Im Würgegriff

Herbert Wernicke inszeniert in Basel sechs Kantaten von Bach als Totentanz in der Puppenstube

Wenn Kinder im Museum vor historischen Puppenstuben stehen oder vor Dioramen, dann stehen sie lange. Alles sieht so echt aus. Warum bewegen sich die Menschlein nicht? Vielleicht müsste man hinsehen, wenn es die Puppen nicht erwarten, um sie beim Leben zu ertappen. Manchen gelingt das, wenn sie groß sind. E.T.A. Hoffmann zum Beispiel – und Herbert Wernicke.

Er hat im weihnachtlichen Basel einen romantischen Traum erfüllt. Nur der Orchestergraben trennt uns von einem riesigen Puppenhaus mit an die zwanzig Zimmern und bis zu fünfzig lebensgroßen lebendigen Menschen, die sogar singen können, und zwar Bach. Doch das Actus tragicus-Projekt beginnt stumm, als grandioser Voyeurismus. Man kann sich gar nicht satt sehen.

Oben links bügelt eine, rechts gucken zwei TV, ganz unten macht ein Jogger Stretchübungen, dazwischen schmückt sich eine Schöne, im Treppenhaus kauert ein Obdachloser, ein Kranker siecht, ein Suizidaler richtet sich den Strick, eine Familie löffelt Suppe, an einem Weihnachtsbaum wird ein Neugeborenes gehätschelt. Im Keller regt sich nichts. Da liegt die Leiche Jesu.

Basel ist nicht nur weihnachtlich, sondern auch erzlutherisch. Hier erschien 1621 der grafische Totentanz von Merian, in dem der Tod den Edelmann wie den Bauern zum letzten Tanz nötigt. In dieser Tradition befasst sich Herbert Wernicke nun mit sechs Bachkantaten. Mit anderen als vor gut dreizehn Jahren: Da bestückte er in Kassel die “feste Burg” mit Orgelpfeifen als Geschützen.

Gott drohte.

Diesmal dräut der Tod. Die Menschen in den drei Etagen singen davon und von der Vergeblichkeit. “Wer weiß, wie nahe mir mein Ende?”, wird gefragt, irdische Hoffnungen werden beerdigt: “Die Wissenschaft und was ein Mensche dichtet, wird endlich durch das Grab vernichtet.” Auf dem Papier ist das barocke Predigt, doch die Töne leben. Sie durchdringen das Puppenstubendasein und stellen es infrage. Je länger man diese Kantaten hört (BWV 178, 27, 25, 26, 179, 106) und in die Kammern späht – die Diva wechselt schon wieder das Kleid! -, desto deutlicher wird ein Sterben im Leben. Diese Leute sind weniger in ihrer Sterblichkeit gefangen als in ihren Identitäten. Sie wiederholen stets sich selbst, jeder kreist um eine Macke, keiner ist frei.

Da ist der eifrige Pedant mit der Uhr, der durch die Etagen eilt und mit der Heiterkeit des Richtigmachers singt “Mein Leben hat kein ander Ziel, als dass ich möge selig sterben”. Da ist der biedere Hausvater, der vor “irdischen Schätzen” warnt. Oder der Makler, der mit dem Zollstock alle Zimmer vermisst und die Bewohner wohl gleich mit: “Das heutige Christentum ist leider schlecht bestellt.”

Dabei ist er selbst ein “laulichter Laodizäer”: Zwar wissen alle, dass sie sterben müssen, doch ihre Gottesfurcht ist ebenso Routine wie ihr Leben. Den Tod besingen sie, wie um ihn fern zu halten, und dabei streift er doch durchs Haus. In weiblich clownesker Gestalt, eine stumme, elegante, junge Tödin. Sie äugt der Familie in die Suppenteller, als dächte sie: “Rind? Egal, es erwischt euch sowieso.” Einmal trommelt sie von fern, da erschrecken alle kurz und lauschen, aber der Alltag ist stärker. Einmal, so in der Mitte der zwei pausenlosen Stunden, wirkt er so nackt, so bloßgestellt, dass man das ungeheure Wagnis von Theater fühlt: Leuten etwas vorzuführen.

Und manchmal fühlt man sich beengt. So dicht greift alles ineinander – die Modultechnik der Kantaten mit der Splitscreen-Optik, die Typen von heute mit den Totentänzen von einst, die Leiche im Keller als Mitte eines imaginären Altars -, so anspielungsgesättigt, dass Wernickes Regiehand sich fast zum Würgegriff formt. Nirgends kann man hindenken, wo er nicht schon gedacht hätte. Zumal die Freiheiten der Musik, ihre theatralische und subjektive Beweglichkeit, im Orchestergraben weniger zu spüren sind als bei den Gesangssolisten. Steifer als das (klein besetzte) Sinfonieorchester Basel kann man etwa die “taumelnde Vernunft” nicht begleiten. Der Generalbass ist unpräzis, die Geigen klingen matt, wie oft, wenn “moderne” Streicher barockes Spiel mit Schüchternheit verwechseln. Und trotz Michael Hofstetters imperativer Zeichengebung eiern die Chöre – kein Wunder, wenn kein Sänger den andern sieht. Das ist der Preis der Puppenstube. Vielleicht muss er nur in den ersten Vorstellungen gezahlt werden.

Derweil entkommt die Regie der drohenden Erstarrung gleichsam nach innen. Die Gestalten werden nicht mechanischer, sondern menschlicher. Der Selbstmörder, unentwegt vorm Strick scheuend, wächst einem richtig ans Herz, die Mutter schnürt ihre Tochter zur Braut wie in einem Stück von Pina Bausch, der Sportler hat nach unzähligen Übungen ein nasses Hemd, die Fensterputzerin putzt und durchspäht so sanft und sachte die nicht vorhandnen Scheiben, dass es schon leicht erotisch wird. Und sanft ist auch das Ende mit Bachs Actus tragicus.

Einer nach dem andern geht und singt weiter. Erst klingt das, als versteckten sie sich nur, dann aber tönen die Zimmer, als sängen Geister von Toten darin.

Noch einmal hört man das unfassbar moderne Ende der Fuge um den Kernsatz “Du musst sterben”: eine Sopranlinie, unter der das Pochen der Instrumente verstummt wie ein Herz, während die Stimme ins Nichts schwingt.

Dann sinkt der Vorhang, und vor ihm sitzen wir wie Kinder, die sich überlegen, ob wirklich alles so weitergehen muss wie bisher. Ob wir uns erst bewegen sollen, wenn keiner guckt, oder doch schon vorher.

Der Artikel erschien am 4.1.01 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt.