> Als meine Opas zehn und acht Jahre alt waren, begann der Erste Weltkrieg. Zu dessen hundertstem Jahrestag sind jede Menge Lesetipps erschienen, aber nirgendwo fand ich einen Hinweis auf zwei Romane, die eben keine “Weltkriegsromane” sind, sondern Weltliteratur, die aus den Jahren 1916 und 1917 erzählt. Ruhige, klare, weite Bücher, beide erschienen im Jahre 1935. In Frankreich “Le sang noir”, “Schwarzes Blut” von Louis Guilloux, in Deutschland “Erziehung vor Verdun” von Arnold Zweig. Den Titel des letzteren, immerhin, wählte Frank Schirrmacher 2013 als Überschrift für seine Geschichte über einen Besuch der Schlachtfelder, in der Zweig allerdings weder erwähnt noch zitiert wird. Er und Guilloux sind wie zwei Brüder im Geiste, zufälligerweise beide “Arbeiterkinder”. Der Deutsche kam 1887 im schlesischen Glogau (heute Glogów) als Sohn eines Sattlers zur Welt, der Franzose 1899 als Sohn eines Schusters im bretonischen Saint-Brieuc. Ihre Bücher ergänzen einander. Zweig schildert den Krieg an der Front, Guilloux einen Tag in einer Provinzstadt.
Louis Guilloux, “Schwarzes Blut”, Heyne Verlag 1981, S. 150
Für dienstuntauglich wurde niemand erklärt. Kleine Schwächlinge trugen an den Hüten das Zeichen des nahen Todes. Wie wenig kriegerisch sahen sie doch aus, wie wenig geschaffen für so frühes Sterben! Und wie wenig schienen sie den Tod zu ahnen! Fast alle Gesichter dieser Jungen, auch die männlichsten, drückten Vertrauen aus, kindliche Leichtgläubigkeit, eine rührende Naivität angesichts der Lüge. Es kam ihnen nicht in den Sinn, dass sie verraten werden könnten. Sie waren durchaus bereit, ihre Hand in die Hand eines zu legen, der sie fortführen woillte, vorausgesetzt, er erzählte ihnen eine schöne und edle Gerschichte. Sie stellten keine Bedingungen, schienen nicht einmal daran zu denken, verlangten nicht zu wissen, womit am anderen Ende der Kette der Verlust ihres jungen Lebens aufgewogen werden würde (…)
Arnold Zweig, “Erziehung vor Verdun”, Reclam Verlag Leipzig 1971, S. 242
Neben ihm lag ein ausgestreckter Körper, die Brust durchstochen, anscheinend auch durchschossen; er fühlte immer wieder nach dem Puls des Mannes, der mit der rechten Faust seine Pistole umklammerte, und zwar am Lauf wie eine Keule. Das weiche blonde Haar fühlte sich noch ganz lebendig an, aber die Blicke des Leutnants Schanz sahen nichts mehr. Bertin forschte in diesen Zügen mit seinem kurzsichtigen Gesicht. „Nimm die Lampe weg“, sagte er, „ich sehe ihn auch so.“ – „Nicht jeder Mann“, sagte Leutnant von Roggstroh, „bekommt so seine Zukunft hingemalt.“ – Bertin schwieg, er schloß dem Toten die Augen mit vorsichtigen Fingerspitzen, als tue er ihm weh. In seiner Brust war eine Weite, wortlos, ohne Schmerz. „Finden Sie, daß das Sinn hat? (…) Glauben Sie nicht, daß es anders auch ginge? Er lebte so gern.“
Ist es unnötig zu sagen, dass die Welt solche Bücher unvermindert, ja sogar gesteigert nötig hat? Dass selbst mit Wagners “Tristan und Isolde” Aktuelles zu sagen ist, wenn auch nicht zum Krieg, sondern anderen Deformationen, zeigen an der Stuttgarter Oper Jossi Wieler und Sergio Morabito. Wie, das habe ich in der ZEIT besprochen (zu lesen auch hier). Dort erschien vorgestern auch meine Geschichte aus Bregenz, wo ein großer Stoff musiktheatralisch verschenkt wurde, nämlich Ödön von Horváths “Geschichten aus dem Wiener Wald”. Dafür gibt es auf der Seebühne die schikanederischste “Zauberflöte” seit 1791. Nach der Premiere sammelte ein Team des österreichischen Fernsehens Impressionen der angereisten Kritiker – weswegen sogar meine Anmerkungen zur Tonqualität (das Orchester spielt drinnen und wird nach draußen übertragen) auf der ORF-Website gelandet sind.
Und weil das Sommerwetter so schön ist wie, bekanntlich, schon im August 1914, folgen hier noch Ausflugstipps: Für Zeit online bin ich dem Boom der “Klassik”-Festivals nachgegangen – über 300 von denen gibt es in Deutschland!