Madame Bru lässt bitten

Warum ausgerechnet ein Palästchen in Venedig die Welt mit vergessener Musik aus der französischen Romantik beglückt

Navis blicken hier nicht durch. Wer die Adresse eingibt, San Polo 2368, landet zwar im richtigen Viertel in Venedig, im Sestiere Polo, aber an der falschen Stelle. Ein Märchen erreicht man anders. Man suche etwa nach der Calle d’Olio, lasse dort die raffiniert getarnte Gran Scuola di San Giovanni Evangelista links liegen und nehme das nächste (namenlose) Gässchen rechts. Oder begebe sich in den Tunnel, der auf der Nordseite des Campo St. Stin unter den Häusern entlangführt, bis vor ein Tor in einer Gartenmauer. Dahinter Putten, Hecken, Mäuerchen und ein Palästchen, ein Palazzetto, von außen so schlicht, dass man darin wohl kaum einen freskengeschmückten, 300-jährigen Musiksaal vermuten würde.

Noch weniger aber rechnet man hier mit dem Herzen einer jungen Organisation, die bereits im fünften Jahr ein Wunderland der Raritäten vor den Musikfreunden aus aller Welt ausbreitet. Wer kennt schon Theodore Gouvy? Oder Félicien David? Wer weiß von Jules Massenets aufregender Sektenoper Le Mage? Oder von der Orchestersuite, die der 22-jährige Claude Debussy nicht vollendete? War alles Schrott, was Hunderte begabter Franzosen schrieben, um mit dem begehrten Prix de Rome unter den Platanen der Villa Medici weiterkomponieren zu dürfen? Solche Fragen beantworten mittlerweile über hundert CDs, CD-Bücher und DVDs, hinter denen als Initiatoren und Unterstützer die Leute aus dem Palazzetto stecken.

Ebenso stecken sie hinter Konzerten in ganz Europa, hinter Symposien und Erstausgaben, die allesamt die musique romantique française beleuchten, und zwar die vergessene. Mittlerweile sind so viele Kostbarkeiten und Überraschungen aufgetaucht, liebevoll ediert, von besten Musikern gespielt, dass sie gleichsam wie ein zweites Venedig um den Canal Grande des Mainstreams wachsen, labyrinthisch, schön, voller Patina auch, von Vergänglichkeit und Ungerechtigkeit kündend, von vergangenen Festen und ungeküssten Schönen. Geld, scheint es, spielt keine Rolle. Wie kommt das, was ist da los? Warum französische Romantik an der Lagune, und wem gehört eigentlich dieser kleine Palast mit Bootsanleger?

1695 hat ihn Marino Zane bauen lassen, Spross einer der ältesten venezianischen Familien, als Ergänzung zum großen Palazzo Zane, als intimes Refugium für Bücher und Musik. Vielleicht hatte Nicole Bru ihn ja bereits ins Auge gefasst, als sie mit ihrem Mann Venedig besuchte, immer wieder. Jean Bru gehörte unter anderem das Pharmaunternehmen UPSA, dessen bestverkauftes Produkt seine Frau als promovierte Medizinerin mitentwickelt hatte: Efferalgan, eine Brausetablette gegen Schmerzen. Als Jean Bru 1989 starb, wurde der Wert von UPSA auf 250 Millionen Dollar geschätzt. Heute gilt seine 75-jährige Witwe als eine der zehn reichsten Frauen Frankreichs, lebt allerdings in der Schweiz.

Sie hätte dem geliebten Hubschrauberfliegen weitere teure Hobbys hinzufügen können. Sie hätte teure Kunst ersteigern und in einer Villa verstecken können. Stattdessen gründete sie eine Stiftung, die Medizin, Erziehung und Umweltschutz fördert und nicht zuletzt Kultur. Weil Madame Bru die Musik so liebt wie Venedig und weil sie Französin ist, kaufte sie 2006 den Palazzetto für acht Millionen Euro, ließ den heruntergekommenen Bau von den Stützpfählen bis zu den Fresken für vier weitere Millionen renovieren und eröffnete 2009 unter dem Namen Palazzetto Bru Zane ein Centre de musique romantique française, dem für Forschung und Praxis jährlich drei Millionen Euro zur Verfügung stehen.

“Es ist ein Traum”, sagt Alexandre Dratwicki, der wissenschaftliche Leiter. “Ehe es losging, bin ich in Paris jeden Morgen aufgewacht und dachte, da gibt es dieses Zentrum in Venedig, du wirst da arbeiten und bekommst Geld dafür, Gouvy und Duboit zu entdecken – das ist unmöglich!” Dratwicki ist Mitte dreißig, ein heiterer Typ, mit jenem dezenten Schick gekleidet, der unter Musikwissenschaftlern ebenso wenig verbreitet ist wie die Fähigkeit, Partituren zu lesen – und zwar so, dass man selbst Vielstimmiges bei der Lektüre klingen hört. Diese Art Lektüre betrieben Alexandre und sein Zwillingsbruder Benoît leidenschaftlich schon als Halbwüchsige in Metz, was sie früh zu Raritätensuchern prädestinierte.

Während Benoît zum Direktor des (staatlich subventionierten) Centre de Musique Baroque de Versailles wurde, durchforstet Alexandre, zwischen Paris und Venedig pendelnd, die Archive nach der verlorenen Romantik. Dass gerade in Frankreich so viel unterging, meint er, liege an der Zentralisierung auf Paris und der Konzentration auf die Oper. “Wer als französischer Komponist im 19. Jahrhundert Geld verdienen wollte, musste Opern schreiben. Und wer eine Oper in Bordeaux oder Lyon unterbrachte, also in der Provinz, kam für Paris nicht mehr infrage. Ein Riesenproblem.” Auch deswegen verschwand einer wie der Lothringer Theodore Gouvy, der vor allem Kammermusik komponierte, schnell wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung.

Unterm Opernkessel wiederum herrschte ein enormer Druck. Plötzliche Trendwechsel konnten sicher geglaubte Erfolge stoppen. Le Mage zum Beispiel, Jules Massenets Zarathustra-Oper, gleich nach seinem Meisterwerk Werther geschrieben und bombastisch ausgestattet, war 1891 ein Renner, 30 Mal aufgeführt. Doch dann übernahm ein Wagner-Fan die Direktion des Palais Garnier, und das war’s, auch für die Nachwelt. Mit keiner einzigen Aufnahme ließ sich bislang überprüfen, ob das Werk zu Recht verschwunden war. Nun liegt wieder eines dieser fabelhaften CD-Bücher der Edition Bru Zane vor. Zwar ist die tenorale Titelrolle problematisch besetzt, aber schon die ersten Takte erlauben starke Zweifel an den Urteilen früherer Lexikalisten. Düster, groß, konzentriert – unser dürftiges Bild von Massenet muss um einige wesentliche Farben ergänzt werden.

Überhaupt fokussiert sich das musikalische Europa im 19. Jahrhundert allzu schnell und widerstandslos auf Wagner. Während dessen Sterbepalast in Venedig in ausgleichender Ironie heute ein Spielkasino beherbergt, weichen die Leute vom Palazzetto dem sogkräftigen Deutschen keineswegs aus, sondern sorgten für eine der spannendsten Gegenüberstellungen im nur begrenzt innovativen Wagnerjahr überhaupt: Mark Minkowsky dirigierte in Versailles Le vaisseau fantôme nach jenem Prosaentwurf, den der Direktor der Pariser Oper anno 1841 dem jungen und notorisch von Geldnöten getriebenen Wagner für 500 Franc abkaufte, um den Stoff von Pierre-Louis Dietsch vertonen zu lassen.

Kurz nacheinander wurden damals der deutsche und der französische Holländer uraufgeführt, in Paris und in Dresden, und nun lassen sich auf vier CDs beide vergleichen – der von Wagner in der einaktigen Fassung, die in der Nähe von Paris entstand. Man hört dabei, wie ausgeprägt die Konventionen der Grand opéra waren, die dem 1808 geborenen Dietsch die Feder führten, und wie einsam Wagner mit seiner Ästhetik damals in der musikdramatischen Landschaft stand. Das ganz ausgeleuchtet zu sehen ist der eigentliche Gewinn dieses außerordentlich fairen Prozesses.

