neue, leichte Sinnlichkeit gewinnt. Mit dem ersten gesungenen Ton sinkt der Tuschelpegel gegen null. Auch wenn das hier kein Illusionstheater ist, die Künstler zum Greifen nah sind und Aschenputtel zum Putzen blaue Plastikhandschuhe überzieht, wirkt der alte Zauber sofort. Auch vom Regietheater gestählte Erwachsene sehen sich durch die Inszenierung von Eva-Maria Weiss keineswegs in die Froschperspektive genötigt. Es tut ganz gut, mal eine Musiktheaterstunde ohne Dekonstruktion, Subtext und Psychoanalyse zu verbringen.

Kinder haben viel Sinn für Qualität und Wahrhaftigkeit. Darum wird der Regisseur Frank Hilbrich auf der Probebühne der Stuttgarter Oper nicht müde, im Countertenor Iestyn Morris die Abenteuerlust freizulegen, die ein Peter Pan nun einmal haben muss. Erst recht in einer komplexen Partitur wie der von Richard Ayres, Jahrgang 1965, dessen Oper demnächst im großen Haus uraufgeführt wird. Damit der Sänger fliegen kann, haben Stuntexperten ein Bungeeseil installiert, es geht um Millimeter und Sekunden. Der Aufwand für 90 Minuten inklusive Krokodil steht dem für eine Salome in nichts nach – und ist nur als Koproduktion zu machen. Nach der Komischen Oper Berlin wird das walisische Cardiff die Inszenierung übernehmen.

Seit Hans Werner Henzes legendärem Policcino, bei dem 1980 ein ganzes italienisches Städtchen mitmachte, arbeiten Kinder oft auch bei den Konzepten mit. In Stuttgart fährt man auf beiden Schienen. Parallel zu den Proben für Peter Pan (bei dem sich die Mitwirkung auf den Kinderchor beschränkt) erarbeiten 15 Jugendliche ihr eigenes Nimmerland. Remy ist blind und singt: “Niemand holt mich ab, weil keiner weiß, wo ich bin.” Ein Lied aus fünf Tönen, mal eben improvisiert, sein Freund begleitet ihn auf einer Trommel. Die beiden sind 17, aber auch ein Neunjähriger steht im Probensaal und schlägt am Vibrafon berührende Klänge an zum Thema Einsamkeit.

So erlebt man die Geburt des Musiktheaters jenseits aller Operngeschichte – als unmittelbare, intensive Suche nach Ausdruck. Damit dieser sich gestalten und vermitteln lässt, braucht es einen Schutzraum. Der Jungen Oper Stuttgart steht jährlich ein Etat von 400.000 Euro zur Verfügung (plus Sponsoring) für vier feste Kräfte, 200 Workshops, zwei Neuproduktionen (ohne Peter Pan), für Konzerte und für Stückentwicklungen wie Nimmerland. Niemand lacht Remy hier aus, wenn er von der Einsamkeit singt. Mit ihr, das lässt jeder Ton, jedes Wort spüren, kennen sich diese Kinder bestens aus.

“Kinder werden total unterschätzt”, sagen die, die mit ihnen arbeiten. Am meisten staunten viele Sänger von der Berliner Staatsoper, als sie in den Plattenbaukiez an der Frankfurter Allee fuhren und dort in einem Jugendheim der Caritas 60 junge Akteure trafen, die ihre Partien im Projekt Sternzeit (frei nach Musik von Chabrier) sicher beherrschten, mitentworfen hatten und nun zusammen mit den Profis probten. Dahinter steht die Idee von Regina Lux-Hahn, Kinderoper “da zu machen, wo die Kinder leben”. Die Premiere war 2010 ein solcher Erfolg, dass die Lichtenberger unlängst ihre vierte Produktion herausbrachten – und längst auch erwachsene Fans haben.

“Kinder, die sich in solche Projekte einbringen, entwickeln sich in ungeheurer Weise. Das ist ein Stück Menschwerdung”, sagt Frank Harders. Er betreut beim Verlag Boosey & Hawkes mittlerweile 70 Musiktheaterwerke für junge Leute, darunter Erfolge wie dieSchneekönigin von Pierangelo Valtinoni, derzeit im nordschwedischen Umeå und in Leipzig zu erleben. Dem Werk, ärgert sich Harders, werde seine Ohrwurmhaltigkeit von Hardlinern schon als “obszön” vorgeworfen. Mancher Komponist weiß bald nicht mehr, was die Kritiker wollen – wie Matthias Heeps, in dessen Kinderoper Momo den einen die Melodien fehlten, anderen das Werk zu “melodienselig” war. Kann das sein?

Offenbar bündeln sich in der Diskussion über ein Musiktheater für Kinder genau die Konflikte, die seit der Erfindung der Oper alle 50 Jahre ausbrechen: Komplexität gegen Einfachheit, Zeitnähe gegen Mythos. Wer es allen recht machen will, wie jetzt Gordon Kampe in Kannst du pfeifen, Johanna?, uraufgeführt in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin, landet leicht bei einer Mischung aus Alban Berg, Barock und Schlager, in der die Auseinandersetzung mit dem Tod eher einem pädagogischen Wertekatalog folgt als packenden theatralischen Spannungskurven. “Mir ist ein bisschen langweilig”, flüstert, fast mit schlechtem Gewissen, eine Siebenjährige im Publikum ihrer Mutter zu. Der Kampf ums Kind bringt jedenfalls einen Schwung in die Debatte, der dem restlichen Musikbetrieb mit seinem anything goes zwischen Kulinarik und Dekonstruktion derzeit fehlt.

Und er fördert die Suche nach intimen Formen, die zudem Impulse fürs Theater der Großen liefern könnten. Wie Kampe kommt auch Gisbert Näther mit fünf Instrumentalisten aus. Sein Einstünder Konrad oder Das Kind aus der Konservenbüchse nach dem antiautoritären Klassiker von Christine Nöstlinger wurde gerade in Gelsenkirchen uraufgeführt. Als Konrad, ein artig abgerichteter Siebenjähriger, agiert ein Schauspieler gleichsam als Fremdling zwischen drei Sängern, die ihm das Frechsein beibringen. Die Bühne ist, wie derzeit fast überall, antiillusionistisch. Hier ein Kühlschrank, da eine frei stehende Tür, und mittendrin sitzen die Musiker, die auch mal selbst eingreifen.

Näther hat das unprätentiös komponiert. Leicht, nicht seicht, deutlich, aber mit nicht zu dicken Ausrufezeichen. Zur Uraufführung kommen die gebildeten Stände nebst Nachwuchs. Dass aber auch Kinder aus Gelsenkirchens türkischen Arbeiterfamilien etwas mit Konrad anfangen können, merkte Regisseurin Ulla Theissen bei der Hauptprobe mit Schulklassen. Die kleine Liebesgeschichte im Stück hätten sie “aufmerksam und mit funkelnden Augen” verfolgt. Längst sind die 30 Vorstellungen im kleinen Saal ausverkauft. Und wer rund um den solitären Bau des Musiktheaters im Revier die Tristesse Gelsenkirchens auf sich wirken lässt, spürt einen Wärmebedarf, den kein Kino stillen kann.

Die ganz große Wärme aber, den Zauber des Orchesterabgrunds und die Geborgenheit regressiv gediegener Harmonien, den Opernwahnsinn von Leuten, die mit großer Stimme Kinder spielen, das gibt es so traulich und treu nach wie vor wohl nur bei Humperdinck, dessen Hänsel und Gretel keineswegs von den Bühnen verschwunden sind. Von Kiel bis Karlsruhe bekämpfen sie die Hexe, die es mittlerweile in allen Extremen gibt: als Showfrau im Glitzerkleid ebenso wie für Knusperhausnostalgiker in einer Regie von 1964. Die Kinder freilich, die das lieben, sind nicht mehr die Jüngsten.

Der Text erschien am 5.12.13 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt