Wir haben gerade Fahrt aufgenommen, da hört man schon seinen Bariton. „Guten Morgen, meine Damen und Herren! Wir führen heute eine Fahrgastbefragung durch. Hat jemand einen Fahrschein dabei?“ Vermutlich müssen sogar die Schwarzfahrer grinsen, aber es gibt natürlich keine. Es gibt immer nur junge Männer, die ganz sicher waren, ihr Ticket sei über mehrere Tage hinweg auch in der Gegenrichtung gültig, und denen er das erhöhte Beförderungsentgelt dann so gütig und gründlich erklärt, dass alle lieb sind.
Er ist schon eine Marke, unser Zugbegleiter in der Tiefebene. Ein stattlicher Mann Mitte fünfzig, mit leicht künstlerisch gewellten grauen Haaren, die er auf Kragenlänge trägt, mit der Charaktermiene eines altrömischen Deklamators, hinter der sich die Durchsetzungsfähigkeit eines Terminators charmant verbirgt. Über letztere verfügt auch seine zierliche blonde Kollegin, die aussieht wie kurz nach dem Abi, aber nur solange, bis mal eine angezechte Halbstarkenrunde nicht nur lärmt, sondern verstohlen zu rauchen beginnt.
Sie ist leise, gelassen und glasklar, wenn sie als Alternative zum Sofortausstieg das Erscheinen der Polizei am nächsten Bahnhof vorschlägt. Da ziehen es die Ertappten dann doch vor, in Hodenhagen den Zug zu verlassen, von wo man sich bis nach Walsrode ja durchaus noch zu Fuß durchschlagen kann. Ja, diese Strecke ist es, auf der ich unterwegs bin durch Arno Schmidt´s Own Country, von Walsrode nach Hannover und zurück. Ich kenne sie schon seit dem vorigen Jahrhundert, als keineswegs alles besser war als heute. Damals rumpelten ungut riechende, rostende Altwagen der DB von einer Milchkanne zur andern.
„Erixx, der Heidesprinter“, wie sich der saubere, blaue Zug nach jeder Abfahrt selbst vorstellt, mit der melodischen Stimme eines rosigen Jungdiakons, lässt hingegen Hademstorf und Eickeloh aus (zum Trost für alle von da: ich muss ab Walsrode auch noch 9 km fahren!) und verspätet sich nur, wenn ihm die DB in den Weg gerät, um Hannover oder um Buchholz herum. Das verschärft sich dann, weil sich die Erixxe von Norden und von Süden nur in Hodenhagen (es heißt nun mal so; in Franken gibt es Dörfer wie “Würgau” und “Göring”, also bitte!) kreuzen können. Aber wenn man mal 20 Minuten zu spät in Hannover ankommt, hat der Anschluss-ICE sowieso 30 Minuten Verspätung…
Der Deklamator versorgt seine verblüfften Gäste dabei auch gern mal mit Erfrischungstüchern und Bonbons. Nur die bräsigen Büromänner, die ab Mellendorf in die Landeshauptstadt fahren, lehnen das ab. Es passt einfach nicht in ihre Überzeugung, dass die Welt erst schön wird, wenn man in Rente geht. Und die Pointe? Ersatzlos gestrichen zugunsten zweier Forderungen: Keine Altersteilzeit für den Deklamator, und Halbstundentakt ab sofort!
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