Eine ähnliche Trouvaille, vor wenigen Tagen konzertant in Brüssel aufgeführt, stellt die 1859 uraufgeführte Naturkatastrophenoper Herculanum von Félicien David dar. Dratwicki kann solche Funde allerdings nicht einfach durchpauken. Ein sechsköpfiger Conseil d’orientation prüft vor allem die teuren Opernausgrabungen scharf, “und wenn dann einer sagt, das Stück ist doch total schlecht, muss man seiner Sache schon sehr sicher sein”. Es spricht für sein Gespür, dass in dieser Saison in 130 Städten und 315 Konzerten Werke zu hören sind, die vom Palazzetto entdeckt wurden oder gefördert werden. 27 Konzerte finden in Venedig statt, wo man sonst überwiegend Vivaldis Jahreszeiten fiedelt und das Musikleben, wie in den meisten Städten Italiens, nur ein Schatten dessen ist, was dieses Land und diese Stadt für Europas Musik einmal bedeutet haben.

Selbst ein neues Monteverdi-Vivaldi-Festival mit Donna Leon als (inzwischen wieder abgefallener) Galionsfigur scheint sich da schwer zu tun – bis jetzt ist auf seiner Website kein aktuelles Programm zu finden. Florence Alibert, die junge Direktorin des Palazzetto, nimmt die Lagunenstadt in Schutz: “Vergessen Sie nicht, es sind im Zentrum nur 60.000 Einwohner! Und Venedig bleibt ein magischer Platz für Künstler. Hier hat man slow time, sie sind mehrere Tage hier, und bei Aufnahmen stören einen höchstens die Glocken und die Gondolieri.” Im traumschönen Musiksaal, in den 80 Zuhörer passen, hat zum Beispiel das Quatuor Parisii das C-Dur-Quartett des späten Théodore Gouvy aufgenommen. Als Lothringer betrieb er eine so autarke wie in den 1880ern trendferne Fortschreibung von Mendelssohn und Schumann. Anregend, witzig, tief, ein eigensinniger Eklektizist.

Der Palazzetto dient als Laboratorium, in dem solche Fundstücke vor Publikum getestet werden. Für Touristen, etwa die Hälfte der Besucher, ist das einer der Geheimtipps, die man Freunden weitererzählt. Für Venezianer ist es, der Intimität wegen, “wie zu Hause” und außerdem bezahlbar. Bei größeren Besetzungen nutzt man Säle in der Nachbarschaft – und was für welche! Die lichte Barockhalle der Gran Scuola di San Giovanni Evangelista, einer der mächtigen alten Bürgervereinigungen, steht den Franzosen ebenso offen wie der gewaltige Renaissancesaal der Gran Scuola di San Rocco, in dem man umgeben ist von Jacopo Tintorettos bahnbrechenden sakralen Bilderzählungen.

Das alles funktioniert aber eben nicht nur, weil man hier keinem Geld hinterherjagen muss. Es funktioniert, weil alles passt. Weil zehn Mitarbeiter sich um Partituren, Stimmenabschriften, Partner und Künstler, Organisation und Presse kümmern und darum, dass fünf Pumpen den Palazzetto trocken halten. Und weil das junge Team es sich nicht gemütlich macht. “Madame Bru ist ein bisschen beunruhigt, dass wir so viel auf die Beine stellen”, sagt Alexandre Dratwicki, “aber sie lässt uns machen.” Sterne funkeln über der Serenissima, als sich abends 80 Leute zu einem Konzert mit virtuoser Harfenmusik einfinden, von Emmanuel Ceysson gespielt. Da sitzt man dann und fällt selbst aus der Zeit. Es ist wohl doch ein Märchen.

Der Text erschien am 13. März 2014 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt