Ein großer, ruhiger Atem

Klaus Huber hat in seiner neuen Oper “Schwarzerde” Ossip Mandelstam vertont

Die Angst spannt die Pferde aus, wenn man zu fahren hätte, und schickt uns Träume mit grundlos niedrigen Zimmerdecken.” Als Ossip Mandelstam das schrieb, waren ihm diese Träume schon wahr geworden. In den Verhörzellen des Moskauer Polizeigefängnisses, in Orten der Verbannung, in der Beklemmung seiner Anfälle von Atemnot. Das Asthma des Dichters hatte einen Namen: Stalin.

Den freien Geistern misstraute der Diktator ohnehin, und Mandelstam hatte ihn obendrein, wenn auch nicht öffentlich, mit einem Epigramm beleidigt, in dem Stalins Finger mit “fetten Würmern” verglichen wurden. Von da an machte die Staatsmacht dem Dichter das Leben zur Hölle, 1938 wurde er zur Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt, auf dem Weg dorthin starb der 47-Jährige.

Die Gedichte, die von ihm blieben, sprechen zwar viel von der Angst. Doch sie ersticken nicht an ihr, im Gegenteil, sie atmen eigene Luft, sie träumen von “Himmels Widerhall weit in der Brust”. Der Komponist Klaus Huber bewundert an Ossip Mandelstam, dass er sich dichtend “hinaus in die Welt verströmt”, anstatt sich zurückzuziehen: eine Form des Widerstands.

Huber hat schon in einem Streichtrio von 1989 diesen Dichter und sein eigenes Komponieren verbunden, das für ihn ein “Akt der Befreiung” ist. Viel ist auch die Rede vom “Prinzip Hoffnung”, von “Seismographie” und nicht zuletzt “Kommunikation”. Wer seine Äußerungen zur Musik liest, glaubt mitunter allerdings im Wörterbuch des kunsterzeugenden Gutmenschen zu blättern.

Wenn so einer, könnte man fürchten, eine ganze Oper um Ossip Mandelstam schreibt, wird wohl der Poet zum Gegenstand eines trockenen Widerstandsseminars werden. Wer Hubers unprätentiöse Musik kennt, fürchtete das nicht. Doch auch gelernte Huberianer dürfte es überrascht haben, was der 76-Jährige jetzt für das Theater Basel geschrieben hat, zum Libretto des Intendanten Michael Schindhelm. Der kennt Mandelstams Verbannungsort Woronesch selbst – er hat dort Quantenchemie studiert. Das wäre ein fragwürdiger Kompetenznachweis, wenn Schindhelm nach der Devise “Ich weiß, wie das war” jenen “Heldentod” zurechtgetextet hätte, den Pasolini seinem Kollegen Mandelstam zusprach. Stattdessen aber gibt es nur Fragmente aus Gedichten und Briefen.

Sie sind in neun Sequenzen um Schlüsselszenen gruppiert. Gleich die erste gilt der Atemnot, dem stockenden Sprechen, und der Dichter (er heißt hier nicht Mandelstam, sondern Parnok, wie eine Gestalt der Gedichte) leidet versechsfacht durch ein Solistenensemble, das Parnoks Wahrnehmungen gleichsam in der Partitur verteilt, bis auch das Orchester unmittelbar auf ihn reagiert.

Ein luftarmer Falsett-Ton des Tenors Björn Waag geht über in eine sirrende Klangmischung der Instrumentalisten, und aus ihr entwickelt sich das Phänomen, das diesen Abend zwei Stunden lang tragen kann, von Dirigent Arturo Tamayo sensibel gelenkt. Zuerst sind es nur Klangflächen, aber je mehr man ihn sie hineinhört, desto weniger statisch werden sie. Es sind Seen von Klängen.

Kostbar, fein, funkelnd, unauslotbar in ihren Farben, keineswegs al fresco zusammengerührt, sondern hoch bewusst angerichtet, aufgebrochen durch kleine Perkussionsschläge, behutsame Bläserakzente, ähneln sie in ihrer Transparenz den Lasuren William Turners, die einen durch die Zeit blicken lassen. So etwas wie ein orange-gelber Ton, durch den andere Farben, auch Metalle schimmern. Und diese Materialien atmen. Es ist ein großer, ruhiger Atem, erst mit der Zeit bemerkbar, in der sich die Flächen mählich überlagern und einander ablösen, während über ihnen knappe Worte gesprochen und gesungen werden, ein weit daherkommendes Driften, das einen – anders als der Wagnersche Wellengang, mit dem sich Huber auch schon auseinander setzte – nie zu überwältigen droht. Das wirkt umso stärker, als die Angst und Enge Mandelstams sich darin nicht in Wohlgefallen auflösen. Parnok und die ihm verbundenen Frauen Nadja, Anna, Natalja bleiben stets in Spannung, können sich nie verströmen und müssen den Einbruch dessen befürchten, was Huber “Konkretismen” nennt, nämlich Zuspielungen wummernder Bombergeschwader, Explosionen, Sirenen.

Die wirken allerdings auf die Dauer unnötig deutlich und didaktisch, worin sie sich mit der Regie treffen. Claus Guth hat es, pardon, zu gut gemeint. Geht es um “tödliche Luft”, greift Parnok sich würgend an die Kehle. Singt der Chor “Ja, wir liegen in der Erde”, liegt der Dichter neben einem Häufchen Humus, ist vom “Hinkeschritt” die Rede, fehlt einer Sängerin eine Stiefelette.

Tanz den Stalin

Dass das alles in einer Art Zoo spielt, einem gekachelten Affenhaus mit kahlem Kletterbaum, passt zwar durchaus zu Stalins Anweisung “Isolieren, aber erhalten”, wenn aber das Regime durch einen Free Climber mit Wolfsmaske dargestellt wird (“denn das Wolfshund-Jahrhundert, es springt auf mich los”), verläppert die Bedrohung zur Folklore, weit an Hubers Differenzierungen vorbei. Guth überzeugt eher da, wo er nicht vermeintlichen Botschaften nachläuft, sondern beinah gegen die Musik inszeniert und zu einem ganz sanften Trio von Altus, arabischer Rahmentrommel und Viola d’Amore den Stalin klassisch tanzen lässt: auf den Schultern des Tänzers der riesige, grinsende Pappmachékopf des Diktators, unten ein weißes Tutu. Ein selbstverliebtes, entlarvend groteskes Solo.

Der Altus oder Countertenor, der dazu singt, ist die eigentümlichste und anrührendste Erfindung dieser Oper, er liefert den befreiten, organischen Gesang, der den realen Gestalten nicht mehr möglich ist, und setzt das Atmen der Orchesterflächen ins Humane fort: Kai Wessel schreitet als armenischer Hirtenjunge einher, als Bote aus Mandelstams ganz persönlichem Gelobtem Land.

Huber hat diesen Part mit zarten, selten zu hörenden Instrumenten umgeben und in einer mittelmeerischen Dritteltönigkeit gesetzt. Auch die Verzierungen, sanft die Töne verbindend und die armenischen Wort weiterträumend, haben etwas Nahöstliches, ohne je in Gefahr eurozentrischer Multikulti-Abgreiferei zu geraten. Genau und respektvoll ist Hubers Umgang mit Tönen.

Und an der Bezauberung, die dieser Hirtengesang verbreitet, merkt man, wie tief man andererseits schon in Parnoks Bedrückung hineingeraten ist. Die eckigen, verkanteten Intervalle und Rhythmen, das abgebrochene Sprechen über dem Driften des Orchesters wirken stärker als das Gitter, das Guth symbolschwer zum “Finale” herabfahren lässt. Da guckt man besser weg.

Und hört umso genauer hin, wie hier ein Komponist für einen Dichter, dem man die “Atemluft gestohlen” hat, das Atmen neu erfunden hat und vielleicht auch für die eigene avantgardistische Zunft, die so oft an Asthma litt. Denn Mandelstams Problem war auch eines der Neuen Musik: Beide drohten unterm Druck der Gegenwart das Atmen zu verlernen. In Basel wird ihnen geholfen.

Der Text erschien am 15. November 2001 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt.